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© Clay Banks / unsplash.com

11.05.2021 / Zum Schwerpunktthema Solidarität / Lesezeit: ~ 7 min

Autor/-in: Markus Baum

Die „Zärtlichkeit der Völker“

Sie mag nicht in der Bibel vorkommen und in keinem Katechismus genannt sein. Eine christliche Tugend ist die Solidarität allemal.

 

Die nicaraguanische Schriftstellerin Gioconda Belli hat Solidarität so bezeichnet: Zärtlichkeit der Völker. Klingt großartig, aber geht’s nicht auch eine Nummer kleiner? Schließlich kann jeder Mensch aus unterschiedlichsten Gründen in Bedrängnis geraten – auch ganz ohne eigenes Zutun: Unerwartete Krankheit, ein Unfall, ein Schadensereignis – Hochwasser, Hausbrand, Einbruch – Einkommens- oder Jobverlust. Dann ist es gut, wenn er oder sie von einer solidarischen Gemeinschaft aufgefangen wird.

Das ist keine Idee der Neuzeit, sondern ein steinaltes Prinzip des menschlichen Zusammenlebens. Und das hieß die längste Zeit hindurch nicht Solidarität, sondern einfach Zusammenhalt oder Nachbarschaftshilfe. Die Beweggründe dafür müssen nicht einmal selbstloser Natur sein. Was allen nützt, nützt auch der oder dem Einzelnen.

In der Frühzeit der menschlichen Kulturgeschichte haben die Familienverbände die Rolle der sozialen Absicherung übernommen: Wenn der Ernährer oder die Ernährerin ausfällt, springen die Geschwister ein – oder die Großeltern oder andere Verwandte. Und wenn das Haus abbrennt oder einstürzt, sorgt die Gemeinschaft vorübergehend für ein Notquartier, sammelt für die Verzweifelten, hilft vielleicht sogar beim Wiederaufbau und bei der Grundausstattung.

Nicht aus purer Großherzigkeit, sondern aus der schieren Einsicht: Es könnte auch mir einmal so gehen. Dann wäre ich froh, wenn mir jemand beispringt und wenn ich mich nicht gänzlich allein den übermächtigen Herausforderungen stellen muss.

Der Begriff Solidarität geht auf die Römer zurück. Er ist abgeleitet von lateinisch solidus (= „gediegen, echt, fest“) und hat – wen wundert’s? – nicht etwa mit fröhlicher Unterstützung zu tun, sondern mit dem Römischen Recht. Es geht um die gesamtschuldnerische Haftung in Rechtsgeschäften. Da tritt jemand für meine Schulden ein, steht für mich gerade.

Insofern ist es verständlich, dass der Solidargedanke besonders in der Versicherungswirtschaft eine tragende Rolle spielt: Die Gemeinschaft der Versicherten schultert die Risiken der einzelnen Mitglieder in der Erwartung, dass der Haftungsfall normalerweise nur bei Einzelnen eintreffen wird – nicht gleichzeitig bei Vielen.

It takes two to tango

Die kleinste denkbare Solidargemeinschaft hat exakt zwei Mitglieder und kommt bereits auf der zweiten Seite der Bibel zur Sprache. Allein geht man ein. Deshalb gibt’s die Menschheit in zwei Ausführungen, immer aufeinander bezogen. Männlein, Weiblein. Das ist nicht zufällig so – das war und ist gottgewollt. Vom Schöpfer so eingerichtet. Denn: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei“ (1. Mose 2,18).

Der Wert verbindlicher Zweierschaft steht außer Frage. In so ziemlich allen Kulturen dieser Welt wird das solidarische Zusammenstehen und Für-einander-Einstehen von Mann und Frau gefördert – und im Ernstfall auch gefordert. In manchen Situationen kommen selbst zwei an die Grenze – auch das ist uraltes Menschheitswissen. „Einer mag überwältigt werden, aber zwei können widerstehen, und eine dreifache Schnur reißt nicht leicht entzwei“ (Prediger 4,12).

Diese Weisheit hat sich der Prediger Salomo vor 3.000 Jahren bestimmt nicht selbst ausgedacht, die hat er auch schon vorgefunden. Und das mit den zweien, dreien kann man gern skalieren:

Wenn nicht nur einzelne, sondern ganz viele Beschäftigte einer Firma sich zusammentun und auf Missstände hinweisen, dann können sie womöglich etwas verändern. Im eigenen Interesse und im Interesse anderer, die vielleicht noch unmittelbarer betroffen sind, sich aber nicht zu wehren wissen.

