Warst du schon einmal in einem Bordell? Viele Menschen und besonders viele Christen beantworten diese Frage mit Nein. Wilbirg Rossrucker hat sich mitten ins Stuttgarter Rotlichtmilieu getraut. Dort arbeitet sie im HoffnungsHaus, einem christlichen Begegnungscafé für Prostituierte. Frauen aus dem Rotlichtmilieu finden hier eine sichere Anlaufstelle und Gemeinschaft.
Durch ihre Arbeit ist Wilbirg Rossrucker tagtäglich mit den Schattenseiten von Prostitution konfrontiert. Im Interview erzählt sie, was sie zu ihrer Arbeit unter Sexarbeiterinnen motiviert und wie sie den Frauen zu helfen versucht.
ERF: In dem Begegnungscafé, wo du arbeitest, triffst du regelmäßig auf Prostituierte. Wie sieht der Alltag dieser Frauen aus?
Wilbirg Rossrucker: Zuerst muss man verstehen, dass die Frauen, die zu uns kommen, ihren Job nicht freiwillig machen. Sie können nur zu uns ins Café kommen, wenn sie es dürfen. Das heißt: Einige dürfen gar nicht raus. Und ihr Alltag sieht in etwa so aus: 16 bis 18 Stunden arbeiten, ohne Sonn- und Feiertag, ohne Urlaub. Diese Frauen ertragen also 15 bis 30 Freier pro Tag. Und jeder Geschlechtsverkehr, den sie haben, der nicht freiwillig ist, ist letztlich eine Vergewaltigung. Sie erleben also ein ständig wiederkehrendes Trauma.
Wenn sie dann zu uns kommen, sind diese Frauen meist schwerst traumatisiert. Über 80 Prozent von ihnen sind alkohol- oder drogenabhängig, weil sie es anders nicht aushalten könnten. Ihr Alltag besteht aus körperlichen und seelischen Verletzungen und einer gewissen Hoffnungslosigkeit.
Dennoch glauben sie oft: Es wird besser werden. Irgendwann wird es anders. Sie strahlen durch die Dissoziation zu dem Geschehen teilweise immer noch Hoffnung aus, sind manchmal lustig, manchmal total am Ende. Da begegnet uns die ganze Brandbreite.
ERF: Jetzt hast du eben den Begriff Arbeit benutzt. Es gibt viele Leute, die bezeichnen Prostitution als Sexarbeit, als wäre es ein Job wie jeder andere. Würdest du an dieser Stelle auch von Arbeit sprechen?
Wilbirg Rossrucker: In Deutschland zählt Prostitution als ganz normaler Beruf. Das kann ich nicht verstehen, denn es gibt meines Erachtens keinen anderen Beruf, der so gefährlich ist. Zumindest für die Frauen, denen wir tagtäglich begegnen.
Ich verstehe daher nicht, warum Prostitution als normaler Beruf hingestellt wird. Denn es ist ein Beruf, in dem Menschen an vielen Stellen missbraucht und ihnen körperliche Schmerzen zugefügt werden.
In jedem anderen Beruf darf nicht zu viel Lautstärke sein, zu viel Staub sein und so weiter. Aber hier fragt oft kein Mensch danach, unter welchen Bedingungen die Frauen arbeiten müssen. Auch die Arbeitsstunden kontrolliert keiner, denn die Frauen würden das ja freiwillig machen. So ist das Denken in den Köpfen.
Moderne Sklaverei mitten in Deutschland
ERF: Aber wenn es nicht freiwillig geschieht, wie geraten Frauen dann in Prostitution?
Wilbirg Rossrucker: Dies passiert über verschiedene Wege. Über 80 Prozent der Prostituierten in Deutschland kommen aus Osteuropa. Sie sagen sich: „In meinem Land gibt es keinen Job, von dem ich leben kann. In Deutschland kann ich gutes Geld machen.“ Dabei denken sie meist nicht an Prostitution.
