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© Darius Bashar / unsplash.com

11.12.2025 / Serviceartikel / Lesezeit: ~ 7 min

Autor/-in: Tanja Rinsland

Wenn Werte krank machen

Werte sind grundsätzlich gut. Werden Werte jedoch überbetont, können sie zu Problemen führen.

Ich liebe Karamell – in allen Varianten. Als Kaubonbon, als knackige Kruste auf dem Crème brulée, als Füllung in der Tafel Schokolade. 

Neulich habe ich mir in einem Schnellrestaurant ein Vanilleeis mit Karamellsoße bestellt. Allerdings wurde mir schon beim ersten Löffel klar: „Puh, das ist zu viel des Guten!“ Pappsüßes Softeis und dann noch klebrige Karamellsoße, das ist eher ein Zuckerschock statt Hochgenuss.

Wie ein Wert zum Problem wird

„Zu viel des Guten“ – eine Redewendung, die ich treffend wie bemerkenswert finde. Übertreibt man es mit dem Guten, wird das Gute ungenießbar.

Das gilt nicht nur beim Essen: Ich erinnere mich an eine Feier bei einer Frau, die gastfreundlich sein wollte und uns regelrecht überschüttete mit ihrer Fürsorglichkeit. Ständig drängte sie dazu, sich doch mehr zu nehmen, karrte immer neue Getränke an, riss das Fenster zum Lüften auf oder verteilte Decken. 

Bei aller Geschäftigkeit bemerkte sie gar nicht, dass sie die Unterhaltung ihrer Gäste ständig aus dem Takt brachte. Wahrscheinlich hätten wir uns wohler gefühlt, hätte sich die Gastgeberin nur halb so viel Mühe gemacht. Das Problem: Sie übertrieb es mit der Fürsorglichkeit – einem eigentlich guten Wert – so sehr, dass es sie und andere in eine unangenehme Situation brachte. 

Überbetonte Werte werden zu Stressfaktoren

Im Podcast Homemade Stress berichtet Burnout-Präventions-Coach Stephan Menzel von Klienten, die wegen innerer Werte in extreme Stresssituationen geraten sind. Also nicht etwa wegen ihrer Schwächen oder weil sie ethisch unkorrekt gehandelt hatten, sondern wegen grundsätzlich guter Prinzipien. 

So berichtet er von einer Ärztin, für die es wichtig war, menschenzugewandt und beliebt zu sein. Eigentlich eine gute Haltung bei jemanden in einem medizinischen Beruf. „Doch dieser Wert war irgendwann so ausgeprägt, dass sie jedes Mal, wenn ein Patient abgesagt hat, weinen musste. Denn sie hatte den Eindruck, dass sie damit abgelehnt wird. Das hat ihr Leben total eingeengt.“

Mit ihrem problematischen Verhalten meinen es Betroffene nur gut, deswegen sind solche Wertekonflikte für sie schwer zu durchschauen. Und das hat Auswirkungen auf das psychische Stresslevel, wie Stephan Menzel feststellt: „Um beim Beispiel des Wertes Beliebtheit zu bleiben: Wer diesen Wert überhöht, tut sich mit Konflikten oft schwer. Doch Konflikte gehören zu den Problemen, die jedem im Leben begegnen. Wenn ich diese Konflikte nicht gelöst bekomme, weil ich Angst vor Ablehnung habe, dann entsteht viel Stress, sowohl emotional als auch im Körper.“ 

Diese Überbetonungen entstehen nicht von einem Tag auf den nächsten. Vielmehr ist es ein schleichender Prozess: „Ich nehme mal das Beispiel Perfektionismus. Der Wert Sorgfalt verselbstständigt sich dabei, weil ich durch hervorragende Leistungen Anerkennung bekomme. Wenn ich zum Beispiel spüre, dass ich besonders gefragt bin, wenn etwas Schwieriges zu machen ist, präge ich diesen Wert unbewusst mehr und mehr aus. Möglicherweise wird dieses Verhalten regelrecht zwanghaft und schränkt mich ein, weil dieser eine Wert ständig im Vordergrund steht.“

Das Wertequadrat nach Nicolai Hartmann

Aus der Beobachtung, dass Menschen Werte oft überbetonen, entwickelte der Philosoph Nicolai Hartmann schon Anfang des 20. Jahrhunderts das sogenannte „Wertequadrat“, das der Kommunikationspsychologe Schulz von Thun wiederum als Modell für die Beratungspraxis einbrachte. 

