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© Tim Wildsmith / unsplash.com

02.01.2022 / Interview / Lesezeit: ~ 8 min

Autor/-in: Hanna Willhelm

Verständnisfragen zum Alten Testament II

FAQs zur Geschichte Israels sowie zu den Psalmen und Weisheitslehren.

Die Texte des Alten Testamentes bieten heutigen Lesern nicht selten Verständnisschwierigkeiten. ERF – der Sinnsender hat den Alttestamentler Dr. Thomas Bänziger gebeten, einige dieser schwer verständlichen Inhalte näher zu erklären – wohl wissend, dass manche Frage dabei nicht abschließend geklärt werden kann.

Lesen Sie heute Teil II zur Geschichte Israels sowie zu den Psalmen und der Weisheitslehre.

Hat sich das Gottesbild im Alten Testament nach und nach entwickelt?

ERF: Es gibt unter Theologen die Ansicht, dass sich das Gottesbild im Alten Testament von einer primitiven zu einer immer differenzierteren Vorstellung von Gott entwickelt habe. Demnach würden die älteren Texte für uns heute keine zuverlässigen Informationen über Gott enthalten. Wie begründet diese theologische Denkrichtung diese Annahme und wie ordnen Sie sie ein?

Thomas Bänziger: Es gibt unter Theologen die Auffassung, dass sich in Israel erst allmählich die monotheistische Vorstellung herausgebildet habe, es existiere nur ein Gott. Genauso habe sich erst nach und nach bis in die Regierungszeit Josias die Idee der Konzentrierung des Kultes auf Jerusalem entwickelt (sog. Kultzentralisation).

Oder es werden Entwicklungsmodelle der Religion Israels an verschiedene angenommene Textschichten herangetragen. Der Theologe Julius Wellhausen ging beispielsweise von der Entwicklung einer Nomadenreligion über eine Bauernreligion zur Prophetenreligion und schließlich zu einer Priesterreligion aus.

Ernst Troeltsch, ein Systematiker der historisch-kritischen Theologie, beschreibt die historische Kategorie mit den Begriffen Kritik, Analogie und Korrelation. Damit ein Bericht aus der Bibel als historisch gelten kann, muss er also wissenschaftlichen Kriterien wie etwa der Wiederholbarkeit eines Vorganges standhalten.

Diese Denkweise versteht Geschichte rein innerweltlich. Ein Gott, der von außerhalb eingreift, hat in diesem System keinen Platz, auch in den biblischen Texten nicht. Dieser Ansatz ist ein Kind der Aufklärung, die menschliche Vernunft ist die höchste Autorität.

Dem widerspricht ein biblisches Offenbarungsdenken. Wenn Gott sich in der Bibel selbst offenbart, sprengt das den Rahmen eines geschlossenen Weltbildes, in dem alles eine natürlich erklärbare Ursache und Wirkung hat.

Die biblischen Texte spiegeln nicht einfach verschiedene Erfahrungen von Menschen in verschiedenen Zeiten wider, die sich verändern und weiterentwickeln. Stattdessen findet der Leser in den Texten eine Selbstoffenbarung von Gott vor. Es sind zwar von Menschen aufgeschriebene, aber gleichzeitig „gottgehauchte“ Texte (2. Timotheus 3,16).  

Gibt es archäologische Hinweise für die Geschichte Israels?

ERF: Die Geschichte Israels macht einen Großteil der Berichte des Alten Testamentes aus. Deshalb noch eine grundlegende Frage an die Glaubwürdigkeit dieser Historie. Was lässt sich unabhängig von den biblischen Berichten aus archäologischer Sicht über die Geschichte Israels sicher aussagen?

Thomas Bänziger: Sehr viel, die Frage lässt sich auf so kleinem Raum gar nicht beantworten. Sowohl Orte, Geschehnisse als auch Personen aus dem Alten Testament lassen sich archäologisch belegen. Ich schildere je Kategorie eine Begebenheit.

