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© Linus Sandvide / unsplash.com

13.09.2021 / Andacht / Lesezeit: ~ 10 min

Autor/-in: Hanna Willhelm

Licht für dunkle Wege

Warum das Alte Testament hilfreich sein kann, wenn der Glaube schwer fällt.

Das Alte Testament ist kein leichter Lesestoff. Zwischen der Lebenswelt der Antike im vorderen Orient und unserer modernen, westlichen Lebensweise liegt ein großer zeitlicher und kultureller Abstand. Da wirkt manches auf heutige Leser befremdlich oder sogar abstoßend.

Ich lese die Bibel nach einer bestimmten Reihenfolge, die von einem sogenannten Bibelleseplan vorgeschlagen wird. Zur Zeit führt mich diese Lese- und Verständnishilfe in einem Streifzug durch einige der geschichtlichen Bücher des Alten Testaments. Was ich da lese, ist manchmal sehr verwirrend. Das kommt aber nicht nur von den vielen unbekannten Namen und den ellenlangen Geschlechtsregistern.

Auch manche Aussage über Gott finde ich schwierig einzuordnen. Wieso handelt Gott den Israeliten gegenüber manchmal auf so erschreckende Art und Weise? Warum lässt er sie als Folge ihres Ungehorsams so viel Leid erleben? Warum spricht er manchmal sehr eindringlich durch seine Propheten zu seinem Volk und schweigt ein anderes Mal über Jahrzehnte und Jahrhunderte?

Das Alte Testament spiegelt unsere Wirklichkeit

Solche Fragen machen mir den Wert der alttestamentlichen Geschichten ganz neu bewusst. Denn ich merke: In mir kommen ähnliche Fragen hoch, wenn ich Nachrichten höre oder mir den Zustand der Kirche anschaue. Warum lässt Gott es zu, dass eine Familiendynastie ein Land wie Nordkorea jahrzehntelang grausam unterdrückt?

Wieso verhindert er nicht, dass militant islamistische Kräfte die Bevölkerung und Anhänger anderer Religionen in Afrika zunehmend in Angst und Schrecken versetzen? Wieso geht es in den Kirchen manchmal so furchtbar menschlich zu und ist so wenig von Gottes Geist zu spüren? Warum interessieren sich viele Menschen kaum noch für Gott? Warum gibt es in Familien so viel Streit und Unversöhnlichkeit? Diese Liste ließe sich beliebig fortsetzen und vielleicht haben Sie noch ganz andere, persönliche Fragezeichen.

Die alttestamentlichen Berichte beantworten diese Fragen nicht direkt. Aber sie sind wie Streiflichter, die die Dunkelheit kurz erhellen und zumindest eine Ahnung davon geben, wie der Weg durch schwieriges Gelände aussieht. Hier ein paar Beispiele dafür:

Wir brauchen Veränderung

Das erste Streiflicht beleuchtet keine angenehme Erkenntnis. Die Geschichte des Volkes Israels ist ein vielsagendes Beispiel dafür, dass wir für unser Leben Korrektur brauchen. Ein Blick in die Geschichts- und Prophetenbücher zeigt, was ich meine. Nachdem der berühmte Könige Salomo gestorben war, teilte sich das bis dahin geeinte Reich Israel in zwei Königreiche auf: Israel und Juda. Etwa ab dem Jahr 931 v. Chr. existieren diese beiden Reiche nebeneinander – mal verfeindet, mal mehr oder weniger verbündet.

Vor allem der moralische Zustand von Volk und Königen schwankt in den nächsten Jahrhunderten ständig hin und her. Es gibt zwar immer wieder Herrscher, die sich an Gottes Geboten orientieren und sich bemühen, die Menschen ebenfalls dazu anzuhalten. Ihnen zur Seite stehen Propheten und Prophetinnen, die das Volk ebenfalls wieder auf den rechten Weg bringen sollen. Meistens reden diese sich jedoch den Mund fusselig, denn weder die Regierenden noch die Bevölkerung hören groß auf sie. Langfristig positive Veränderungen gibt es kaum.

In den allermeisten Fällen sind die Menschen stattdessen unbewusst eher auf einen Glauben aus, der ohne Anstrengung Sicherheit und Erfolg verspricht. Deswegen boomt der Götzendienst. Mit kleinen Geschenken kann man bei diesen Holzfiguren gut Wetter machen – egal ob das Anliegen ethisch korrekt ist oder nicht. Der Glaube an einen Gott, der Wert auf Gerechtigkeit, Treue, Gehorsam und Vertrauen legt, wäre deutlich anstrengender. Also wählen viele lieber einen selbst gebastelten „Glauben light“. Sieht gut aus und fühlt sich richtig an, macht aber auch blind für die Realität des Lebens und für Gottes Wesen.  