Solidarität kann auch auf größere Entfernung funktionieren. Da, wo viele Verbraucherinnen und Verbraucher sich für faire Produktionsbedingungen und faire Löhne einsetzen in anderen Ländern, können sie etwas bewirken. Sie müssen dann aber auch bereit sein, den Preis dafür zu zahlen. Im konkreten Fall den höheren Preis zum Beispiel für Kaffee, Tee oder Kakaoprodukte oder auch für Oberbekleidung.

Nur sollte jeder und jedem klar sein: Solidarität verpflichtet insgesamt, die Augen offenzuhalten und mit wachen Sinnen durchs Leben zu gehen. Die Solidarität mit den Kaffeebauern in Mittelamerika oder mit den Arbeiterinnen in den Teeplantagen Südasiens sollte auch sensibilisieren für die Situation der Landwirte hierzulande, die zum Teil seit Jahren kaum kostendeckend arbeiten können.

Solidarität ist zunächst keine Frage des Herzens, sondern ein Gebot der Vernunft. Ich kann mich ohne große innere Beteiligung solidarisch fühlen mit den Anliegen bestimmter Berufs- und Interessengruppen und kann diese Solidarität auch zeigen. Kann Unterschriften leisten für Petitionen, kann Ständchen vom Balkon singen für das Pflegepersonal in Krankenhäusern und Altenheimen.

Wenn es mehr als nur symbolhaft sein soll, dann werde ich auch solche Zeichen der Solidarität irgendwann unterfüttern müssen. Ich darf mich dann zum Beispiel nicht beschweren, wenn der Beitrag zur Pflegeversicherung steigt. Denn das war doch mein Anliegen, dass die Arbeit der Leute in Pflegeberufen besser entlohnt und der Personalschlüssel in den Einrichtungen verbessert wird.

In der Hebräischen Bibel, dem Alten Testament, wird an vielen Stellen solidarisches Verhalten gefordert und unsolidarisches Verhalten scharf verurteilt. Und zwar nicht etwa deshalb, weil das füreinander Einstehen und die Auflehnung gegen Unrecht das Höchste, Edelste wäre, was Menschen erreichen können. Vielmehr ist es das Mindeste, was eine funktionierende Gemeinschaft braucht.

Im 5. Buch Mose etwa wird dem Volk Israel klipp und klar gesagt: „Eigentlich sollte es bei dir gar keine Armen geben; denn der HERR wird dich reich segnen in dem Land, das der HERR, dein Gott, dir als Erbbesitz gibt“ (5. Mose 15,4).

Das Volk Israel zu biblischen Zeiten hat aber im Unterschied zu den Nationen heutzutage nicht nur eine Volksgemeinschaft gebildet, sondern auch eine Glaubensgemeinschaft. Und der Gott Israels hat von den Glaubenden mehr verlangt als nur Solidarität untereinander. „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“, heißt es in 3. Mose 19,18. Lieben – nicht nur dem oder der Nächsten großzügig das Nötigste zum Leben gönnen.

Das ist ein hoher Maßstab. Und davon hat Jesus in gut rabbinischer Tradition keinerlei Abstriche gemacht, im Gegenteil: Er hat die Messlatte für seine Anhängerinnen und Anhänger noch eine Stufe höher gelegt. Nicht nur die Freunde, sondern auch die Feinde lieben. Und das nicht, weil ihnen danach ist, sondern weil Gott danach ist. Wie hat es Jesus ausgedrückt:

„Liebt eure Feinde und tut Gutes und leiht, ohne etwas dafür zu erhoffen. So wird euer Lohn groß sein, und ihr werdet Kinder des Höchsten sein; denn er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen“ (Lukas 6,35).

Vom Gott Israels, vom Vater Jesu Christi, den Christen mit „Unser Vater im Himmel“ ansprechen, heißt es: „Er liebt das Recht und hasst das Unrecht“ (Jesaja 61,8). „Er führt die Sache der Elenden und verschafft den Armen Recht“ (Psalm 140,13). „Er hilft den Gebeugten auf“ (Psalm 147,6).

Wo Menschen es an Solidarität vermissen lassen, da trifft das auf Gott ganz gewiss nicht zu. Seine Solidarität mit den Gebeugten und Elenden liegt nicht nur darin, dass er ihnen zu ihrem Recht verhilft, sondern auch darin, dass er die Frevler zur Rechenschaft zieht.

Als solidarischer Mensch soll ich und will ich das Recht achten. Selbst durchsetzen darf und kann ich es nicht. Aber auf die Rechtsträger und Rechtsorgane in unserer Gesellschaft einwirken – das kann ich schon. Auf den unterschiedlichsten Ebenen. Gemeinnützige Vereine wie der Kinderschutzbund oder der Weiße Ring dienen diesem Zweck, ebenso wie Einrichtungen wie Frauenhäuser, die Obdachlosenhilfe oder der Mieterschutzbund. Gut, dass es das alles und noch viel mehr an institutionellen Trägern von Solidarität gibt, aber entscheidend für ein gelingendes Zusammenleben in einer Gesellschaft ist Solidarität in ganz kleiner Münze.