Bei Archäologie denkt man vielleicht zuerst an Orte – vor allem, wer schon Ausgrabungsstätten in Israel besuchte. In 1. Könige 9,15 wird beschrieben, wie Salomo die drei Städte Hazor, Megiddo und Gezer ausgebaut hat. Die Mauern dieser Städte wurden erst im 20. Jahrhundert freigelegt. In Megiddo wurde in den 20er und 30er-Jahren eine imposante Toranlage mit einem sogenannten „Sechs-Kammer-Tor“ entdeckt. Erst in den 50-er Jahren begannen gezielte Ausgrabungen in Hazor durch den Grabungsleiter Yigael Yadin.

Die Grabungsmitarbeitenden waren erstaunt, dass das von Yadin erwartete „Sechs-Kammer-Tor“ auch in Hazor ausgegraben wurde. Yadin soll ganz exakte Vorstellungen gehabt haben. Aber er arbeitete quasi mit Bibel und Spaten in der Hand, und vertraute schlicht den Angaben aus den biblischen Texten. Die Funde waren ein Beleg für das Salomonische Großreich mit der dazugehörenden Verwaltung. Sie widerlegten beispielsweise die sogenannte „Kopenhagener Schule“, die das salomonischen Großreich als reine Fiktion abtat. Ich habe den Ort übrigens zusammen mit meinen Kindern bei größter Hitze besucht. Sie teilten meine Begeisterung über die Steinruinen nur bedingt…

Als erfrischender empfanden sie das Waten durch den heute noch zugänglichen Hiskiatunnel in Jerusalem. Die Inschrift, die darin gefunden wurde, bestätigt den Durchbruch bei den Tunnelbauarbeiten: „Am Tag des Durchbruchs begegneten sich die Arbeiter, Mann gegen Mann, Hacke gegen Hacke, und das Wasser floss von der Quelle zum Teich …“. Damit wird eine in der Bibel geschilderte Begebenheit aus 2. Könige 20,20 archäologisch bestätigt.

Ein letztes Beispiel: Im Rahmen meiner Doktorarbeit über Esra-Nehemia beschäftigte ich mich intensiv mit der Perserzeit. Als ich in London den berühmten mit feinen Keilschriftzeichen übersäten Kyros-Zylinder vor Augen hatte, erfasste mich ein ehrfürchtiges Gefühl.

Archäologen fanden eine Aufzeichnung des Perserkönigs, in welcher er seine friedliche Einnahme Babylons als Befreier schildert. Die Art seiner Ausführungen malt uns die Person so vor Augen, wie ihn auch die biblischen Texte schildern.

Wie soll man die im Alten Testament beschriebenen Wunder einordnen?

ERF: Immer wieder geht es in den alttestamentlichen Berichten um Wunder, die Gott zugunsten seines Volkes wirkt: Beim Auszug aus Ägypten teilt sich das Schilfmeer. Im Kampf mit gegnerischen Völkern steht die Sonne still. Jahrhunderte später schwimmt eine Axt aus Eisen auf dem Wasser oder ein Prophet wird von einem großen Fisch gerettet. Das klingt für heutige Ohren sehr nach mythischen Erzählungen aus der Frühzeit eines Volkes. Was spricht aus Ihrer Sicht dafür, sie trotzdem nicht als solche einzuordnen, sondern sie als tatsächliche Ereignisse ernst zu nehmen?

Thomas Bänziger: Wunder sind „prinzipiell verwunderliche Geschichten“ (Karl Barth). Letztlich stellt sich die Grundfrage, ob wir Theologie unter der Prämisse moderner Wissenschaft „etsi deus non daretur“ („als ob es Gott nicht gäbe“) betreiben oder ob wir über eine Offenheit für das Eingreifen Gottes in der Geschichte verfügen.

Leider sind viele Theologien noch im Historismus des 19. Jahrhundert verhaftet. Mit der Ablösung der klassischen Physik durch die Quantenphysik im 20. Jahrhundert hat sich der Wissenschaftsbegriff durch die Naturwissenschaften selbst relativiert.

