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© Aaron Burden / unsplash.com

28.10.2015 / Interview / Lesezeit: ~ 9 min

Autor/-in: Hanna Willhelm

Und Gott schrieb

Hat Gott die 10 Gebote wirklich selbst aufgeschrieben? Ein Interview.

Die Zehn Gebote gehören zu den bekanntesten Texten der Bibel. Ihre Entstehung ist Stoff vieler Filmproduktionen – vom Monumentalfilm bis zum Zeichentrick. Und immer ist die Szene besonders beeindruckend, in der Mose die Steintafeln von Gott erhält. Manche Theologen würden darüber nur müde lächeln und sagen, dass in Wirklichkeit alles ganz anders war. Eine solche Begegnung auf dem Berg Sinai hat es ihrer Meinung nach nie gegeben. ERF.de hat mit Prof. Dr. Herbert H. Klement, Professor für Altes Testament an der Evangelischen Theologischen Fakultät in Leuven (Belgien), bis 2015 auch Professor für Altes Testament an der Staatsunabhängigen Theologischen Hochschule Basel, über diese und andere Fragen rund um den jüdisch-christlichen Moralkodex gesprochen.
 

ERF: Die Zehn Gebote stehen in den fünf Büchern Mose. Dieser Teil des Alten Testamentes wird auch Pentateuch genannt. Wie und wann dieses Kernstück der Bibel entstanden ist, wird von Theologen sehr unterschiedlich beantwortet. Können Sie kurz die wichtigste Position erklären?

Prof. Dr. Herbert H. Klement: Nach den Angaben in der Bibel hat Mose die Zehn Gebote im Auftrag Gottes dem Volk Israel vermittelt. Das ist die Überzeugung der Christenheit durch Jahrhunderte hindurch gewesen. Und so wird es auch bis in die Gegenwart hinein von vielen Christen ver­treten. Seit 200 Jahren gibt es in der kritischen theologischen Forschung allerdings eine Richtung, die die Darstellung der Bibel zur Geschichte Israels als historisch nicht glaubwürdig ansieht. In diesem Denken wurde z.B. alles als proble­ma­tisch angesehen, was in den biblischen Texten übernatürlich ist, vom Jenseits handelt oder wo es um Engelerscheinungen und Wunderereignisse geht.

Außerdem dachte man, dass sich die Religion Israels über die Jahrhunderte entwickelt habe und am Anfang sehr primitiv gewesen wäre. Für Israels Geschichte nahm man an, dass sich erst im Exil in Babylon in einer Art abgeschotteter religiöser Gemeinschaft die Theologie gebildet habe, die heute den Pentateuch präge. Nach dieser Vorstellung wären die Zehn Gebote ungefähr im fünften Jahrhundert vor Christus entstanden. Sie werden der als legendär angesehenen Gestalt des Mose in den Mund gelegt. Die Mosegeschichten selbst gelten dabei als Legenden. Diese Position wird bis heute von vielen vertreten – insbe­son­dere in der deutschsprachigen akademischen theologischen Forschung. Hier bildet sie noch eine Mehrheitsposition. Die internationale Situation ist vielschichtiger. Es gab im 20. Jahrhundert zum Beispiel eine eher konservativere archäologische Forschungsrichtung, die die biblischen Geschichten erst einmal für grundsätzlich glaubwürdig ansah, solange sie mit der archäologischen Forschung oder mit dem archäologischen Befund der biblischen Umwelt überein­stimmte.

Historisch gesehen passen die Gebote in die Zeit um 1400 v. Chr.

ERF: Grob zusammengefasst lautet eine Meinung also, dass es in irgendeiner Form wirklich eine Gottesoffenbarung am Sinai gegeben hat, was die Zehn Gebote angeht. Dagegen geht die zweite Lehrmeinung davon aus, dass sich Menschen im Lauf der Zeit Gedanken über Religion gemacht und dann Texte dazu aufgeschrieben haben. Welche Meinung ist für Sie schlüssiger und warum?

