Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland garantiert uns eine unantastbare, staatlich geschützte menschliche Würde und die freie Entfaltung der Persönlichkeit. Dazu gehört auch die Freiheit der Glaubensgestaltung und Weltanschauung. Das alles gilt, sofern andere dabei nicht verletzt werden. Und doch erleben wir uns immer wieder eingeschränkt durch Regeln und Gesetze.
Als Angestellte einer (christlichen) Organisation unterliege ich zum Beispiel einem Zeiterfassungssystem, mit dem ich meine Arbeitszeiten und die Tätigkeiten im Einzelnen nachweisen muss. Das ist sowohl eine staatliche Auflage für Arbeitgeber als auch die Erwartung meiner Vorgesetzen. Das ist durchaus sinnvoll, weil ich sehr selbstständig im Homeoffice arbeite und bei Seminaren bin; es bedeutet allerdings auch einen Mehraufwand.
Es braucht ein Gleichgewicht
Freiheit und Regeln scheinen wie Antagonisten. Dennoch brauchen sie sich gegenseitig, um eine Waage herzustellen. Ein rein freiheitsorientiertes und sich selbstverwirklichendes Leben kann in Anarchie führen, in der die bisher geltenden Strukturen des Zusammenlebens aufgehoben werden, bis hin zur Auflösung aller (staatlichen) Organisiertheit der Gesellschaft. Das Gegenteil davon wäre ein stark von außen geregeltes Leben, das in die Unterdrückung durch übermäßige Machtausübung führen würde.
Beide Richtungen sind extrem und damit schwierig. Daher brauchen wir einen guten und ausgewogenen Umgang mit Autorität und Regelungen, welche die Einschränkung persönlicher Freiheit sinnvoll erscheinen lassen. Wie kann uns das gelingen und wie finden wir einen gelassenen Umgang mit den unvermeidlichen und auch notwendigen Autoritäten, die unser Leben bestimmen?
Was bedeutet Autorität?
Zunächst möchte ich dazu den Begriff „Autorität“ etwas näher beleuchten. Erst eine Hierarchie macht es möglich, dass eine Person oder eine Instanz eine übergeordnete Autorität sein kann. Sie ist untermauert durch eine legitime soziale Stellung, die Macht über Menschen ermöglicht.
Dazu gehört auch die Fähigkeit, Einfluss auf andere zu nehmen und ihr Verhalten lenken zu können. Eine Autoritätsperson kann ihren eigenen Willen durchsetzen – manchmal sogar gegen den Willen der anderen, aber doch ohne Zwang.
Wenn jemand Autorität hat, dann geht es nicht in erster Linie darum, Macht über andere Menschen zu haben, sondern um einen verantwortungsvollen Umgang damit. Daher werden Menschen, die mit gutem Beispiel vorangehen und gewissenhaft mit ihrem Amt und anderen Menschen umgehen, häufig als gute Autorität akzeptiert. Oft zeigen sie eine hohe Arbeitsmoral, Professionalität und Hingabe.
Drei Autoritätstypen
Begründet wird Autorität oft mit einem Naturrecht, einem göttlichen Gebot, einer Tradition oder weil man etwas ins Leben gerufen hat. Der Soziologe Max Weber teilt Herrschaft in drei Typen ein: den rational-legalen, den traditionalen, die beide in ihr Amt eingesetzt werden, und den charismatischen.
Der rational-legale Typ wird aufgrund eines bestimmten Verfahrens gewählt und ist damit eine legalisierte Macht, wie zum Beispiel ein gewähltes Staatsoberhaupt.
Traditionale Typen berufen sich auf die Tradition, durch die sie in ein Amt eingesetzt oder hineingeboren werden, wie es beispielsweise die Thronfolge von Königshäusern regelt oder dass Firmen oder Bauernhöfe automatisch dem ältesten Sohn oder der ältesten Tochter vererbt wurden oder werden.
Charismatische Typen hingegen schaffen sich selbst ein Amt und setzen dabei auf ihre intensive Hingabe und Vorbildlichkeit und die durch sie geschaffenen Ordnungen. Im christlichen Kontext sind vor allem der rational-legale (gewählte Leitung) und der charismatische Typus (Gründungspersönlichkeiten) vertreten.
In jedem Fall braucht die Ausübung von Macht Regeln, um Missbrauch vorzubeugen.
Missverstandene Unterordnung
Wenn man dieser Beschreibung folgt, dann ist es erst einmal kein Problem, eine Autoritätsperson zu sein oder dieser zu folgen. Dennoch verspüren viele Menschen inneren Widerstand beim Begriff „Autorität“ und versuchen ihn zu relativieren durch Zusätze oder leichte Wortveränderungen wie zum Beispiel „autoritativ“, „neue Autorität“, „systemische Autorität“, „Autorität durch Beziehung“ oder „natürliche Führungsautorität“.