Manchen Frauen wird ein vermeintlich guter Job versprochen, aber wenn sie in Deutschland ankommen, heißt es: „Tut mir leid, der Job ist schon vergeben, aber ich hätte andere Arbeit für dich.“ Andere werden schon auf der Fahrt nach Deutschland vergewaltigt oder unter Drogen gesetzt. Die kommen dann bereits gebrochen hier an.
Deutsche Frauen, die in die Prostitution geraten, sind hingegen eher drogensüchtig oder Sozialhilfeempfängerinnen, die Geld brauchen. Aber die meisten kommen aus Osteuropa und haben trotz allem dann immer noch die Hoffnung auf ein besseres Leben. Sie haben auch meist Kinder und müssen diese versorgen.
ERF: Kannst du das am konkreten Schicksal einer Frau festmachen?
Wilbirg Rossrucker: Eine Frau, die ich kenne, war schon mit 14 Jahren in einer Beziehung und war mit 20 Mutter von vier Kindern. Ihr Partner war auch ihr Zuhälter und hat sich auf ihre Kosten ein Haus gebaut. Dann hat er sie aber nicht geheiratet, sondern sich eine andere Frau genommen.
Sie kam nach Deutschland in der Hoffnung, sich mit ihm zusammen eine Zukunft aufzubauen, und Geld zu verdienen. Irgendwann wollte sie aber aussteigen und wir haben sie rausgeholt, doch er hat sie wieder erwischt, sie grün und blau geschlagen und ihr die Haare ausgerissen.
Sie wurde dann in ein anderes Bordell verkauft, kam nach einem dreiviertel Jahr zurück nach Stuttgart und sagt jetzt: „Ich muss aufhören, ich kann nicht mehr.“ Wir als Verein hätten ihr gerne dabei geholfen, auch dabei, ihre Kinder zu schützen, aber sie hat zu niemandem mehr Vertrauen.
Sie kämpft sich irgendwie durch, um ihre Kinder zu versorgen. Einem Kind wurden sogar mit heißem Wasser die Füße verbrüht. Wir vermuten, das war eine Maßnahme, damit sie wieder macht, was der Zuhälter will.
ERF: Diese Frauen werden also unter Druck gesetzt und können nicht einfach aussteigen. Das hört sich fast nach Sklaverei an.
Wilbirg Rossrucker: Es ist Sklaverei. Wir kennen Mädchen in Bordellen, die wissen nicht einmal, in welcher Stadt sie sind. Die dürfen auch nicht raus. Sie dürfen nicht einmal zu uns in der gleichen Straße ins Café kommen.
Es braucht andere Gesetze
ERF: Nun gibt es ja Männer, die diese Dienstleistungen in Anspruch nehmen. Sonst wäre es kein lohnendes Geschäft. Was denkst du: Reden die sich das schön oder verschließen sie die Augen davor? Oder wissen sie nicht, was da abgeht?
Wilbirg Rossrucker: Ich glaube, sie wollen es nicht wissen. Es ist nach jetziger Gesetzeslage so geregelt, dass Männer sich strafbar machen, wenn sie merken, die Frau macht es nicht freiwillig, und trotzdem diese Dienstleistung in Anspruch nehmen.
Nun kam aber bei einer Studie unter Freiern heraus, dass über 80 Prozent sagten: „Mir war bewusst, dass die das nicht freiwillig macht, aber ich habe ja bezahlt.“ Daran sieht man: Die Freier wissen sehr viel. Aber es ist für sie eben eine Dienstleistung. Darum muss mehr Aufklärung passieren, am besten wäre aber ein neues Gesetz.
ERF: Wie könnte es denn besser werden?
Wilbirg Rossrucker: Wir vom HoffnungsHaus und dem Zusammenschluss „Gemeinsam gegen Menschenhandel“ sind für das „nordische“ oder auch „schwedische Modell“, bei dem Prostitution verboten wird, aber nicht die Prostituierten bestraft werden, sondern die Freier, wenn diese Sex kaufen. Und zwar nicht nur mit einer Geldstrafe, sondern mit einer Anzeige.