Als Menschen im 21. Jahrhundert sind wir leider auch nicht immun gegenüber dieser Art von „Glaubensbequemlichkeit“. Auch für uns gilt: Ein Glaube, der nur auf gute Gefühle und Sicherheit aus ist, blendet die eigene Veränderungsbedürftigkeit aus. Gott möchte mir zeigen, wo ich ihn mit meinem Denken, Fühlen und Handeln links liegen lasse oder mir und meinen Menschen schade.

Das Alte Testament stellt deswegen auch an mich die unangenehme Frage, ob Gott hineinreden darf in meinen Umgang mit meinen Kindern, meinem Partner, meinen Nachbarn, in meinen Umgang mit Geld oder mit den Ressourcen der Schöpfung. Darf er sich einmischen, in meine Art, wie ich über andere rede oder Beziehungen gestalte? Gott möchte mich verändern, wo es notwendig ist. Das geht hinein bis in die persönlichsten Lebensbereiche und -gedanken. Das ist nicht angenehm, aber heilsam.

Als Menschen im 21. Jahrhundert sind wir leider auch nicht immun gegenüber dieser Art von „Glaubensbequemlichkeit“. Auch für uns gilt: Ein Glaube, der nur auf gute Gefühle und Sicherheit aus ist, blendet die eigene Veränderungsbedürftigkeit aus.

Gott passt sich nicht unseren Maßstäben an

Weder Israel noch Juda hören über die Jahrzehnte und Jahrhunderte auf Gottes Ruf zur Umkehr. So kommt es, wie es kommen muss: Das Königreich Israel wird um das Jahr 722 v. Chr. von den Assyrern besiegt und verschwindet von der Bildfläche. Das Königreich Juda existiert noch 120 Jahre, erlebt dann aber auch seinen Untergang, nachdem es zuvor den Babyloniern bereits als abhängiger Staat Tribut errichten musste. Im Jahr 586 v. Chr. wird Jerusalem schließlich belagert und zerstört, der prachtvolle, von Salomo erbaute Tempel geplündert und geschleift.

Das ist vielleicht die am schwersten zu verdauende Botschaft einiger alttestamentlichen Geschichten. Gottes Geduldsfaden scheint ein Ende zu haben – wenn auch ein sehr langes. Gott ist an diesem Punkt der Geschichte nicht mehr bereit, bestimmte Dinge zu vergeben. Stattdessen ist er zornig über das Verhalten seines Volkes (2. Chronik 36,15-16; 2. Könige 24,3-4). Er lässt zu, dass der Tempel zerstört wird und Israel ins Exil geführt wird. Das alles auf die Gefahr hin, dass der Glaube vieler Israeliten daran zerbricht und er sich selbst der Lächerlichkeit anderer Völker preisgibt.

Das ist keine leichte Kost. Aus diesen Begebenheiten lassen sich auch keine konkreten Rückschlüsse auf Gottes Handeln im Hier und Heute ziehen. Es handelt sich um eine bestimmte geschichtliche Situation, die nicht einfach Eins zu Eins in die Gegenwart übertragen werden kann.

Trotzdem bleibt die Spannung, die der Leser in diesen Bibeltexten wahrnimmt, bis heute bestehen. Ich vermute, dass viele Angehörige des Volkes Israels, gläubige und eher gleichgültige, damals mit Gott gehadert haben. Sie werden sich gefragt haben, wie Gott all das Leid zulassen konnte. Diese Parallele, diese Frage zieht sich tatsächlich bis in die Gegenwart hinein.

Immer wieder handelt Gott nach menschlichem Dafürhalten völlig unverständlich. Auch heute. Schlimmer noch: Manchmal ist er überhaupt nicht der „liebe Gott“, der keiner Fliege etwas zu leide tut. Gott mutet uns sich manchmal als jemand zu, dessen Beweggründe und Absichten uns nicht nur völlig verborgen bleiben, sondern die uns auch sehr fremd sind. Oft lässt sich Gott eben nicht in die Karten schauen. Der Glaube an ihn ist kein Garant dafür, dass alles im Leben glatt läuft.

Vielleicht ist gerade das eine der zentralen Botschaft des Alten Testamentes für Menschen heute. Wir leben in einer Gesellschaft, die alles analysieren, verstehen und verbessern will. Wir wollen alles im Griff haben – letztlich auch im Glauben. Gott soll erklärbar sein, sein Handeln logisch nachvollziehbar. Gott jedoch entzieht sich diesem Zugriff. Das gilt es auszuhalten.

Immer wieder handelt Gott nach menschlichem Dafürhalten völlig unverständlich. Auch heute. Schlimmer noch: Manchmal ist er überhaupt nicht der „liebe Gott“, der keiner Fliege etwas zu leide tut.