Auch die Naturwissenschaft kann nicht auskommen „ohne eine gewisse Dosis Metaphysik“ (Max Planck). Die Quantenphysik schafft keine Gottesbeweise, „sie entzaubert aber den modernen Glauben an die Materie und entzieht dem kausal-mechanischen Weltbild und der daraus gefolgerten Entmythologisierung die wissenschaftliche Grundlage“ (Armin Sierszyn).

Barth sprach davon, Theologie sei notwendigerweise auch eine „Logik des Wunders“. Christen müssen den Mut haben, diese Logik mit guten Argumenten zu vertreten: Supranaturalismus ist nicht von vornherein auszuschließen. Wir glauben an einen Gott, der von seiner Realität, vom Himmel her, in unsere Welt hineinwirken kann.

Worin unterscheidet sich alttestamentliche Weisheitslehre von ihrem Umfeld?

ERF: Die beiden alttestamentlichen Bücher der Sprüche und des Predigers bieten mit ihren Weisheiten und Gedanken ganz praktische Lebenshilfe. Ähnliche Spruchsammlungen hat man auch in anderen Kulturen des Alten Orients gefunden. Wo sind Gemeinsamkeiten und Unterschiede dieser Zusammenstellungen von Sprichwörtern? 

Thomas Bänziger: Sowohl in Mesopotamien als auch Ägypten wurden weisheitliche Spruchsammlungen gefunden. Sprüche 22,17-23,11 weist eine große Übereinstimmung mit der aus Ägypten stammenden Lehre des Amenemope auf. Das Beispiel zeigt nicht nur die Internationalität das salomonischen Hofes, sondern auch der Weisheit insgesamt auf.

Die verschiedenen Kulturen hatten ein Bedürfnis, ihr Leben zu ordnen und die Kontingenz des Lebens, also das, was uns im Leben zustößt, einzuordnen. Die Maat, der ägyptische Zentralbegriff der Weisheit, kann mit „Wahrheit, Recht, Richtigkeit, Ur- oder Weltordnung“ übersetzt werden. Sie garantiert den Bestand der kosmischen und menschlich-sozialen Welt. Ihr haben sich die Menschen anzupassen.

Im Unterschied dazu finden wir im alten Israel kein abstraktes Gesetz, das die Welt durchwaltet. Einer der charakteristischen Lehrsätze lautet stattdessen: „Die Furcht des HERRN ist der Anfang der Erkenntnis“ (Sprüche 1,7). Dieser Satz enthält die ganze Erkenntnistheorie Israels, wie der Alttestamentler Gerhard von Rad es treffend beschreibt. Wahre Erkenntnis des Menschen fragt immer nach der Bindung an Gott. Dieser Gottesbezug macht die Weisheit der Bibel einzigartig.

Es gibt auch in der Bibel einen „Tun-Ergehen-Zusammenhang“, wie das Sprüchebuch aufzeigt. Unsere Taten führen zu Konsequenzen. Gleichzeitig kann dieser Zusammenhang auch zerbrechen – das Hiobbuch mit dem Leiden des Gerechten beschreibt das eindrücklich.

Gerade durch das, was Hiob rein vom Verstand her nicht begreifen kann, führt Gott ihn in eine tiefere Gottesbeziehung (vgl. Hiob 42,3). Die Frage nach dem Leiden des Gerechten beschäftigte übrigens auch Menschen in der Umwelt Israels, es wurden diesbezüglich mesopotamische Texte gefunden.

Auch der Prediger stellt eine einfache, an der Welt ablesbare Logik der Weisheit kritisch in Frage. Auch da zerbricht der Tun-Ergehen-Zusammenhang. Dennoch ist der Prediger überzeugt, dass uns die Ewigkeit in unser Herz geschrieben wurde (Prediger 3,11). Er landet mit seinen philosophischen Äußerungen, die bisweilen beinahe existentialistisch anmuten, bei der Schlussaussage, die Summe aller Weisheit bestehe in der Gottesfurcht. Dieser Gottesbezug stellt das Besondere, das Hauptmerkmal der Weisheit Israels dar.

