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© Max Saeling / unsplash.com

22.09.2023 / Serviceartikel / Lesezeit: ~ 7 min

Autor/-in: Kai Rinsland

Bevor das Seil reißt

Wie gehe ich mit erschöpfenden Beziehungen um? Ein gangbarer Weg am Beziehungsseil entlang.

Jeder kennt das: Ein Mensch im Umfeld, der entsetzlich stresst. Der mich mit seinen Aussagen in die falsche Ecke stellt, überall nur hochgezogene Augenbrauen erntet und keine Freunde zu haben scheint. Und da kommt er schon wieder um die Ecke. Nix wie weg!

Das kann eine Methode sein, um einer schwierigen Beziehung aus dem Weg zu gehen: Flucht. Ausweichen. Die Kurve kratzen. Es mag möglich sein, doch ist es auch ratsam? Den Kontakt bewusst von jetzt auf gleich beenden: die Nummer auf dem Smartphone löschen, den Chat blockieren, die Anrufe wegdrücken? Vielleicht nehme ich sogar einen anderen Weg zur Bushaltestelle, aber wer klopft mir denn jetzt auf die Schulter? Mist, erwischt!

Der Umgang mit „schwierigen“ Menschen kostet auf die Dauer Kraft. Zwischenmenschliche Beziehungen können zur erschöpfenden Belastung werden. Wie ich damit umgehen kann, ist zu hören in der Podcast-Reihe „Raus aus der Erschöpfung“ mit dem Psychotherapeuten Jörg Berger. Auch in seinem Buch „Die Anti-Erschöpfungsstrategie“ habe ich einige Tipps zum Umgang mit anstrengenden Zeitgenossen gefunden.

 

Die Flucht nach vorn als Masterplan?

Den Kontakt komplett abbrechen kann eine Lösung für den Umgang mit schwierigen Menschen sein. Doch sie ist nicht die beste Lösung, sollte nie die erste Wahl sein und verursacht obendrein oft weitere stressige Momente. Zwar ist dann äußerlich „Ruhe im Karton“, aber wenn ich diese Strategie zu häufig anwende, macht das langfristig einsam.

Außerdem: Könnte es sein, dass ich vielleicht sogar Teil des Problems bin? Darauf weist auch Jörg Berger hin: „Wenn Sie eine Situation vermeiden, der Sie sich eigentlich stellen sollten, geht es um Überforderung oder Hilflosigkeit“ (Berger, Die Anti-Erschöpfungsstrategie, Seite 72).

Wo liegen also die ungesunden Verhaltensmuster und Verschaltungen auf meiner Seite? Wenn diese mit im Spiel sind, löst Weglaufen das eigentliche Problem nicht. Es wird dann nur verschoben, bis zur nächsten Katastrophen-Beziehung. Eine vertane Chance also, um an der zwischenmenschlichen Krise zu wachsen.

Und nicht zuletzt: Oft ist ein Beziehungsabbruch nicht ohne weiteres möglich. Einen Wohnort mit schwierigen Nachbarn und sogar meine momentane Arbeit kann ich zur Not hinter mir lassen, aber spätestens bei der eigenen Familie wird es schwierig, einen Menschen aktiv totzuschweigen. Hier lohnt es sich, nach anderen Strategien zu suchen. Gleichzeitig warten hier aber auch die größeren Baustellen des Lebens, weshalb dies oft nur mit professioneller Hilfe funktioniert.

Bleiben wir daher für den Moment bei den vermeintlich „leichten“ Fällen und der Frage: Wie kann ich mit unangenehmen Beziehungen umgehen? Was kann ich selbst tun, um die Verhältnisse zu verbessern? Hier ein paar spürbare Erinnerungs-Knoten im Seil einer stressigen Beziehung, an denen ich mich entlangtasten kann.

 

Knoten Nr. 1: Die eigenen Gefühle wahrnehmen und verstehen

Wenn mir der Kontakt zu einem Menschen zunehmend Mühe macht, reagiere ich oft wie ein Gummipuffer: Ich passe mich dem Druck an. Ich werde weich, ich verlasse meine Komfortzone und passe mein Verhalten und meine Reaktion an. Dabei übersehe ich meist schon die ersten inneren Stoppschilder: Unsicherheit, Angst, Panik, Traurigkeit, Ausgeliefert sein, Schuldgefühle.