Im Chaos Gottes Gnade finden

Es wäre trostlos, wenn unsere Veränderungsbedürftigkeit und Gottes Souveränität die einzigen Spiegelbilder des Alten Testamentes für unsere Gegenwart wären. Aber das sind sie nicht und das ist wiederum das Großartige an den Geschichten. Man muss als Leser sogar noch nicht einmal ganz genau hinschauen, um die hellen, Mut machenden Elemente in der Geschichte Israels zu entdecken. Sie springen einem förmlich ins Auge.

Die Propheten selbst sind das beste Beispiel dafür: Ihre Botschaft ist immer eine Mischung aus Ermahnung und Hoffnung, aus Konsequenz und Neuanfang (vgl. Jeremia 1,10). Es geht Gott nie darum, einfach nur drauf zu hauen und für Ruhe im Karton zu sorgen. Gott eröffnet immer eine Perspektive nach vorne, eine Möglichkeit zur Umkehr, zu einem guten Leben.

Ein gutes Beispiel dafür ist die Rückkehr des Volkes Israels aus dem Exil. Gott hatte den Menschen mehrfach sagen lassen, dass sie eines Tages in ihr Land zurückkehren und den Tempel wieder aufbauen würden (Jeremia 16,14-15; Nehemia 1, 1-11). Dieses Versprechen fängt um das Jahr 538 v. Chr. an, sich zu erfüllen. Zu diesem Zeitpunkt erlaubt der babylonische Herrscher Kyros den besiegten und verschleppten Völkern die Rückkehr in ihr Heimatland. Auch die Juden profitieren von diesem Erlass und so kehrt eine Gruppe von etwa 40.000 Personen zurück und siedelt sich in Jerusalem und Umgebung an (Esra 1+2).

Es geht Gott nie darum, einfach nur drauf zu hauen und für Ruhe im Karton zu sorgen. Gott eröffnet immer eine Perspektive nach vorne, eine Möglichkeit zur Umkehr, zu einem guten Leben.

Bis heute finden Menschen und ganze Völker Gottes Gnade inmitten von zerbrochenen Biographien und unter schwierigen äußeren Umständen. Die ERF Sendereihe „ERF Mensch Gott“ erzählt solche Geschichten. Aber auch auf nationaler Ebene kann man sie finden. Die Versöhnung der Hutu und Tutsi in Ruanda ist für mich ein solches Beispiel oder die Wiedervereinigung Deutschlands. Auch das Wirken von Mahatma Ghandi und Martin Luther King zähle ich dazu. In meinem Leben entdecke ich ebenfalls Gottes Wirken trotz offener Fragen.

In der Rückkehr der Juden aus dem babylonischen Exil und bei Menschen, die innerlich und äußerlich Heilung erfahren haben, wird etwas von dem deutlich, was Gott durch den Propheten Jeremia versprochen hat: „Ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht der Herr: Gedanken des Friedens und nicht des Leides, dass ich euch gebe Zukunft und Hoffnung“ (Jeremia 29,11).

Gott wirkt – aber oft langsam und im Verborgenen

Gott handelt in all dem nicht im Hauruck-Verfahren. Er sagt keinen Zauberspruch und alles ist ganz offensichtlich wieder gut. Seine Handschrift kann man in der Weltgeschichte meistens eher erahnen, als dass man sie eindeutig sieht. Auch in der Geschichte Israels bleibt der Neuanfang ein Auf und Ab, Schwierigkeiten und Probleme verschwinden nicht von selbst. Die Heimkehrer finden zunächst nur einen Schutthaufen vor. Das hindert sie nicht daran, den Tempel und die Stadt wieder neu aufzubauen.

Gottes Handschrift kann man in der Weltgeschichte meistens eher erahnen, als dass man sie eindeutig sieht.

Klein ist er, dieser Anfang. Als der Tempel geweiht wird, sind die Jungen euphorisch, während die Alten weinen (Esra 3,12-13). Letztere haben den Prachtbau von König Salomo noch vor Augen. Dagegen wirkt dieser Tempel doch sehr bescheiden. Als Nehemia um das Jahr 458 v. Chr. dann nach Jerusalem kommt, liegt die Stadtmauer immer noch in Trümmern. Die Bevölkerung der Stadt ist unterdessen schon wieder dabei, Gottes Gebote zu vergessen und sich gegenseitig übers Ohr zu hauen (Nehemia 5). Als ob das nicht genug wäre, machen sich die Nachbarvölker über das Bauvorhaben lustig und entmutigen so die Bauarbeiter (Nehemia 4).

