13.02.2022 / Interview
Glaube in der Postmoderne
Wie säkularisierte Menschen neugierig auf den Glauben werden können.
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Christliche Werte und Glaubensinhalte hatten lange Zeit einen prägenden Einfluss in Geschichte, Gesellschaft und Politik Deutschlands. Dieser Einfluss ist in den letzten Jahrzehnten rapide gesunken und der christliche Glaube spielt für immer weniger Menschen eine Rolle. Wie können Menschen in dieser säkularisierten Gesellschaft wieder neu neugierig auf Glauben und Kirche werden?
Dr. Andreas Loos, Dozent für Systematische Theologie am Theologisches Seminar St. Chrischona, sucht Antworten auf diese Fragen. Dieses Interview ist ein gekürzter Ausschnitt aus der Sendung „Das Gespräch - Glaube zwischen Zeitgeist und Heiligem Geist“.
ERF: Wie nimmt die spätmoderne, westliche Gesellschaft Kirche und Glaube eigentlich wahr?
Dr. Andreas Loos: Meinem Eindruck nach wird Kirche als eine Institution wahrgenommen, die den Menschen lange vorschreiben wollte, wie sie sich zu fühlen, was sie zu denken, zu glauben und zu wollen haben. Institutionen an sich stehen zurzeit nicht besonders hoch im Kurs. Kirche wird vermutlich auch wahrgenommen als eine Institution, die nicht hält, was sie verspricht.
Mir setzen die Missbrauchsskandale in unseren Kirchen nachhaltig zu. Wie kann es sein, dass wir, die wir über Jahrzehnte und Jahrhunderte moralische und auch sexualethische Maßstäbe so hochgehalten haben, an dieser Stelle so gescheitert sind?
Andererseits ist die spätmoderne Gesellschaft auch wieder neugierig im Blick auf die Kirche und hat konkrete Erwartungen an sie. Die Menschen wollen von uns gar nicht, dass wir zeitgeistkonform oder gesellschaftskonform auftreten. Sie erwarten von uns ein klares Profil, ein Evangelium, das den Ist-Zustand der Gesellschaft auch stört. Die Menschen wollen von den Christen Dinge hören und sehen, die sie in ihrem eigenen Leben vermissen.
Ich glaube, dass sich ganz viele Menschen zutiefst nach dem Glauben sehnen, auch nach dem christlichen Glauben, wie er in den Kirchen gelebt wird und gelebt worden ist, und sich danach ausstrecken. Allerdings wissen sie häufig vielleicht gar nicht, wie sie ein Teil dieser Kirche werden oder die Antworten des Glaubens entdecken können.
ERF: Wie können Christen eine Brücke schlagen, zwischen der Gemeinde und den Menschen, die suchend sind, aber vielleicht gar nicht genau wissen, nach was sie suchen?
Dr. Andreas Loos: Es beginnt damit, dass wir diese Brücke wirklich bauen. Wir können es uns als Gläubige und als Kirchen oder Gemeinschaften nicht mehr leisten zu sagen: „Wir haben den Heiligen Geist, wir haben die Bibel, wir wissen, wie Glauben geht, und wir stehen allen anderen Menschen normativ gegenüber.“ Stattdessen müssen auch gläubige Menschen zugeben, dass sie mit allen anderen Menschen auf einer Ebene stehen. Wer uns gegenübersteht, das ist Gott, ist der Heilige Geist, ist Gottes Wort.
Gottes Wort steht uns allen als Richtschnur und als Autorität gegenüber. Das bedeutet für mich: Christen sollten dazu stehen, dass sie nicht die Schönsten und Besten sind, nicht die Fittesten nicht die Gesündesten. Theologisch gesprochen: Wir Menschen sind Sünder und scheitern. Wir sind schwach, wir brauchen Vergebung und Barmherzigkeit. Wenn andersgläubige Menschen das von uns wieder spüren, wäre damit die erste Brücke gebaut.
Es täte den Menschen unserer Gesellschaft zum Beispiel gut, wenn sie spüren könnten, dass die Christen nicht neidisch sind, wenn irgendwo etwas Schönes passiert. Ich denke da beispielsweise an die Menschenrechte, die wir ja gerade in diesen Corona Zeiten wieder so hochhalten. Natürlich hat einerseits der christliche Glaube ganz stark dazu beigetragen, dass es zur Formulierung dieser Menschenrechte kommen konnte, weil Christen etwas anzufangen wissen mit der Würde des Menschen.