Diese und andere Gefühle können in Beziehungen vorkommen. Und noch wichtiger: Gefühle sind erstmal okay. Sie weisen mich darauf hin, wie es mir in und mit bestimmten Umständen geht. Sie wollen wahrgenommen und verstanden werden, nicht beurteilt oder gar verdrängt.

Deshalb hilft es, wenn ich mich überfahren fühle: Innerlich stehen bleiben, einen Abstand einnehmen und wahrnehmen: Was ist das für ein Gefühl? Welchen Namen hat es? Sind es verschiedene? Worauf wollen sie mich hinweisen? Ist Wut mit dabei und wenn ja, welche Gefühle stecken unter der Wut?

Je klarer ich vor Augen habe, welche Gefühle mich gerade beschleichen und wo sie herkommen, desto leichter kann mein Verstand die Oberhand über die aktuelle Situation gewinnen. Ich bin meiner Gefühlswelt dann nicht mehr hilflos ausgeliefert und kann eine passende Reaktion auf mein Gegenüber suchen, anstatt mich reflexhaft einem ominösen Druck anzupassen.

 

Knoten Nr. 2: Wo klemmt’s bei meinem Gegenüber?

Wenn ich mich und meine Gefühlswelt mit ihren Reiz-Reaktions-Mustern besser verstehe, ist das gut. Ein optimaler Umgang mit schwierigen Beziehungen gelingt, wenn ich auch beginne, mein Gegenüber besser zu verstehen. Da hilft es, erneut kurz innezuhalten und zu überlegen: Wen habe ich da vor mir? Warum ist der so? Wie geht er mit mir um und warum? Hat er vielleicht auch seine Defizite und Reaktionsmuster, über die er gar nicht weiter nachgedacht hat?

Weiter: Was sagt das Verhalten meines Gegenübers über ihn selbst aus? Diesen Blick weg von mir, für einen Moment nur fokussiert auf den anderen, empfiehlt auch Jörg Berger: „Wenn mich ein anderer nicht fair oder nicht liebevoll behandelt, ist das sein Problem, nicht meines – es sagt etwas über den anderen aus, nicht über mich“ (Berger, Die Anti-Erschöpfungsstrategie, Seite72).

Wie mein Gegenüber sich also gebärdet und mir das Leben gerade schwer macht, ist seine Sache und Verantwortung. Aber es sagt nichts über mich und meinen Selbstwert aus. Wenn ich mir das klarmache, gewinne ich Abstand zur emotionalen Ebene der Beziehung und gleichzeitig Souveränität und Ruhe.

Ich kann bei mir bleiben, anstatt mich vorschnell einem äußeren Druck anzupassen. Ich lasse die Kopfebene arbeiten, anstatt in der Gefühlswelt zu versacken. Es ist quasi der Versuch, im Kopf mal eben ein Quizrätsel zu lösen, anstatt Angst vor der Knobelei zu haben und hilflos festzustecken. Kopfebene betreten anstelle der Gefühlswelt: Abstand hergestellt.

 

Knoten Nr. 3: Das Problem liegt nicht bei mir!

Wenn mein Kopf die Oberhand gewonnen hat, mir also klar ist, wen ich da gerade vor mir habe und wie meine Gefühle aussehen, kann ich das aktuelle Problem treffend einsortieren. Ist es mein Problem, muss ich mich damit beschäftigen. Möglicherweise aber nicht hier und jetzt und auch nicht gemeinsam.

Ist es hingegen NICHT mein Problem, muss ich mich dann überhaupt damit beschäftigen? Nicht unbedingt, sagt Jörg Berger: „Ich muss nicht jede Kritik annehmen und mir nicht jede Verantwortung aufladen lassen“ (Berger, Die Anti-Erschöpfungsstrategie, Seite 72). Oder wie ich es vor Jahren einmal bei Facebook gelesen habe: „I don’t have to attend every argument I’m invited to.“ Sinngemäß: Ich muss nicht bei jeder Diskussion mit einsteigen, zu der ich eingeladen werde.

In solchen Fällen darf ich meiner Wahrnehmung mehr vertrauen als dem Urteil meines Gegenübers. Ich schütze vor seiner Gedankenwelt. Ich kann sie mir bewusst anhören, aber dann auch stehen lassen und betrachten als etwas, das nicht zu mir gehört.

