Wenn ich meine Mutter anrufe und ihr erzähle, dass ich einen Ausflug oder sonst etwas Schönes plane, verabschiedet sie sich oft mit den Worten: „Genieß es!“ Auf ersten Blick eine unnötige Aufforderung. Doch auf zweiten Blick brauche ich diese Erinnerung häufiger, als ich zugeben will. Denn genießen muss gelernt sein!
Das klingt seltsam, denn beim Genießen geht es ja nicht darum, mir etwas Schweres vorzunehmen oder gar etwas Unangenehmes. Ganz im Gegenteil: Unsere schöne Welt bietet so viel Herrliches, das sich genießen lässt! Feines Essen, traumhafte Orte, ein spannendes Buch, ein guter Witz, herzliche Gesellschaft, ein faszinierendes Hobby.
Das sind all jene Nebensächlichkeiten, die mein Leben angenehm, bunt und interessant machen. Und doch fällt es uns nicht immer leicht, auch Genuss darüber zu empfinden.
Wer einen Burnout hat, genießt nicht mehr
Stephan Menzel, Coach und Experte für Mentale Gesundheit, stellt bei seinen Beratungsgesprächen immer wieder fest, dass sich Menschen schwertun, genussvolle Momente in ihrem Leben zuzulassen. Und zwar ganz besonders, wenn sie unter Dauerstress stehen.
Er beobachtet: „Ich erlebe oft Menschen kurz vor dem Burnout, die die Fähigkeit zum Genießen komplett verloren haben. Selbst Dinge, die vorher der komplette Genuss waren, sind wie hinter einem grauen Schleier und berühren den Menschen nicht mehr.“
Diese Erfahrung hat Stephan Menzel selbst vor einigen Jahren gemacht, als er einen Burnout durchlebt und durchlitten hat. Er beschreibt sein damaliges Verhalten so:
„Ich bin von Haus aus gerne draußen unterwegs, mein Hobby ist das Fischen am Fluss. Und ich habe bemerkt, dass ich dieses Draußensein Stück für Stück, also schleichend vernachlässigt habe. Ich habe mich zurückgezogen und wegen der vielen Arbeit habe ich behauptet, ich hätte keine Zeit. Oder ich kam so platt nach Hause, dass ich nur noch meine Ruhe wollte. “
Was ist mit meinen unerledigten Aufgaben?
Ein prall gefüllter Kalender mag auf ersten Blick der Hauptgrund sein, warum ich in stressigen Zeiten als Erstes ein Hobby oder das Kochen eines besonderen Rezepts fallenlasse. Doch Stephan Menzel beobachtet meistens tieferliegende Gründe.
Wenn ich zum Beispiel in meiner Kindheit nach dem Prinzip „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen“ erzogen wurde, mischt sich unter meinen Genuss auch ein schlechtes Gewissen: Habe ich genug geschafft, um mir jetzt einen freien Abend zu gönnen? Was ist mit dem Stapel unerledigter To-Dos, die noch auf mich warten?
Genießen ohne schlechtes Gewissen
Manche Menschen verbinden schon mit dem Begriff Genuss etwas Negatives und sehen hinter jedem Genuss die Gefahr der Genusssucht, also der grenzenlosen Gier nach angenehmen und lustvollen Erlebnissen. Wer so geprägt ist, schwingt ständig die Moralkeule gegen die eigenen Bedürfnisse und bestraft sich selbst: entweder mit übermäßigem Verzicht oder einem andauernden schlechten Gewissen.
Aber auch das Gegenteil verhindert das Genießen: Wer jeder Marotte und jedem Impuls nachgibt, gönnt sich zwar allerlei, aber genießt kaum.
Denn Genuss entsteht nicht durch das, was ich erlebe, sondern wie ich es erlebe.
Stephan Menzel erklärt dies so: „Es liegt an der Wahrnehmung, ob ich etwas genieße. Ein Freund von mir sagte mir mal: ‚Nimm mal so ein Täfelchen Dunkler Schokolade. Lege es auf die Zunge und lass es mal langsam zerfließen. Spür mal nach, was du schmeckst und fühlst.‘ Das ist der Unterschied zwischen reiner Nahrungsaufnahme und Genuss: Weil ich das ganz bewusst wahrnehme, und nicht nebenbei konsumiere.“
7 Genussregeln nach Lutz
Auf Dauer kann es Menschen krank machen, wenn das Genießen zu kurz kommt. Denn Genuss bildet eine wichtige Fähigkeit zur Erhaltung unserer mentalen Gesundheit. Das Genießen lädt mich ein, in Kontakt mit meiner Umwelt zu treten: Sie zu schmecken, zu riechen, zu hören, zu sehen und zu spüren.
Dadurch bin ich im „Außen“ und nicht nur im „Inneren“ meiner Gedanken und Sorgen. Ich steige quasi aus meinem Kopf aus und öffne meine Seele für das, was mein Körper wahrnimmt.
Dieses Prinzip, Genuss wieder bewusst einzuüben, wird seit vielen Jahren in der Verhaltenstherapie bei Depressionen verwendet. Schon Anfang der 80er formulierte der Psychologe Dr. Rainer Lutz zusammen mit der Psychotherapeutin Eva Koppenhöfer die „kleine Schule des Genießens“.1 Dazu entwarf er sieben Genussregeln, die dabei helfen, das „Sich selbst etwas gönnen Können“ einzuüben.