Prof. Dr. Herbert H. Klement: Das religionsgeschichtliche Modell geht davon aus, dass der Glaube der Israeliten primitiv angefangen und sich zu immer komplizierteren, abstrakteren Glaubensformen entwickelt habe. Also dass sich beispielsweise aus dem Glauben an viele Gottheiten erst allmählich mit der Zeit der Glaube an nur einen Gott entstanden sei. Das ist aus meiner Sicht nicht schlüssig. Die Bibel beschreibt es anders. Und das passt auch zu der historischen Wirklichkeit, wie wir sie archäologisch aus der altorientalischen Welt oder der Geschichte des alten Ägyptens oder Babylons kennen. Die Rede von einem monotheistischen Gottesverständnis ist aus Ägypten zum Beispiel schon ungefähr um 1400 vor Christus gut bekannt, verbunden mit dem Pharao Echnaton. In diese Zeit etwa datieren die biblischen Angaben die Epoche des Mose. Der Gedanke, dass es nur einen Gott gibt, passt also durchaus in diese Zeit und musste sich nicht erst langsam entwickeln.

Ein anderes Beispiel: Eine Auffassung war, dass eine lange Entwicklung nötig war, bevor es die Zehn Gebote in dieser konzentrierten Form der thesenartigen Zusammenfassung von Werten geben konnte. Fakt ist, dass man in Ägypten eine ganze Reihe von Grabstelen aus dem 2. Jahrtausend vor Christus gefunden hat, auf denen der Verstorbene bezeugt, dass er nicht gestohlen, nicht gelogen oder die Ehe gebrochen hat. Das heißt, es gab solche teils langen Listen mit ethischen Verhaltensweisen. Die Zehn Gebote sind eine ähnliche Liste, sehr komprimiert und zusammengefasst. Auch so ein Text passt aus meiner Sicht in die Zeit, in der sie nach der biblischen Erzählung angesiedelt sind.
 

ERF: Da kann man sich natürlich fragen, ob es wirklich ein Reden Gottes vom Himmel braucht. Kann sich der Mensch diese ethischen Gebote vielleicht einfach selbst erschließen, weil er durch Nachdenken draufkommt, was am besten für das Zusammenleben ist?

Prof. Dr. Herbert H. Klement: Es gibt universale Werte, die bis heute gelten. Dazu gehört zum Beispiel der Wert einer Familie, des Eigentums oder des Lebens. Diese Werte gab es in allen Kulturen der Welt zu allen Zeiten mit unterschiedlicher Gewichtung. Dafür braucht es keinen Dekalog, das wissen Menschen auch unabhängig davon. Wir finden solche universellen Werte auch als Gewissen. Auch in der biblischen Geschichte kommt der Dekalog als Zusammenfassung relativ spät. Davor gibt es ja schon eine lange Geschichte Gottes mit den Patriarchen Abraham, Isaak und Jakob oder Joseph in Ägypten. Da lebte man auch nach Werten und hatte Gottesfurcht. Das gilt auch für die Völker, die den Gott Israels nicht kannten. So kann zum Beispiel ein König der Philister gottesfürchtiger sein als Abraham selbst (vgl. 1. Mose 20).

Gebote gegen das Faustrecht

ERF: Warum hat Gott dann noch einmal aktiv eingegriffen und die Zehn Gebote gegeben?

Prof. Dr. Herbert H. Klement: Die Zehn Gebote stehen in einer dramatischen Befreiungsgeschichte. Die Nachkommen Abrahams waren im ägyptischen Imperium zur Zwangsarbeit verpflichtet. Diese Menschen schreien zu Gott um Hilfe. Und Gott ergreift die Initiative und beruft mit Mose einen charismatischen Retter, der jetzt dieses Volk aus Ägypten in die Freiheit herausführt. Davor war die gesellschaftliche Ordnung durch den ägyptischen Staat gewährleistet. Der Pharao war der große König. Jetzt leben sie zusammen als ein Volk, in dem es keine zentrale politische Gewalt gibt. Wie funktioniert jetzt das soziale Zusammenleben? Wenn die Israeliten ihr eigenes Staatswesen organisieren, soll es ja nicht sein, dass sie anarchistisch zusam­men­leben und sich das Recht des Stärkeren durchsetzt.

Die Art des Zusammenlebens ist das Projekt, das mit dieser Geschichte verbunden ist: Gott führt ein Volk in die Freiheit und gibt ihm Ordnungen, wie es leben kann, ohne wieder von neuen Gewaltherrschern unterdrückt zu werden. Das Grunddokument dafür sind die Zehn Gebote, es ist eine Charta der Freiheit. Das Zusammenleben ist gewährleistet durch Treue der Einzelnen und des ganzen Volkes Gott gegenüber. Und diese Loyalität Gott gegenüber erweist sich in dem Befolgen der Gebote, die eben in dem Dekalog das Grundmuster haben.