Gleichsam darf ich mein Gegenüber sehen als einen Menschen mit gewissen Denk- und Reaktionsmustern, die ich bedauere und vor denen ich ihn bewusst in Schutz nehmen kann. Ich schone seine Ressourcen und bin nachsichtig mit ihm, statt auf Konfrontationskurs zu gehen. Ich haue nicht in seine immer gleiche Kerbe und stimme nicht einfach in seine Leier ein.

 

Knoten Nr. 4: Die reflektierte und angemessene Reaktion

Stattdessen kann ich mir überlegen, wie ich seinem Verhalten „ausweichen“, ihn mit einem Fakt oder Argument bremsen oder generell im Redefluss unterbrechen kann. Wer in der Diskussion zum Beispiel selbst kein Ende findet, muss vielleicht manuell unterbrochen werden, damit er wieder zuhören kann. „Schwierige Menschen verhalten sich nur fair, wenn wir ihrer Rücksichtslosigkeit Grenzen setzen und starke Anreize ins Spiel bringen“, formuliert es Jörg Berger (Berger, Die Anti-Erschöpfungsstrategie, Seite 77).

Auch sich Zeit zu verschaffen und auf später zu vertagen, sodass man die Dinge in Ruhe angehen kann, ist hilfreich. Nicht immer ist die kolportiere Eile so dringend, wie sie kurzatmig vorgetragen wird. Eine andere Möglichkeit ist, sich einen Rat bei jemand anderem einzuholen und mir Verbündete zu suchen. Hier muss klar sein, dass nicht die Mehrheit entscheidet, aber der Blick von außen kann helfen, die Situation besser einzuordnen.

Eine letzte Konsequenz kann auch sein: Loslassen, was ich nicht ändern kann. Zurück zu mir und meiner eigenen Agenda. Wohlgemerkt: Das ist nicht die eingangs beschriebene Fluchtreaktion in kopfloser, weil unreflektierter Panik, sondern eine klar getroffene Entscheidung, den anderen machen zu lassen.

Am Ende steht dann eine gute Erfahrung: „Das Beste aus seiner schlimmen Situation zu machen, kann sich ausgesprochen kraftvoll anfühlen“ (Berger, Die Anti-Erschöpfungsstrategie, Seite 74). Ich entscheide mich gegen das wüste Handgemenge, bleibe bei mir, achte auf körperliche und emotionale Signale und wähle eine gute, ausgewogene, kraftvolle Reaktion, die mir und der Faktenlage entspricht.

 

Fazit: Es lohnt sich, das Knoten-Seil nicht wegzuwerfen!

Das klingt erstmal anstrengend; ich gebe es zu. Wäre es da nicht doch leichter, das Seil mit seinen Knoten hinzuschmeißen und sich nicht weiter mit unangenehmen Menschen zu beschäftigen?

Das Bild vom Seil mit seinen Knoten ist bewusst gewählt. Es steht für die Verbindung zum Gegenüber, für meine Beziehung, die gerade einen Spannungstest erlebt. Jeder von uns hält eine ganze Reihe solcher Seile in seiner Hand, pflegt seine Kontakte oder lässt sie schleifen.

Weil ich Mensch bin und Menschen um mich herum brauche, ist es wichtig, kniffelige Beziehungen nicht einfach nur abzublocken, sondern an ihnen zu arbeiten. Der Mensch ist ein Beziehungstier. Und „das Bedürfnis nach Bindung ist die stärkste menschliche Motivation“ (Berger, Die Anti-Erschöpfungsstrategie, Seite 64).

Ja, Beziehungen bieten ein großes Potenzial für Erschöpfung, aber auch davon zu genesen. Klären sich ungute Bindungen, gewinne ich Freiheit und Stärke zurück und kann die guten Beziehungen in meinem Leben umso mehr genießen.
 

 Kai Rinsland

Kai Rinsland

  |  Redakteur und Programmplaner

Der gebürtige Gießener schreibt für ERF.de und koordiniert die Produktion der ERF Antenne. Daneben ist er aktuell die Stationvoice von ERF Plus. Er lebt mit seiner Frau in einem Holzhaus, geht wandern, klettern und e-biken. Er isst gerne Fisch und genießt kräftigen Espresso.

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