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© Marco Testi / unsplash.com

27.01.2021 / Serviceartikel / Lesezeit: ~ 6 min

Autor/-in: Micaela Kassen

Ist meine Wahrnehmung die Wahrheit?

4 typische Wahrnehmungsfehler im Alltag.

„Wie unhöflich und arrogant sie ist!“ – Ich begegne einer Nachbarin, grüße sie und sie antwortet mir nicht. Später erfahre ich, dass die Person schwerhörig und kurzsichtig ist. Schon habe ich ein ganz anderes Bild von der Person.

Menschen unterliegen oft solchen Wahrnehmungsfehlern und ziehen allzu schnell voreilige Schlüsse über ihr Umfeld. Meistens ist das nicht dramatisch, aber wie im eben genannten Beispiel kann es dazu führen, dass meine Beziehungen zu Mitmenschen unnötig belastet werden. Es ist deswegen hilfreich, typische Wahrnehmungsfallen zu kennen, damit ich richtige Entscheidungen treffen kann und nicht auf unfaire Art und Weise voreingenommen bin.

Was ist eigentlich „Wahrnehmung“?

Der Psychologe Peter Kaiser und die Soziologin Corinna Onnen-Isemann sagen: „Wahrnehmen heißt, Informationen aus der Umwelt über die Sinnesorgane aufzunehmen und zu verarbeiten.“Das bedeutet also: Mein Gehirn empfängt die Signale meiner Sinnesorgane, zum Beispiel was ich rieche, höre, sehe oder schmecke. Und dann interpretiert es diese Eindrücke und bestimmt meine Reaktion auf die Situation.

Diese Interpretation erfolgt allerdings in einem Bruchteil von Sekunden, deswegen scheint es mir, als ob meine Wahrnehmung immer genau das aufnimmt, was in meinem Umfeld passiert. Doch in Wirklichkeit wird alles, was ich mit meinen Sinnen wahrnehme, erst einmal interpretiert.

Und genau bei diesem Prozess kann es auch zu Fehleinschätzungen kommen:

Meine Wahrnehmung kann mich täuschen und muss nicht der Wahrheit entsprechen, weil sie sich immer auch an meinen psychischen Strukturen und Grundbedürfnissen orientiert.2

Hier kommen 4 typische Wahrnehmungsfehler im Alltag.

1. Halo-Effekt

Das Wort „Halo“ kommt aus dem Englischen und meint „Heiligenschein“. Der Halo-Effekt meint das Phänomen, wenn ich von einer mir bekannten Eigenschaft einer Person auf ihre ganze Persönlichkeit schließe, obwohl ich sie eigentlich nicht kenne.

Wenn ich zum Beispiel einer Nachbarin begegne, die mich grüßt oder mir schon bei der ersten Begegnung anbietet, mal auf meine Kinder aufzupassen, habe ich sofort ein sehr positives Bild von ihr. Ich schreibe ihr dann automatisch weitere positive soziale Eigenschaften zu wie Ehrlichkeit oder Kompetenz, obwohl sie die vielleicht gar nicht hat. Ich versehe sie sozusagen mit einem „Heiligenschein“.

Das funktioniert genauso mit negativen Eigenschaften. Wenn meine Nachbarin mich beispielsweise nicht grüßt und sie damit einen unfreundlichen Eindruck auf mich gemacht hat, kann es sein, dass ich generell sehr negativ von ihr denke. Ich gehe dann beispielsweise automatisch davon aus, dass sie sich für etwas Besseres hält oder sie generell gar kein Interesse daran hat, Beziehungen zu Nachbarn aufzubauen.

In Wirklichkeit kann es sein, dass sie mich einfach nicht gehört oder gesehen hat, weil sie gestresst oder in dem Moment nachdenklich war. All meine Interpretationen und Gedanken, die ich zu dem Zeitpunkt hatte, in der mir die Person begegnet ist, sind dann falsch. Trotzdem kann es dazu führen, dass ich von mir aus nur ungern ein Gespräch mit ihr beginne.