Welche Gebetsformen finden sich in den Psalmen?

ERF: Ein ganz wesentlicher Teil des Alten Testaments bilden die Psalmen. Zu diesem Buch finden auch heutige Leser oft einen recht unmittelbaren Zugang. Die Psalmen werden das Gebetsbuch Israels genannt. Welche Gebetsformen finden sich darin und wie kann ich mir diese unterschiedlichen Formen für mein Glaubensleben zu eigen machen?

Thomas Bänziger: Das Danklied und das Klagelied gehören zu den Hauptgattungen im Psalter. „Danken schützt vor Wanken, Loben zieht nach oben“, sagt der Volksmund zu Recht, da ein dankbares Herz zentral ist. Gott unser Leid zu klagen, ist ebenfalls absolut legitim – der Psalter kann uns dazu sprachfähig machen.

Der Psalmist findet aber sogar mitten im Leid, in der Klage und Trauer seinen Trost bei Gott: „Dennoch bleibe ich stets bei dir“ (Psalm 73,23) ist geradezu beispielhaft. Psalm 23 wird von gläubigen Juden und Christen weltweit wohl am häufigsten mitgebetet wird. Er wird als Vertrauenslied charakterisiert. Gott mein Vertrauen auszusprechen ist eine Gebetsform, die ich mir für mein Glaubensleben zu eigen machen kann.

Eine weitere Kategorie bilden die Bußpsalmen. In der klassischen reformierten Liturgie war ein Bußteil sehr präsent. Gläubige heute können sich durch die Bußpsalmen fragen lassen, wie viel Platz die Umkehr zu Gott heute in ihren Gebeten einnimmt.

Gebete können außerdem unsere Sehnsucht beschreiben, wie wir das in Exilspsalmen vorfinden (z. B. Psalm 137). Psalmen können uns schließlich schlicht und einfach staunen lassen über die Größe Gottes und seine Wege: Schöpfungspsalmen besingen seine Schöpfung, Gesetzespsalmen sein Wort, die Bibel, Geschichtspsalmen seine Wege mit Israel, Königs- und Zionspsalmen staunen über Jerusalem und den König. Ich finde, dieses Staunen über die Größe Gottes stellt auch einen schönen Schlusspunkt für unser Interview dar.

ERF: Vielen Dank für das Gespräch!

Zum ersten Teil des Interviews
 

Thomas Bänziger (Foto: Stiftung Schleife)
Thomas Bänziger (Foto: Stiftung Schleife)

Zur Person: Dr. Thomas Bänziger hat über das alttestamentliche Buch Esra-Nehemia promoviert und darüber verschiedene Bücher publiziert. Im Fachbereich Altes Testament unterrichtet er als Gastdozent am Institut für gemeindeorientierte Weiterbildung IGW in Zürich und an der Staatsunabhängigen Theologischen Hochschule STH in Basel. Außerdem produziert er zusammen mit seiner Frau Katharina Bänziger im Rahmen ihrer Arbeit für die Stiftung Schleife mehrere Podcasts zu biblischen Themen, aktuell beispielsweise den "Bibeltalk". Mehr Infos dazu finden Sie auf dem YouTube Kanal der Stiftung Schleife
 

 Hanna Willhelm

Hanna Willhelm

  |  Redakteurin

Hanna Willhelm ist Redakteurin, Autorin und begeisterte Theologin. Ihre Faszination für die Weisheit und Bedeutung biblischer Texte möchte sie gerne anderen zugänglich machen.  In der Sendereihe "Das Gespräch" spricht sie am liebsten mit Gästen über theologische und gesellschaftlich relevante Themen. Sie liebt Bücher und lebt mit ihrer Familie in Mittelhessen.

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