1. Genuss braucht Zeit
Eile und Hetze sind die Feinde des bewussten Genießens. Wer sich schwer damit tut, sollte sich feste Genusstermine einplanen, vor allem in stressigen Phasen. Und sei es die Viertelstunde Kaffeepause mit einem Stückchen Schokolade.
2. Genuss muss erlaubt sein.
Manche Menschen spüren aufgrund ihrer Prägung innere Verbote beim Genuss, selbst wenn es um harmlose Dinge wie einen Ausflug geht. Hier gilt es zu reflektieren, woher das schlechte Gewissen kommt und ob mein Genuss tatsächlich mir oder jemand anderem Schaden zufügt.
3. Genuss geht nicht nebenbei
Die Schokolade kann noch so edel sein: Aber stopfe ich sie mir beim Seriengucken nebenbei rein, werde ich sie nicht wirklich genießen. Wenn ich mir etwas gönne, sollte ich kurz innehalten und das Gute auf mich wirken lassen. Das schafft Raum für die Sinne und ein Herz voller Dankbarkeit.
4. Weniger ist mehr
Genießen hat nichts mit Konsum zu tun! Wenn ich es übertreibe, verliere ich den Bezug zu dem, was mir an Gutem widerfährt. Zu dem Thema gibt die Bibel einen guten Rat. im Buch der Sprüche heißt es: „Hastig errafftes Gut zerrinnt; wer aber ruhig sammelt, bekommt immer mehr“ (Sprüche 13,11).
Beim Genuss gilt es nicht zu raffen, sondern schöne Erinnerungen zu sammeln.
5. Auswählen, was Dir guttut
Nicht jeder Mensch genießt gleich. Der eine braucht dazu ein Buch und eine Kuscheldecke, der andere das Rad und eine Regenpause. Beim Genuss geht es darum, meinen eigenen Rhythmus zu finden und das tun, aus dem ich neue Energie schöpfe. Dies sollte ich daher ganz ohne Vergleiche mit anderen tun.
6. Ohne Erfahrung kein Genuss
Genuss entsteht nicht im Kopf, sondern im Erleben: Ich schmecke, fühle, rieche, sehe und höre etwas, das mich anregt und mir Lust auf mehr macht. Gerade Menschen, die in ihrem Beruf viel Kopfarbeit leisten, helfen solche Sinneserfahrungen, um aus ihren Gedanken auszusteigen.
Es lohnt sich daher, Genuss mal bewusst analog einüben – ohne Handy, TV oder Nebenbei-Beschallung.
7. Genuss ist alltäglich
Urlaube sind etwas Wunderschönes, Geburtstagsfeiern und Hochzeitstage auch. Aber das bewusste Erleben von schönen Dingen darf nicht auf besondere Zeiten im Jahr beschränkt sein.
Es ist wie mit dem Lüften: Ich warte nicht ab, bis die Luft ganz verbraucht und stickig ist, sondern sorge regelmäßig für neuen Sauerstoff.
Genauso sollte ich immer wieder kleine Genussmomente mitten im Alltag einplanen, besondere in stressigen Zeiten, wenn längere Erholungsphasen gerade nicht möglich sind.
Genießen kann man wieder neu lernen
Wenn du beim Lesen jetzt merkst, dass dein Sinn für gute Dinge verschwunden ist oder vergraben unter einem Berg von Stress und Sorgen liegt, ist das ein ernstzunehmendes Warnsignal.
Denn das Genießen ist ein notwendiger Ausgleich für Körper und Seele und hilft dir, mental gesund zu bleiben. Und nicht nur du hast etwas davon: Nur, wenn du angemessen für dich sorgst, kannst du für andere da sein.
Die gute Nachricht ist: Genießen kannst du (wieder) lernen. Stephan Menzel hat nach seinem Burnout mehrere Monate gebraucht, um wieder arbeitsfähig zu werden. Eine der ersten Anzeichen, dass er auf dem Weg zurück ins Leben war, beschreibt er wie folgt:
„Ich habe wieder begonnen, wieder rauszugehen. Wieder einmal längere Spaziergänge zu machen, die Weite zu genießen. Gerüche wahrzunehmen, im Wald unterwegs zu sein, Geräusche von Vögeln wahrzunehmen. Das sind ganz einfache Dinge, aber ich habe gemerkt: Das hat mir gutgetan.“
Genießen: ein biblisches Prinzip
Was tut dir gut? Was sind deine täglichen schönen Dinge, bei denen du deine Seele baumeln lassen und das Gedankenkarussell abschalten kannst? Und bist du in letzter Zeit ausreichend dazu gekommen, dir diese kleinen Auszeiten zu gönnen?
Wenn die Antwort darauf Nein lautet, nur Mut! Genuss ist schließlich auch ein biblisches Prinzip: Im Buch des Predigers reflektiert der Autor viel darüber, wie kurz das Leben ist und wie wenig Einfluss wir Menschen auf vieles haben, was uns darin widerfährt. Doch die Antwort des Predigers ist nicht etwa Resignation – ganz im Gegenteil. er schreibt:
„Es gibt nichts Besseres für den Menschen, als sich an dem zu freuen, was er isst und trinkt, und das Leben trotz aller Mühe zu genießen. Doch ich erkannte, dass auch das ein Geschenk Gottes ist. Denn wie kann man sich am Essen oder Trinken freuen ohne sein Zutun? Gott schenkt demjenigen, der ihm gefällt, Weisheit, Erkenntnis und Freude.“ (Prediger 2,24-26)
Genießen heißt, dankbar zu sein. Also nimm all das Gute, was du in deinem Leben erfährst, aus Gottes Hand und genieß es!
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