Der Halo-Effekt kann alle möglichen Eigenschaften überstrahlen, aber er entspricht nicht unbedingt der Realität.

2. Projektion

Wenn ich einen neuen Job annehme und meine zukünftigen Kollegen kennenlerne, neige ich dazu, diejenigen, die Dinge mit mir gemeinsam haben wie zum Beispiel gleiche Hobbys oder Interessen, sympathisch zu finden. Sie werden von mir positiver eingeschätzt. Menschen, mit denen ich keine Gemeinsamkeiten finde, wirken automatisch weniger sympathisch.

Diesen Effekt nennt man Projektion – ich schließe von mir selbst auf andere. Das Problem:

Wenn ich meine Projektionen nicht kritisch hinterfrage, gebe ich dadurch manchen Freundschaften keine Chance und verpasse möglicherweise die Begegnung mit einem tollen Menschen.

Projektion geschieht auch schnell, wenn ich im Streit mit einer Freundin bin. Es kann es sein, dass ich anfange, meine eigenen Emotionen und Motive auf mein Gegenüber zu projizieren. Ich unterstelle ihr dann vielleicht, dass sie egoistisch ist, weil ich gerade selbst nur an mich denke und das Gefühl habe, in diesem Moment „zu kurz“ zu kommen. Das verhindert, dass ich offen nach den Beweggründen meines Gegenübers frage und dadurch den Konflikt nüchterner betrachten kann.

3. Selektive Wahrnehmung / 
Unaufmerksamkeitsblindheit

Ich erinnere mich an eine Situation mit einer Freundin: Ihr Mann wollte sie abends in der Stadt abholen und wir machten einen Treffpunkt aus. Da er sich nicht so gut in dem Ort auskannte, war er so beschäftigt, diesen Treffpunkt zu finden, dass er uns, obwohl er immer wieder in unsere Richtung schaute, nicht wahrnahm. Dabei haben wir auf der anderen Straßenseite durchgängig auffällig gewunken. Diesen Effekt nennt man in der Psychologie dann selektive Wahrnehmung oder Unaufmerksamkeitsblindheit.

Ein weiteres Beispiel: Wenn ich einen Laden betrete, in dem ich vorher noch nicht war und etwas Bestimmtes suche, kann es sein, dass ich mich so auf diese Aufgabe fokussiert habe, dass ich nicht einmal wahrnehme, dass mir zweimal Menschen über den Weg gelaufen sind, die ich kenne.

In meinem Alltag nehme ich also oft nur die Dinge wahr, die mir persönlich wichtig, mir bekannt sind oder auf die ich mich bewusst konzentriere. In Beziehungen kann selektive Wahrnehmung dann zu einem Problem werden, wenn ich auf Signale, die mir mein Gegenüber schickt, nicht angemessen reagiere.

Zum Beispiel, wenn mein Kind mir nach der Schule erzählt, dass es eine schlechte Note bekommen hat und anmerkt, dass der Lehrer besonders streng sei, nehme ich vielleicht nur die Information „schlechte Note“ auf und halte eine gepfefferte Strafpredigt. Dabei wollte mein Kind mir eigentlich mitteilen, dass es Angst vor dem Lehrer hat und sich deswegen im Unterricht blockiert fühlt.

4. Mein eigenes Real- und Idealbild

Ein Beispiel: Neulich habe ich in einem Artikel gelesen, dass es das Gehirn von Kindern verändern kann, wenn sie im frühen Alter schon fernsehen. Ich entwickle daraufhin folgendes Idealbild: Eine gute Mutter lässt ihre Kinder nicht fernsehen.

Nun habe ich meine Kinder doch mal fernsehen lassen, weil ich etwas Ruhe brauchte und meine Kinder nicht mehr streiten hören wollte. Mein Idealbild einer Mutter habe ich dann nicht erfüllt und es kann sein, dass ich mich dann grundsätzlich als eine „schlechte Mutter“ fühle. Ist dies der Fall, kann es sein, dass ich ein falsches Realbild von mir habe.

