Assaf Zeevi, 1982 in Israel geboren, ist Landschaftsarchitekt, Reiseleiter, Buchautor und Podcaster zum Nahostkonflikt. In diesem Gastbeitrag beschreibt er, wie er und mit ihm viele Israelis die Zeit vom Terroranschlag der Hamas am 7. Oktober 2023 bis zum 7. Oktober 2024 erlebt haben.
Dem 7. Oktober 2023, dem schrecklichsten Tag Israels seit der Staatsgründung, folgte sein schwierigstes Jahr. Für Eltern, Partner, Kinder und Geschwister von Geiseln und Ermordeten ist dieser verfluchte Tag nie zu Ende gegangen. Irgendwo blieb für die gesamte Nation die Zeit stehen. Auch für mich. Etwas ist in meiner Seele gestorben.
Purer Hass erschüttert die Hoffnung auf Frieden
Ich habe eine solche pure Bosheit mit Freude an Grausamkeit gesehen, dass mir klar wurde: Es gibt abgrundtief böse Menschen, die anderen Böses antun wollen und Gefallen daran finden.
Die Bosheit kam nicht nur von Terroristen. An Mord, Entführungen, Vergewaltigungen und Raub waren tausende Zivilisten aus Gaza beteiligt. Grenzgänger aus Gaza belieferten die Hamas mit Informationen und haben Israelis trotz jahrelanger, guter Bekanntschaft verraten.
Geiseln wurden auf Gazas Straßen von Massen geschlagen und bespuckt, selbst wenn sie alte Damen waren oder bereits tot. Wie kann man Mitleid für eine solche Gesellschaft empfinden, wenn sie anschließend Kriegsleid trägt? Zugegeben, ein Stück menschliche Empathie ist in mir gestorben.
Der Jubel in der globalen muslimischen Welt zeigte, wie tief der Hass sitzt. „Wir wollen leben, sie wollen uns tot sehen und schämen sich nicht dafür“, ist ein schmerzvoller, unausweichlicher Gedanke, der mir anhand dieser Bilder kommt. Er macht die Diskrepanz unserer Wertesysteme deutlicher denn je und führt zur Verhärtung der Herzen. Das gesamte israelische Friedenslager ist an seiner Substanz erschüttert worden.
Gibt es im Westen noch eine Grundmoral?
Am 7. Oktober dachte ich, Israel wird zur neuen Ukraine, Solidaritätsstreifen würden Profilfotos und Rathäuser dekorieren, diesmal blau-weiß. Ich wusste, dass das Kollektivgedächtnis kurz ist, aber ein paar Wochen der Gnade schienen natürlich. Ich war naiv. Schon am selben Tag donnerten manche mit dem „Ja-Aber“ und beschleunigten die Täter-Opfer-Umkehr.
Das chronische Festhalten an der Opferrolle habe ich in arabischen Kreisen nicht anders erwartet. Aber den Anschluss gewisser intellektueller Kreise im Wesen daran, die Köpfungen, Verbrennung lebendiger Kinder und Vergewaltigungen rechtfertigen, kostete mich den Glauben an eine Grundmoral.
Antisemitismus treibt Israel in die Isolation
Europäischer Antisemitismus gehörte in meiner Vorstellung der Vergangenheit an. Das letzte Jahr öffnete meine Augen. Wenn ein Baby aus politischen Gründen ermordet wird, ist es Terrorismus. Wenn es ein israelisches Baby ist, suchen manche die Schuld bei den Juden. Wenn eine Armee versagt und es die israelische Armee ist, kursieren sofort Unterstellungen, Israel hätte den Angriff bestellt, um Gaza zu erobern oder den Weltfrieden zu zerschlagen.
Dabei werden uralte antisemitische Prinzipien bedient, oft unbewusst. Das Ganze treibt Israelis seit einem Jahr in die Einsamkeit, in der wir uns nur auf uns selbst verlassen können.
Vertrauen in die Regierung zerbricht
Aber auch in der israelischen Gesellschaft ging einiges kaputt. Das politische Konzept der „Konzeption“ war ein Sargnagel in das Vertrauen in die Politik. Mit „Konzeption“ meinen Israelis die frühere Annahme der Führungsebene, die Hamas wolle Ruhe, um Gazas Wirtschaft weiterhin anzukurbeln. Diese Annahme hat sich als gründlich falsch erwiesen.
Etliche Geiselfamilien vertrauen der Regierung nicht, dass sie alles tut, um ihre Angehörigen zurückzuholen. Viele Israelis teilen diese Meinung. Dabei waren wir uns einmal sicher, der Staat würde für jeden Bürger in Gefahr alles tun. Manche glauben nicht mehr daran.
Zerplatztes und neues Vertrauen in die Armee
Am 7. Oktober 2023 wurde unser Vertrauen in die Sicherheitsorgane stark beschädigt. Klar, wir haben ständig damit gerechnet, dass etwas passieren könnte. Aber wir waren auch überzeugt davon, dass Sicherheitskräfte in kürzester Zeit jeden Attentäter stoppen würden. Unsere Feinde wollen uns vernichten, aber unsere Armee, Polizei und Geheimdienste garantieren unsere Sicherheit. Dann platzte diese Illusion.
Vorerst. Denn Schritt für Schritt erholte sich dieses Vertrauen. Gaza ist weitgehend keine Bedrohung mehr, es fielen weniger Soldaten als prognostiziert. Bei aller Kritik liegen auch die Opferzahlen unbeteiligter Zivilisten in Gaza tief im Verhältnis zu anderen Kriegen und bei solchen Bedingungen.