Die Originalfassung liegt nicht vor

ERF: Nun gibt es allerdings zwei Fassungen der Zehn Gebote in 2. Mose 20 (Exodus) und in 5. Mose 5 (Deuteronomium). Wie erklären Sie sich die Unterschiede zwischen den beiden?

Prof. Dr. Herbert H. Klement: Zwischen den beiden Fassungen gibt es mehr als zwanzig sprachliche Unterschiede. Die meisten sind inhaltlich unbedeutend, aber es gibt einige wenige, die wichtig sind. Das betrifft z.B. das Sabbatgebot. Es wird in beiden Texten begründet. In Exodus ist die Begründung für das Sabbatgebot die Schöpfungswoche Gottes, der am siebten Tag ruht. Der Sabbat ist damit der Denkmaltag für die Schöpfung. Menschen sollen sich erinnern, dass Gott die Welt geschaffen hat. Im Deuteronomium ist der Sabbat ein Denkmaltag für die Befreiung aus Ägypten. Das Volk soll sich erinnern, dass die Fronarbeit ein Ende hat: jeder siebte Tag ist arbeitsfrei!

Daraus ergibt sich die Frage: Welcher Text stand nun tatsächlich auf den Tafeln, die im Heiligtum in der vergoldeten Kiste aus Akazienholz aufbewahrt wurde? Meines Erachtens können wir diese Frage nicht beantworten. Im Grunde genommen haben wir zwei Texte, die beide erzählen, was in den Zehn Geboten stand. Wir haben jedoch nicht die Gebote selbst, sondern jeweils Berichte dazu, was Inhalt der Gebote war.
 

ERF: Dann wissen wir letztlich also gar nicht, was genau Gott zu Mose gesagt hat?

Prof. Dr. Herbert H. Klement: Nehmen wir an, wir machen einen Vertrag. Die Zehn Gebote sind ein Vertragstext, den Gott mit seinem Volk macht. Sie dokumentieren den Bundesschluss, der der Form nach damaligem internationalem Vertragsrecht entspricht. Diesen Vertrag habe ich als Dokument vor Augen und kann ihn lesen und abschreiben. Er ist deponiert in der Bundeslade. Diesen Text haben wir leider nicht selbst in der Bibel. Das ist so, wie wenn ich über ein Abkommen berichte und sage: Das und das sind die Paragraphen, die vereinbart worden sind. Diese Wiedergabe ist an sich völlig richtig, aber mein Bericht über den Vertrag ist nicht der Vertrag selbst. So ähnlich ist die Situation mit den Zehn Geboten. Die Zehn Gebote, wie wir sie in Exodus und Deuteronomium überliefert haben, geben nicht völlig buchstabengenau die Worte wieder, die auf der Tafel standen. Wir haben den Text der Tafeln in erzählter Weise vorliegen. Und Erzählungen von solchen Verträgen können erklärende Kommentierungen beinhalten. Das ist hier offensichtlich der Fall, zumindest bei dem Sabbatgebot. Und vielleicht ist das auch so bei anderen Einzelformulierungen, z.B. wird das Ehren der Eltern mit der Verheißung langen Lebens begründet.
 

ERF: Auf den Tafeln, die Mose ursprünglich hatte, stand dann aber schon der O-Ton, der reine Vertrag?

Prof. Dr. Herbert H. Klement: Ja sicher, bloß den haben wir nicht mehr. Wir können ihn höchstens versuchen wiederherzustellen, indem wir aus den beiden Fassungen, die wir jetzt haben, die Unterschiede herausnehmen. Von den etwa zwanzig sprachlichen Unterschieden in den hebräischen Handschriften sind dreizehn unwesentlich. Aber bei dem Sabbatgebot haben wir wie gesehen stärkere Unterschiede. Auch die Verben unterscheiden sich: Du sollst den Feiertag halten oder dich an den Feiertag erinnern. Und das heißt: es ist unbekannt, welches Verb auf der Tafel gestanden hat. Beide Versionen sind offensichtlich erzählte Fassungen. Von diesen aus lässt sich die Urfassung nicht mehr zurückverfolgen. Aber es besteht kein Grund, den Erzählungen zu misstrauen. Sachlich sind beide Verben und beide Begründungen des Sabbats zutreffend. Ob ich nun den Feiertag halte oder an ihn gedenke, macht von der Bedeutung her keinen wesentlichen Unterschied.