Real- und Idealbilder sind oft nicht zuverlässig. Idealbilder sind durch meine eigenen Bedürfnisse und Ziele geprägt, aber können auch durch soziale Klischees in meiner Umgebung vermittelt werden. Betrachte ich mein Realbild durch diese Brille, kann es sein, dass ich nicht das Gesamte sehe und von mir enttäuscht bin.

Wenn ich also zu der Meinung komme „Fernsehen ist generell nicht gut“ und mich jedes Mal schlecht fühle, wenn „Paw Patrol“ im Fernsehen läuft, kann ich einmal über meine Wahrnehmung nachdenken.

Um zu einer realistischen Selbsteinschätzung zu kommen, muss ich mich differenzierter betrachten und mir die Frage beantworten, wie ich mich in bestimmten Situationen unter bestimmten Bedingungen verhalte. Ob ich meinen Kindern jeden Tag aus Gewohnheit den Fernseher anmache oder nur manchmal, weil sie gerade einen schlechten Tag haben und sich nicht gut vertragen, ist ein Unterschied.

Ob ich den Fernseher stundenlang laufen lasse, weil ich keine Lust habe, meinen Kindern zu zeigen, wie sie sich beschäftigen können oder wenn ich ihn gelegentlich für eine halbe Stunde anmache, um mich kurz auszuruhen, weil ich erschöpft oder krank bin oder um in Ruhe die Wohnung zu saugen, ist nicht dasselbe.

Meine Ideal- und Realbilder dürfen sich daher auch ändern und differenzierter werden.

Fazit

Meine Wahrnehmung kann täuschen, weil sie nie wirklich objektiv ist. Ich kann mich also nicht immer auf sie verlassen.

Schon in der Bibel gibt es deswegen den guten Rat: „Liebe Freunde, seid schnell bereit, zuzuhören, aber lasst euch Zeit, ehe ihr redet oder zornig werdet“ (Jakobus 1,19). Dieser Vers verrät mir den wichtigsten Schritt, um meine Wahrnehmung zu prüfen: erst einmal zuhören und nicht sofort reagieren. Das gibt mir Zeit, meine Gefühle zu analysieren und mir einen tieferen Eindruck von der Situation zu machen.

Ein weiterer Tipp: Im Gespräch und Austausch mit Anderen kann ich meine Wahrnehmung prüfen. Manchmal ist es erstaunlich, wie unterschiedlich man genau die gleiche Situation wahrgenommen hat! Für eine gute Selbsteinschätzung kann mir Feedback von unterschiedlichen Personen aus einer wertschätzenden Umgebung helfen.
 

Literatur

Kaiser, P. & Onnen-Isemann, C. (2007): Psychologie für den Alltag: wie man Probleme wirklich bewältigen kann. mvg Verlag, Heidelberg.

[1] Kaiser/Onnen-Isemann, S. 21.
[2] vgl. ebd.

 Micaela Kassen

Micaela Kassen

  |  Freie Mitarbeiterin

Theologin, studiert derzeit Psychologie und ist auf Kinder- und Jugendpsychologie spezialisiert. Sie hat als Lerntherapeutin gearbeitet und ist aktuell als Sozialarbeiterin in einer intensiv-pädagogischen Einrichtung tätig. Redaktionell setzt sie ihre Schwerpunkte auf die psychische Gesundheit und Kindererziehung. 

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Kommentare (2)

Andreas J /

Wahrnehmungen sind immer wahr, sie können nicht täuschen.
Eine fehlerhafte Deutung meiner Wahrnehmungen ändert nichts an der Wahrheit der Wahrnehmung.
Denn Interpretation ist nicht Wahrnehmung.

Anonym /

Vielen Dank für diesen Beitrag. Es zeigt mir, dass ich immer wieder reflektieren muss, inbezug auf mein Verhalten anderen Menschen gegenüber.
Wie nehme ich meine Gegenüber wahr? Was unterstelle ich mehr

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