Vor allem muss wieder in unsere Köpfe kommen, dass es eine Straftat ist, Frauen sexuell auszubeuten.
Denn ich denke, viele Freier würden für sich schon behaupten: „Kriminell möchte ich nicht werden.“
Damit sich für die Frauen wirklich etwas verbessert, braucht es nicht nur ein neues Gesetz, sondern auch Maßnahmen, um ihnen leichter eine Wohnung und einen anderen Job zu verschaffen, denn es ist nicht damit getan zu sagen: „Sie steht nicht mehr auf der Straße.“ Insgesamt braucht es hier ganz viel Präventionsarbeit und Hilfsangebote.
„Wie kann Gott eine wie mich lieben?“
ERF: Du leitest mit dem HoffnungsHaus ein Begegnungscafé für diese Frauen. Was bietet ihr ihnen dort an? Was könnt ihr für Prostituierte tun?
Wilbirg Rossrucker: Wir sind ein Wohnzimmer-Café und manche der Prostituierten sagen wirklich: „Das ist mein Wohnzimmer.“ Wir bieten Kaffee, Kuchen, Obst und Süßes an. Dann haben wir noch verschiedene Orte und Angebote. Zum Beispiel einen Ruheraum. Die Frauen dürfen sich bei uns ausruhen, manche schlafen auch bei uns.
Wir haben eine dabei, die sagt: „Ich kann gar nicht mehr schlafen.“ Sie ist schwer heroinabhängig und spürt Mächte, die auf sie einschlagen. Aber wenn sie bei uns ist, kann sie ruhig schlafen. Ich habe schon einmal zu ihr gesagt: „Merkst du das? Hier ist einfach ein anderer Geist.“ Aber auch andere sagen: „Das ist der einzige Ort, wo ich ohne Angst schlafen kann.“
Dann bieten wir den Frauen natürlich auch den Ausstieg an. Den begleiten wir zwar nicht selbst, aber wir sind gut vernetzt mit anderen Gruppen, die das machen.
Und für mich das Wichtigste überhaupt, wir vermitteln diesen Frauen: „Du bist wertvoll. Du bist als Ebenbild Gottes geschaffen und hast Würde.“
Deswegen werden sie herzlich empfangen, sobald sie durch unsere Tür kommen. Sie müssen spüren, dass wir uns freuen, wenn sie kommen. Es stehen Blümlein auf dem Tisch und das Essen muss gut sein. Es wird auch nicht nur auf den Teller geklatscht, sondern schön angerichtet.
Wir haben auch eine Physiotherapeutin, die die Frauen regelmäßig massiert. Und wir machen ein bisschen Kosmetik wie Nägel lackieren. Und ganz entscheidend ist: Viel zuhören. Zuhören und wieder zuhören. Wir machen einfach Beziehungspflege mit den Frauen und stabilisieren sie für den Alltag. Wir haben dreimal die Woche geöffnet und veranstalten einmal im Monat einen Gottesdienst. Da dürfen dann auch Männer dazukommen, sonst haben Männer bei uns keinen Zutritt.
ERF: Können Frauen, die so schlimme Dinge erlebt haben, noch an den gütigen Gott glauben, von dem ihr ihnen erzählt?
Wilbirg Rossrucker: Ja, aber sie empfinden sich selbst als schlecht und wertlos. Sie sagen: „Mich wird Gott nicht lieben.“
Sie glauben zwar daran, dass es Gott gibt und dass er gut ist, aber das Problem ist, dass sie nicht glauben können, dass er sie sieht und kennt und liebt.