Ein Neustart in Goldglanz und Sternchen war die Rückkehr aus dem Exil also von Anfang an nicht. Eher ein Holpern und Stolpern durch Widerstände und Probleme. Aber auch in dieser instabilen Situation ist Gott da, verspricht seine Gegenwart und fordert die Menschen dazu auf, sich nicht entmutigen zu lassen (Haggai 2,1-9).

Das macht auch mir Mut. Denn oft lasse ich mich von dem entmutigen, was ich in meiner Kirche oder in christlichen Organisationen bruchstückhaft und unvollkommen ist. Da tut es gut zu wissen, dass Gott sich von diesen Bruchstücken nicht abhalten lässt zu wirken und Gutes daraus entstehen lässt.

Zwischen Hoffen und offenen Fragen ist Veränderung möglich

Israels Geschichte bleibt übrigens auch in den darauffolgenden Jahrhunderten wechselvoll. Bis zum Kommen des angekündigten Messias vergeht viel Zeit. Da mag sich der Einzelne gefragt haben, ob Gott sein Versprechen vergessen hat. Als Jesus ca. 450 Jahre nach Nehemia dann tatsächlich auf die Welt kommt, sieht die Weltgeschichte wieder alles andere als rosig aus.

Ich habe gelesen, dass zur Zeit von Jesu Geburt viele Jungen seinen Namen hatten. Jesus bedeutet „Gott rettet“. Aus dem gleichen Grund sollen viele Mädchen den Namen „Maria“ getragen haben – abgeleitet von der hebräischen Wurzel für „bitter“. Ich weiß nicht, ob die Aussage über die Bedeutung und Häufigkeit der beiden Namen sprachgeschichtlich tatsächlich richtig ist. Allerdings halte ich es für sehr wahrscheinlich, dass sich der Zustand des jüdischen Volkes unter der römischen Besatzung tatsächlich mit einer Mischung aus Hoffnung und Bitterkeit beschreiben lässt.    

Bis heute bestimmt diese Gemengelage meinen und vielleicht auch Ihren (Glaubens-) Alltag. Es gibt Dinge, die mich hoffen lassen. Situationen, in denen ich erlebte, dass Gott hilft. Aber es gibt auch Momente, die sich nach einer bitteren Niederlage anfühlen, nach Versagen und Hoffnungslosigkeit.

Damit wäre ich wieder bei der ganz am Anfang erwähnten Liste aus lauter Fragezeichen. Die Antwort, die das Alte Testament mir auf meine Fragen gibt, möchte ich so formulieren: Das Leben ist oft nicht einfach und auch, wenn ich an Gott glaube, lösen sich nicht alle Probleme in Luft auf. Manchmal entzieht sich Gott unserem Zugriff und sein Handeln ist für mein Empfinden unverständlich und manchmal sogar unerträglich. Ich möchte aber trotzdem darauf vertrauen, dass Gott gegenwärtig ist, dass er handelt und die Dinge zum Guten führt. Er tut das in meinem Leben, in der Geschichte dieser Welt, in seiner Kirche – und das trotz aller menschlichen Fehler.

Meine Aufgabe in dieser Spannung sehe ich daran, an ihm festzuhalten, die Spuren seiner Gnade zu entdecken und anderen Menschen mit dieser Perspektive Hoffnung zu machen. Nicht zu vergessen natürlich, dass ich Gott die Chance geben will, an meinen Ecken und Kanten zu arbeiten. Das dürfte der Teil sein, der sich von all den Fragezeichen noch am leichtesten lösen lässt. Zumindest dann, wenn ich es zulasse.

 Hanna Willhelm

Hanna Willhelm

  |  Redakteurin

Hanna Willhelm ist Theologin und Redakteurin im Bereich Radio und Online. Sie ist fasziniert von der Tiefe biblischer Texte und ihrer Relevanz für den Alltag. Zusammen mit ihrer Familie lebt die gebürtige Badenerin heute in Wetzlar und hat dabei entdeckt, dass auch Mittelhessen ein schönes Fleckchen Erde ist.

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Kommentare (5)

Gunnar /

Danke, das war ein sehr beruhigender Moment und am Ende habe ich eine leise Hoffnung, dass Gott auch bei mir alles im Lot hat, auch wenn es uns manchmal überhaupt nicht so zumutet. Ich danke für diese Einsicht, ehrlich, nüchtern und hoffnungsvoll. Gott segen Sie.

Dagmar S. /

So ausführlich, tiefgehend und so gut. Vielen Dank .

Albert H. /

Sehr ehrlich, praktisch und hilfreich finde ich ihre Ausführungen. Herzlichen Dank!
Mit freundlichen Grüßen A. H.

Christoph von H. /

Mir auch.

Elvira K. /

Gefällt mir.

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