Das Klimpergeld der Solidarität

In Corona-Zeiten hat es sich zwar durchgesetzt, dass man Einkäufe mit Karte bezahlt. Aber das Klimpergeld der Solidarität ist seit dem ersten Lockdown im Frühjahr 2020 vielerorts hörbar geworden: Nachbarn achten aufeinander und fragen nach. Leute in den Wohnanlagen, die sonst kaum mal Anlass hatten, am Leben der Menschen in den Wohnparteien rechts und links, über und unter ihnen Anteil zu nehmen, erkundigen sich, machen Besorgungen, nehmen manche Wege ab.

Vielen fällt auch auf, dass die Pandemie ihnen zwar Einschränkungen beschert hat, dass andere im engeren oder weiteren Bekanntenkreis aber viel härter betroffen sind. Künstlerisch Tätige, kleine Gewerbetreibende, Leute in der Gastronomie.

Solidarität fragt nach und macht erfinderisch und hilft, Scheu und Scham zu überwinden.

Viele halten auch deshalb tapfer durch, weil ihnen die Verpächter von Ladenlokalen bei der Miete im Lockdown entgegengekommen sind, oder weil Kunden Gutscheine auf Leistungen erworben haben, die gegenwärtig gar nicht erbracht werden können – quasi als Vorschuss. Für Konzert- und Theaterkarten, für Musikstücke, die zwar schon komponiert, aber noch gar nicht eingespielt sind. Für das Abendessen zu zweit, wenn die Lokale endlich wieder öffnen dürfen.

Und wo solche Zeichen der Solidarität nicht gehen, da bringt womöglich die Frage „Was kann ich Ihnen, was kann ich Dir Gutes tun?“ etwas in Bewegung. Wir können einander signalisieren: Wir brauchen einander. Jede und jeder ist systemrelevant. Wir werden allesamt nicht ungeschoren aus dieser herausfordernden Zeit herauskommen, aber wir können darauf achten, dass niemand in unserem Gesichtskreis gänzlich hilflos auf der Strecke bleibt.

Solidarisch miteinander umgehen, das ist eine Frage der Selbstachtung. Und auch wenn Solidarität ausdrücklich in keinem Katechismus auftaucht, dafür umso häufiger in der marxistischen Gesellschaftstheorie und in Dokumenten des Klassenkampfs, ist sie zweifellos eine christliche Tugend. Sie ist vielleicht nur die kleine Schwester der Nächstenliebe, aber was heißt nur: Sie kann viel Leid lindern, hilft aufbauen und macht das Zusammenleben erträglich. Und jede und jeder kann solidarisch sein. Sich in Nächstenliebe üben ist ungleich anspruchsvoller. Christen sind zu beidem herausgefordert.


Markus Baum, Programmreferent bei ERF Plus, seit 1982 bei ERF Medien. Leidenschaftlicher Radiomacher und Liebhaber der deutschen Sprache.

 Markus Baum

Markus Baum

  |  Redakteur

Exilschwabe, seit 1982 in Diensten des ERF. Leidenschaftlicher Radiomacher, Liebhaber der deutschen Sprache und Kenner der christlichen Musiklandschaft. Übersetzt Bücher ins Deutsche und schreibt gelegentlich selber welche. Singt gern mit Menschen. Verheiratet, drei erwachsene Kinder.

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Kommentare (4)

Jörg /

@Redaktion
Ich entschuldige mich, ich war unglaubwürdigen Quellen aufgesessen, nämlich Wikiquote und Wikipedia. Beides definitiv genauso unglaubwürdig wie Faktenchecker und ÖR. Dass der Massenmörder mehr

Die Redaktion /

@Jörg
Lieber Jörg, wenn Du den Artikel korrekt gelesen hättest, wäre Dir aufgefallen, dass wir die nicaraguanische Autorin Gioconda Belli zitieren. Möglich, dass Che Guevara sich ihre Aussage zu mehr

Jörg /

Dass ein Zitat von einem Massenmörder zum Titel eines ERF-Artikel gewählt wird, rundet das Bild eines sich vom Geiste Horst Marquardts immer weiter entfernenden Senders ab.

Urö /

Danke Herr Baum für diese Zeilen.
Wir hatten in dieser Zeit viele Zeichen der Solidarität. Sie haben recht - wir können es nicht bei den Zeichen lassen!
Wir müssen auch etwas tun, höhere Preise mehr

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