Das Prinzip lautet, dass jeder Wert – Hartmann redet auch von Tugenden – eine Schwestertugend hat: Sparsamkeit und Großzügigkeit sind zum Beispiel solche Schwestertugenden. Nächstenliebe und Selbstfürsorge. Neugier und Respekt. Unabhängigkeit und Verbindlichkeit. Man könnte diese Liste unendlich weiterführen. 

Nun tendieren wir aufgrund von Prägung und Persönlichkeit oft eher zu einem der beiden Werte. Bin ich zum Beispiel eher sparsam, tue ich mich mit dem Spenden möglicherweise schwerer als andere, dafür kaufe ich aber bewusster ein und werfe seltener etwas in den Müll. 

Dass wir Werte unterschiedlich stark ausleben, ist also zunächst normal und gesund. Problematisch wird es erst dann, wenn wir einen Wert stark überbetonen. 

Zum Beispiel wenn ich aus lauter Fürsorglichkeit nicht die Grenzen meines Gegenübers respektiere. Oder nicht nur sparsam, sondern regelrecht geizig bin.

Die eigenen Werte in Balance bringen

Schulz von Thun nennt diese Übertreibung „Des Guten zu viel“. Werte brauchen ein Korrektiv, damit wir sie in einem gesunden Maß vertreten und einsetzen können. 

Dieses Korrektiv findet sich in der Schwestertugend: Eine fürsorgliche Gastgeberin wird dann zu einem angenehmen Gegenüber, wenn sie sich auch darin übt, die Grenzen anderer zu respektieren. Ein Sozialarbeiter kann auf Dauer nur dann Nächstenliebe ausstrahlen, wenn er regelmäßig Selbstfürsorge betreibt. Die Predigten einer Pastorin werden die Gemeinde erst dann berühren, wenn sie nicht nur Wahrheiten ausspricht, sondern auch Gnade vermittelt.

Für diese Balance nutzt der Kommunikationspsychologe von Thun das Bild eines Regenbogens, für den ja auch zwei Schwester-Wetterlagen zusammenkommen müssen: Sonnenschein und Regen. Deswegen spricht er nicht nur von einem Werte- sondern einem Werte- und Entwicklungsquadrat. Wenn ich mich in meiner Persönlichkeit entwickeln möchte, kann ich gute Werte für mich entdecken, denen ich bisher nicht so viel Raum in meinem Leben gegeben habe. 

Ich muss einen Wert, der mir wichtig ist, also nicht aufgeben – sondern ich entdecke einfach neue Tugenden und erweitere damit meine Wertebasis. 

Coach Stephan Menzel bezeichnet diese Balance als „lebbare Mitte“ und erklärt es an einem Beispiel: „Wenn der Wert Beliebtheit bei mir stark ausgeprägt ist, kann ich eine lebbare Mitte finden, indem ich mich an Schwestertugenden wie Authentizität und Geradlinigkeit orientiere. Wo ist es angebracht, freundlich zu sein, aber auch meine Meinung zu sagen, einen klaren Standpunkt einzunehmen und meine Bedürfnisse zu äußern? Das wäre für mich so eine lebbare Mitte, die ich einüben kann und die mich davor schützt, dass ich in eine Werte- Überhöhung abdrifte.“

Wertvolle Werte aus der Bibel

Burnout-Präventionscoach Stephan Menzel schaut gerne in die Bibel, um Inspiration für sein Leben und seine Arbeit als Coach zu finden. Werte sind in der Bibel tief verankert, zum Beispiel durch die Zehn Gebote, die gleich in den ersten Büchern der Bibel aufgelistet sind. Darin ist der Respekt gegenüber den Eltern beschrieben, oder auch die Achtung vor dem Leben anderer. 