Ein Text als Ort der Gottesbegegnung

ERF: Wahrscheinlich hat Gott Mose in den 40 Tage auf dem Berg Sinai bei der Übergabe sowieso noch eine ganze Menge mehr gesagt hat als nur diese Zehn Worte, mit denen die Zehn Gebote im Hebräischen zusammengefasst sind.

Prof. Dr. Herbert H. Klement: Diese Zehn Worte sind etwas ganz Besonderes. Sie sind herausgehoben aus allen Worten, die Gott Mose oder den späteren Propheten sonst mitgeteilt hat. Nach den biblischen Angaben spricht erstens Gott diese Worte selber zu dem ganzen Volk. Als das Volk Israel an den Berg kommt (2.Mose 20), ruft Gott sie vor dem Volk aus. Der Eindruck bei dem Volk ist so dramatisch, dass sie sagen: „Wir ertragen das nicht. Mose, mach‘ du das alleine mit Gott und dann gib uns den Text.“ Zweitens wird aus diesen gesprochenen Worten der Text, der von Gott selbst auf die Tafeln geschrieben und Mose übergeben wird. Im Zusammenhang mit der Geschichte vom Goldenen Kalb werden die Tafeln zerstört, worauf Gott Mose beauftragt, Kopien der Tafeln herzustellen.

Die Zehn Gebote sind der einzige Text, der in der Bibel erwähnt ist, den Gott selber geschrieben hat. Stärker lässt sich die Bedeutung eines Textes nicht unterstreichen, als dass er handschriftlich von Gott kommt. Dieser Text ist verloren­gegangen, wird dann nachgefertigt von Mose und auch nochmals nachformuliert in den Büchern Exodus und Deuteronomium, jetzt als ein von Menschen ge­schriebener Text.

Drittens werden diese Tafeln im Zentrum des Gottesdienstes verankert. Die goldüberzogene Kiste aus Akazienholz, der Behälter für die Tafeln, steht genau an dem Ort im Heiligtum, wo andere Religionen ein Götterbild haben. Das heißt, da wo der Ort der intensivsten Gottesbegegnung ist, steht in Israel nicht eine Statue, sondern ein schriftlicher Text. Das geschriebene Gotteswort steht so von Anfang an in Israel im Zentrum des Gottesdienstes. Das ist wichtig: Der schriftliche Text, nicht das gesprochene Wort, ist der Ort der Gottesbegegnung. Die Bedeutung der Schrift als Wort Gottes ist keine Erfindung der Reformation. Gott begegnet den Menschen da, wo die Schrift ist.

Dieser Text des Bundesschlusses wird dann in den Gesetzessammlungen des Pentateuchs ausgelegt und später in der Geschichte Israels ergänzend durch die Propheten aktuell kommentiert. So kommt es dann zum Alten und später zum Neuen Testament. Mit den Zehn Geboten als Kerntext aller schriftlichen Texte hat es angefangen, dass wir als Christen die Orientierung an dem Schriftwort, an der Bibel, als normal empfinden und den Heiligen Schriften einen solchen Stellenwert einräumen. Alle reformatorischen Kirchen haben das bis heute als Grundsatz, dass sich Glaube und Lehren an der Schrift orientiert.

ERF: Vielen Dank für das Gespräch.


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 Hanna Willhelm

Hanna Willhelm

  |  Redakteurin

Hanna Willhelm ist Theologin und Redakteurin im Bereich Radio und Online. Sie ist fasziniert von der Tiefe biblischer Texte und ihrer Relevanz für den Alltag. Zusammen mit ihrer Familie lebt die gebürtige Badenerin heute in Wetzlar und hat dabei entdeckt, dass auch Mittelhessen ein schönes Fleckchen Erde ist.

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Kommentare (2)

Harald S. /

Warum sucht niemand nach der "Erstausfertigung" der 10 Gebote, die, wie uns überliefert wurde, von Moses am Berg Sinai, Horeb oder Jabal al Jawz zerstört wurden?

Paul S. /

ein beachtenswerter Bericht und hochinteressant , bin aber der Überzeugung wenn die original Steintafel bei Ausgrabungen gefunden würde , die Menschen nicht zum wahren Glauben finden . Wer an Gott mehr

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