Wir hatten einmal eine ehemalige Prostituierte aus Amsterdam da, die zum Glauben gekommen ist. Und dann sagte ein Mädchen: „Heute habe ich zum ersten Mal gehört, dass Jesus mich liebt.“ Ich schaute sie ganz verwundert an und sie sagte: „Ja, du redest zwar immer davon, aber wenn er die liebt, die das auch gemacht hat, was ich mache, dann kann ich glauben, dass er auch mich liebt.“
Ausstieg schwierig, aber nicht unmöglich
ERF: Wenn ihr den Frauen von Gottes Liebe erzählt und ihnen versucht, ein Stück weit eine andere Welt zu eröffnen, wie reagieren die Zuhälter darauf?
Wilbirg Rossrucker: Mit denen haben wir bis jetzt keine Probleme gehabt. Es könnte dadurch auch der Eindruck entstehen: Wir stabilisieren die Prostituierten für sie, damit sie dann wieder besser arbeiten können. Dass wir das System der Ausbeutung also unterstützen. Aber uns ist wichtig, den Frauen zu helfen.
ERF: Du sagst, ihr wollt Frauen auch beim Ausstieg unterstützen. Wie läuft das denn ab und wie viele Frauen kennst du, die den Ausstieg geschafft haben?
Wilbirg Rossruckern: Ich kenne mehrere, aber der Ausstieg ist sehr, sehr schwierig. Man sagt, es braucht drei bis fünf Jahre oder sieben Versuche, bis sie es wirklich schaffen. Und fast alle Frauen, die es geschafft haben, mussten weg, also in eine andere Stadt ziehen. Sie müssen raus aus diesem System und damit raus aus ihrem gesamten Umfeld und in Schutzwohnungen unterkommen, damit sie nicht gefunden werden können. Telefon aus, alles aus. Das ist schwierig, aber es kann gelingen.
ERF: Kannst du uns ein Beispiel nennen von einer Frau, die den Ausstieg geschafft hat?
Wilbirg Rossrucker: An eine Frau erinnere ich mich. Sie war 17 Jahre hier in Stuttgart und ist dann zurück in ihre Heimat gegangen. Und eine andere lebte zunächst einige Zeit in einem Schutzraum und ist jetzt wieder mit ihrer Tochter vereint. Sie hat ein ganz neues Leben begonnen, arbeitet in einem anderen Beruf und lebt woanders. Keiner darf wissen, dass sie mal Prostituierte war, denn dann würde sie vermutlich wieder schlecht behandelt werden.
Kleine Hoffnungsmomente geben Kraft zum Weitermachen
ERF: Wie verarbeitest du persönlich, was dir in deiner Arbeit begegnet?
Wilbirg Rossrucker: Man braucht schon eine Berufung dazu und eine gewisse Stabilität im eigenen Leben. Uns hilft im Team, dass wir miteinander viel darüber reden, sozusagen Intervision leisten. Und wir bekommen auch Supervision von außen.
Ich sage mal so: Das Schicksal der Frauen darf mich nicht so sehr belasten, dass ich nicht mehr schlafen kann, aber es muss mich schon noch treffen.
Wenn mich meine Arbeit irgendwann mal kalt lassen sollte, dann muss ich aufhören.
ERF: Was gibt dir in alldem Hoffnung?
Wilbirg Rossrucker: Mein Glaube ist etwas, ohne den ich das alles nicht tun könnte. Ich habe schon einige wirklich krasse Dinge erlebt. Aber die Gnade Gottes ist es, die mich am Leben erhält. Und wenn ich Veränderung im Leben der Frauen sehe, auch wenn es nur kleine Veränderungen sind.
Zum Beispiel wenn eine Prostituierte plötzlich die andere zum Spazierengehen einlädt. Das hätte es früher nicht gegeben. Oder dass sie Dinge, die sie selbst kostenlos bekommen haben, wie etwa Kleidung, der anderen anbieten und sagen: „Ich habe da was gesehen, das könnte dir passen.“
Das sind für mich so kleine Hoffnungsmomente. Letztes Mal sagte eine: „Ich merke, wenn ich bete, geht es mir viel besser.“ Das sind einfach schöne Momente.
ERF: Schön, dass du so viel Hoffnung ausstrahlst. Vielen Dank für das Interview.
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