Eines der Gebote ist das sogenannte Sabbatgebot. Da sagt Gott: „Halte den Sabbat, indem du ihn heiligst, wie der HERR, dein Gott, es befohlen hat. Sechs Tage in der Woche sollst du arbeiten und deinen alltäglichen Pflichten nachkommen. Der siebte Tag aber ist ein Ruhetag für den HERRN, deinen Gott“ (5. Mose 5,12-14).

Wie Stephan Menzel feststellt, findet sich in diesem Gebot ein wichtiger Wert: „Gott verordnet einen Ruhetag und sorgt dafür, dass die Arbeit nicht überhöht wird. Wir Menschen sind keine Maschinen, Gott weiß, dass wir diese Regeneration brauchen. Also ein total guter Wert: Ruhe.

Selbst biblische Werte kann man überhöhen

Allerdings entwickelten Menschen mit der Zeit zu diesem Sabbatgebot einen ganzen Regelkatalog hinzu. Zur Zeit Jesu, also viele Jahrhunderte nachdem die Zehn Gebote entstanden sind, gab es religiöse Führer, die schon das Zupfen einiger Getreideähren als Arbeit und damit als Bruch des Sabbatgebots verstanden. 

Jesus führte mit Theologen, die diese extreme Form des Sabbatgebots vertraten, regelmäßig Streitgespräche, zum Beispiel, als er Menschen an einem Sabbat von einer schweren Erkrankung heilte. Selbst diese übernatürlichen Heilungen wurden von ihnen als unrechtmäßige Sabbat-Arbeit verstanden! Für diese Männer war es wichtiger, regelkonform zu leben als das jahrzehntelange Leid eines Menschen zu beenden.

Als Jude war es für Jesus selbstverständlich, die Sabbatgebote aus der Thora zu halten. Für ihn war der Ruhetag ein kostbares Geschenk, und doch plädierte er für eine Balance und sagte: „Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen“ (Markus 2,27).

Wie Stephan Menzel feststellt, bringt Jesus damit eine Schieflage wieder ins Gleichgewicht: „Letztendlich wurde dieser eigentlich gute Ruhetag so überhört, dass es gekippt ist. Deshalb hat Jesus Initiative ergriffen und nochmal klar gemacht, wie dieses Gebot zu verstehen ist: dass es ein Tag für den Menschen ist. Gott hat uns diesen Tag anvertraut. Wir sollen diesen einen Ruhetag in der Woche halten und für uns nutzen, unter anderem um Selbstfürsorge zu betreiben. Das ist kein Gott, der richtend vom Himmel schaut, sondern der es gut meint mit uns.“ 

Im Gleichgewicht der Werte

An Jesu Umgang mit dem Sabbatgebot wird deutlich: Werte muss man gar nicht gegeneinander ausspielen. Jesus hat den Sabbat nicht etwa abgeschafft, weil andere es mit diesem Wert übertrieben haben, sondern hat ihn durch eine wichtige Schwestertugend ergänzt: die Fürsorge um andere und uns selbst.

Gibt es Werte, die dir besonders wichtig sind? Wie wunderbar, wie kostbar! Aber es lohnt sich, genauer hinzuschauen und zu spüren, ob so manche Schwestertugend dabei zu kurz kommt. 

Damit unsere Persönlichkeit reifen kann, gilt es den eigenen Wertehorizont zu erweitern und neue Tugenden zu entdecken. 

Es ist wie bei meiner Lieblingsnascherei: Besonders lecker wird es, wenn ich dem süßen Karamell eine Prise Salz hinzufüge. Salz und Zucker können eine herrliche Kombination sein, wenn ich es mit keinem der beiden übertreibe. Genauso ist es mit den Werten in meinem Leben: Nicht zu viel des Guten, sondern ausgewogen – das ist genau die richtige Rezeptur. 

Autor/-in

Tanja Rinsland

  |  Unit Lead ERF Plus Redaktion

Tanja Rinsland hat Medienwissenschaften und Organisationsentwicklung studiert. Die Deutschbrasilianerin leitet die ERF Plus Redaktion und verantwortet mit ihrem Team die inhaltliche Gestaltung des Senders. 

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