Menschen sind nur dann Autoritäten, wenn sich ihnen jemand unterordnet. Wer sich unterordnet, also gehorsam ist, richtet sich auf den Willen einer Autorität aus und akzeptiert sie als Entscheidungsträger.
Wenn Menschen sich gut unterordnen können, werden sie schnell geringschätzig abgewertet als Leute, die kein Selbstbewusstsein haben und sich leichtfertig erniedrigen. Aber stimmt das? Es ist nachvollziehbar, dass in dieser Lesart auch die Begriffe „Unterordnung“ und „Gehorsam“ bei vielen ein massives Störgefühl hervorrufen.
Doch Gehorsam ist erst einmal „nur“ die praktische Unterordnung unter eine Autorität. Dies soll aber nie willenlos, also in blindem Gehorsam geschehen! In der Geschichte (Deutschlands und weltweit) gibt es genügend schreckliche Taten, die mit blindem Gehorsam, sogenannten „Kadavergehorsam“, legitimiert wurden. Die Menschen dachten dann und argumentierten auch so, dass sie nur Befehle ausgeführt und damit frei von Schuld und Verantwortung seien.
Autorität und Unterordnung im Wechselspiel
Wir halten fest: Eine gut aufgestellte menschliche Gemeinschaft braucht verantwortungsvolle Autoritäten, die auf selbständig denkende und ebenso verantwortungsvolle Menschen treffen, die bereit sind, sich unterzuordnen. Das gilt für alle Lebensräume: in der Familie, in der Gesellschaft, im Beruf und im Ehrenamt wie zum Beispiel in der Kirche.
Jeder von uns findet sich in unterschiedlichen Rollen wieder. Als Angestellte werde ich also die differenzierte Zeiterfassung erstellen – ob mir das passt oder nicht. Gegen den Beschluss der Personalleitung könnte ich mich wehren, aber das würde unverhältnismäßig viel Energie auf beiden Seiten kosten und vielleicht letztlich zum Verlust meiner Arbeitsstelle führen.
Gleichzeitig habe ich als Seminarleiterin immer wieder Autorität und kann selbstbestimmt über die inhaltlichen Lehreinheiten, die Pausenregelung und meine didaktischen Maßnahmen entscheiden. In anderen Lebensbereichen, wie zum Beispiel in der Ehe, gehen mein Mann und ich egalitär, also gleichberechtigt miteinander um. Das ganze Leben ist also geprägt von unterschiedlichen persönlichen Freiheiten, von Autorität und Unterordnung.
Ohne Gehorsam funktioniert keine Organisation. Wer sich freiwillig einer Organisation anschließt, erlaubt der Leitung, in einem angemessenen Rahmen Macht über ihn oder sie zu haben, und akzeptiert die geltenden Regeln und Ordnungen. Daher ist Gehorsam und Unterordnung im Allgemeinen ein freiwilliger Akt.
Autoritätsmissbrauch nicht akzeptieren
Anders ist es, wenn jemand seine oder ihre Autorität missbraucht. Das müssen, sollten und dürfen wir eigentlich nicht hinnehmen. Sogar im deutschen Soldatengesetz ist geregelt, wie sich Untergebene dann verhalten sollen. Das Gesetz erlaubt eine Befehlsverweigerung, wenn der Befehl unsinnig ist oder nichts mit dem Beruf zu tun hat.
Noch weitergehend ist die gesetzliche Grundlage, wenn eine untergebene Person einen Befehl bekommt, der anderen Gesetzen widerspricht, unmoralisch oder illegal ist. Dann darf die untergebene Person diesen Befehl nicht befolgen! Dabei gilt es auch, solche zu schützen, die sich selbst nicht schützen können!
Es bleibt also auch nach dieser Fragestellung dabei: Für ein gelingendes Zusammenleben, in dem die persönlichen Freiheiten eines jeden Einzelnen erhalten und geschützt werden, brauchen wir verantwortungsvolle Autoritäten und verantwortungsbewusste, selbst denkende Menschen, die bereit sind, sich unterzuordnen. Die spannenden Antagonisten Autorität und Unterordnung gehören also unbedingt zusammen.
Dr. Martina Kessler ist Studienleiterin bei der Stiftung Therapeutische Seelsorge und in der Leitung der Akademie christlicher Führungskräfte. Sie ist Leiterin des Arbeitskreises Religiöser Machtmissbrauch der EAD, Autorin mehrerer Bücher und Mutter vier erwachsener Kinder mit einer wachsenden Enkelschar. www.martinakessler.de
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