Auf die Gewichtsverlagerung hin zum Kampf gegen die Hisbollah haben wir lange gewartet. Die brillanten Schachzüge des Geheimdienstes, die wie aus einem Film wirken, die mutigen und präzisen Angriffe im fernen Iran und Jemen und die phänomenale Abwehr gegenüber feindlichem Raketenbeschuss ließen das Vertrauen in die Sicherheitskräfte wieder stark werden.
Leben zwischen Angst und Freude
Ein Jahr lang hatten wir Israelis ständig Angst vor Pushnachrichten auf dem Handy. Aber auch Freude. Die Bilder der Wiedervereinigung zurückkommender Geiseln mit ihren Familien erfüllten mit Dankbarkeit. Bei Rettungsaktionen anderer Geiseln kam Euphorie auf. Die gezielten Tötungen von terroristischen Drahtziehern wie Haniyya, Def und Nasrallah sorgten für das Gefühl von Gerechtigkeit und Sieg.
Andererseits lässt die hebräische Wortkombination für „Zur Veröffentlichung freigegeben“ auch jetzt noch das Blut in den Adern gefrieren. Mit diesen Worten gibt die israelische Armee die Namen und Bilder von Gefallenen frei. Wir scrollen gleich zu den Fotos, um zu sehen, ob wir einen Gefallenen kennen.
„Wie geht’s“ ist eine schwierige Frage
Nach der Erschießung von sechs Geiseln hatte ich, wie schon häufiger im vergangenen Jahr, drei Tage kaum Appetit. Immer wieder erlebe ich außerdem besondere Momente der Anspannung: Als Terroristen des palästinensischen Islamischen Dschihads den Wohnort meiner Schwester bestürmten oder vor einem iranischen Raketenangriff. Oder als meine Nichte und mein Neffe im Teenageralter wegen eines Raketenangriffs über eine Stunde lang alleine vor einer Betonwand einer Schnellstraße liegen mussten.
Ein Jahr lang koppeln wir unser persönliches Empfinden an das Kriegsgeschehen. „Wie geht’s?“ ist eine schwierige Frage unter Israelis geworden.
Israel muss stark sein, um akzeptiert zu werden
Auch vor dem 7. Oktober 2023 habe ich keinen Friedensvertrag erwartet, der den Nahen Osten zur Friedensoase machen würde. Aber ich habe mir einen Annäherungsprozess gewünscht. Das letzte Jahr ließ erahnen, dass der Weg dorthin länger dauert und nicht in einer oder zwei Generationen erreichbar ist.
Dieses Jahr bewies aber auch, dass man ständig Stärke zeigen muss, um im Nahen Osten respektiert zu werden.
Paradoxerweise wächst Israels Ansehen mit seiner Stärke und seinem Wagemut und mehr arabische Staaten sind bereit, seine Existenz zu dulden. Das ist eine wichtige Lektion des vergangenen Jahres.
Europa zwischen Besserwisserei und Verständnis
Mühsam fand ich immer wieder Aussagen überzeugter Personen, die im fernen Europa leben und sich in unserem Konflikt nur oberflächlich auskennen. Das zeigt sich zum Beispiel darin, dass die Geschichte des Konfliktes oft nicht ausreichend bekannt ist.
Außerdem schauen viele Europäer auf den Nahostkonflikt durch die Brille der Geschichte ihres eigenen Volkes. In Irland vergleicht man ihn mit dem irischen Konfessionskonflikt, in Deutschland wird die Grenzanlage zum Westjordanland oft mit der innerdeutschen Grenze verglichen.
Diese Vergleiche führen zu Trugschlüssen, weil der Nahostkonflikt ein anderer ist. Diese Fehlannahmen sind für manche europäischen Medien typisch und erreichen in einigen Ländern auch die politische Ebene.
Das ist aber nicht überall der Fall. Deutschland ließ die Polizei bei Volksverhetzungen entschieden handeln. Israelfahnen wehen in manchen Städten bis heute. Manche Fußballvereine zeigten Solidarität mit Geiseln. Der Bundesverfassungsschutz hat die antiisraelische BDS-Bewegung als extremistischen Verdachtsfall eingestuft. Das sind Vorreiterschritte im europäischen Vergleich.
Kommentare zu Artikeln über Israel zeigen in der gesamtdeutschen Medienlandschaft häufig Verständnis für Israels Handeln und benennen Terror beim Namen. Ich habe zudem den Eindruck, mit jedem islamistisch motivierten Anschlag in Deutschland vertieft sich das Verständnis für Israels Herausforderungen.
Das Gute wird gewinnen
Ich bin kein Theologe und habe kein Mandat für eine geistliche Einordnung. Aber ich habe keinen Zweifel daran, dass das Gute stärker ist und sich zu schützen wissen wird.
Dazu zähle ich Menschen, Gruppierungen, Gesellschaften und Staaten, die sich Menschenwürde, Freiheit, Demokratie und ein friedliches Leben auf die Fahne geschrieben haben.
Ihr Kommentar
Kommentare (1)
Danke für diesen sehr ehrlichen, authentischen und bewegenden Beitrag, Herr Zeevi. Ich habe keine Worte ... Ihr Buch "Lass das Land erzählen" habe ich schon vor 2023 gelesen mit großem Gewinn. lg