Aber Christen dürfen doch auch zugeben, dass die Aufklärung und die Moderne an manchen Stellen manche Menschenrechte den Kirchen regelrecht abringen mussten. Warum haben viele Christen Mühe damit, das anzuerkennen? Die Formulierung der Menschenrechte war in meinen Augen eine heilige Allianz zwischen Heiligem Geist und Zeitgeist. Sie hat dazu geführt, dass etwas Wunderschönes und Segensreiches entstand. Wenn die Menschen unserer Zeit spüren, dass Christen nicht neidisch sind, sondern sich dort mitfreuen, wo das Leben gelingt – dann haben wir schon sehr viel gewonnen.
Sehnsucht nach Heilung und Orientierung
ERF: Was bietet der christliche Glaube einer spätmodernen Gesellschaft, die sich scheinbar alle Wünsche selbst erfüllen kann?
Dr. Andreas Loos: Eine kollektive Sehnsucht der Menschen unserer Zeit und Gesellschaft ist zum Beispiel die nach Heilung. Die Menschen sehnen sich außerdem nach Inspiration, wollen kreativ und selbstwirksam sein. Viele empfinden auch eine Sehnsucht nach Orientierung, die ein Mensch sich selbst nicht geben kann. Viele Serien und viele Filme auf Netflix hauchen einem eine weitere Sehnsucht der Menschen förmlich entgegen: Ich möchte wirklich erkannt werden, wie ich bin, damit ich mich selber erkennen kann. Ich möchte begeistert sein von mir selbst, um in dieser Begeisterung auch andere für das Leben zu begeistern.
Hätten Christen da nicht Einiges zu bieten als Gemeinschaft von geisterfüllten und begeisterten Menschen, die erkannt und erfahren haben, dass man sich bestimmte Worte eben nicht selber sagen kann? Dass man bestimmte Dinge, die zum Glück und zum Gelingen des Lebens gehören, nicht selbst machen kann? Als Menschen, die wissen, was Unverfügbarkeit bedeutet?
Christen sind Menschen, die sich damit angefreundet haben, dass man das Leben nicht machen, nicht kontrollieren kann. Sie wissen, dass das Leben nicht verfügbar ist, und leben stattdessen aus dem Zugang zu dem einen Heiligen, von dem die guten Gaben kommen müssen, die wir alle nötig haben.
ERF: Trotzdem bleibt der Glaube immer auch etwas Sperriges in der Gesellschaft, denken wir beispielsweise an ethische Fragen wie das Thema Sterbehilfe. Da werden Christen oft als Bremser oder die ewigen Bedenkenträger wahrgenommen. Wie können Christen mit dieser Rolle umgehen?
Dr. Andreas Loos: Das ist ja interessanterweise nicht nur ein Problem zwischen Ungläubigen und Gläubigen oder zwischen Gesellschaft und Kirche. In der Corona-Krise wirft man den Wissenschaftlern vor, dass sie viel zu bedächtig seien, dass sie die Neinsager sind, die verhindern, dass das Leben in gewohnte Bahnen zurückkehrt.
Daraus kann die Kirche sehr viel lernen. Ich glaube, wenn die Menschen spüren, dass hinter der Kritik der Kirche am Zeitgeist und der Gegenwartskultur eine glühende Liebe steckt, dann lassen sich auch die Menschen, die nicht an Christus glauben, diese Zumutungen des christlichen Glaubens gefallen.
Ich gebe ein Beispiel aus dem sexualethischen Bereich: Natürlich ist das für Menschen heute eine Zumutung, wenn man ihnen versucht zu zeigen, dass die Sexualität eine Gabe Gottes ist, die in eine verbindliche Liebesbeziehung zwischen Mann und Frau gehört.
Wenn man auf diesem Gebiet aber nicht mit Druck operiert, sondern einen Sog erzeugt, sieht die ganze Sache anders aus. Wie wäre es denn, wenn die Kirche hier ein neues Bewusstsein dafür schafft, dass ein Mensch heilig ist? Dass es ein inneres Heiligtum gibt, eine geheimnisvolle Mitte jeder Person, in die nicht einmal Gott unaufgefordert eintritt.
Wieso gestatten wir es dann anderen Menschen einfach, in unsere Seele oder unseren Intimbereich einzudringen? Sexualität soll Maß halten, sie soll ganzheitlich geschehen. Das sind biblische Aussagen, die die Sexualforschung heute mit ihren Aussagen stützt. Wenn wir diese Botschaft liebevoll kommunizieren, entsteht ein Sog. In Menschen, die mit dem Thema Beziehung und Sexualität völlig überfordert sind, kann dann der Wunsch entstehen, sich danach auszustrecken. Das wäre ein Beispiel für mich, wie wir das Evangelium, die frohe Botschaft, für Menschen unserer Zeit kommunizieren können.
ERF: Vielen Dank für das Gespräch.
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