25.03.2024 / Andacht

Gedemütigt, geschlagen, würdelos

Die Karwoche zeigt: Durch Jesus erhalten leidende Menschen ihre Würde zurück. Eine Andacht.

Ich erinnere mich noch gut an den Moment, in dem mir zum ersten Mal bewusst geworden ist, wie es sein muss, wenn einem Menschen jegliche Würde genommen wird. Ich las gerade den inzwischen vergriffenen historischen Roman „Geschrieben im Wind“ von Judith Pella. Darin wird der russische Arzt und Christ Aleksei entweder von den Nazis oder dem russischen Geheimdienst während des Zweiten Weltkrieges gefangen genommen. Die Details sind mir entfallen.

Aber ich erinnere mich an das Entsetzen, das ich verspürte, als die Autorin beschrieb, wie dieser willensstarke Mann durch Folter und Drogen innerlich gebrochen wurde. Ich habe mich gefragt: Was bleibt von einem Menschen, wenn er derart von anderen behandelt wird? 

Die Würde eines Menschen wird so leicht zerstört 

Im Deutschen Grundgesetz heißt es, dass die Würde des Menschen unantastbar ist. Ich bin dankbar, dass dieser Satz in unserer Rechtsprechung fest verankert ist. Gleichzeitig sehe ich, wie diese Aussage in vielen Ländern mit Füßen getreten wird. Die Würde des Menschen wird auf diesem Planeten tagtäglich angetastet und verletzt, wenn Männer, Frauen oder Kinder verspottet, gedemütigt, ausgenutzt, geschlagen, isoliert, betäubt, ausgehungert, vergewaltigt oder getötet werden. 

Solche Menschenrechtsverletzungen haben unmittelbar etwas mit der Karwoche zu tun, in der wir uns gerade befinden.

Christen erinnern sich in dieser Woche an das Leiden und Sterben von Jesus Christus. Das Wort „Kar“ leitet sich von dem althochdeutschen Begriff „Chara“ ab und bedeutet „Wehklage“ oder „Trauer“. Zu dieser besonderen Woche gehört auch der Schmerz und das Erschrecken darüber, dass Jesus während seiner Gerichtsverhandlung und anschließenden Hinrichtung völlig würdelos behandelt worden ist.  

Jesus erlebte tiefste Entwürdigung durch seine Mitmenschen 

Jesus hat das vorausgesehen. Einige Tage vor seiner Kreuzigung sagt er zu seinen Freunden: „Die obersten Priester und Gesetzeslehrer werden den Menschensohn zum Tod verurteilen und ihn dabei an die Nichtjuden ausliefern. Die werden ihn dann mit Spott überhäufen, ihn anspucken und auspeitschen und schließlich töten“ (Markus 10,33-34). 

Jesus spricht hier von sich selbst. Er weiß, dass ihm von seinen Gegnern jede menschliche Würde genommen werden wird. Selbst als er schon sterbend am Kreuz hängt, verspotten ihn die Soldaten, die umstehenden Gaffer und die religiöse Elite noch. „Anderen hat er geholfen, sich selbst kann er nicht helfen,“ lautet ihr zynisches Urteil (vgl. Markus 15,31).  

Gott ist bei jedem, der Entwürdigung erlebt 

Jesus hält diese Würdelosigkeit aus. Das ist für mich eine der stärksten und tröstlichsten Aussagen seiner Leidensgeschichte. Denn weil Jesus diese Würdelosigkeit ausgehalten hat, kann er die Menschen durchtragen, die ähnlich Schlimmes erleben. Er weiß aus persönlicher Erfahrung, wie es ihnen geht. Er teilt die Demütigungen und die Schmerzen mit ihnen. 

Mehr noch: In Jesus hält Gott selbst diese Erniedrigung aus. Angesichts all des Bösen, des Teuflischen, des Entwürdigenden, das wir Menschen uns gegenseitig antun können, gibt es keinen größeren Verbündeten. Zugleich gibt Jesus damit jedem geschundenen Menschen auch seine Würde zurück. 

Gott schenkt uns eine Würde, die über den Tod hinausgeht  

Die russische Romanfigur Aleksei, über die ich zu Anfang geschrieben habe, hat seine Würde durch die Liebe einer Frau und durch die Kraft des Glaubens wiedergefunden. Es ist ein anderer Russe, der mich gelehrt hat, dass das auch in der Wirklichkeit funktioniert. Der russische Oppositionspolitiker Alexej Nawalny hat aus der Liebe zu seiner Frau und aus seinem Glauben an Gott die Kraft für seinen Widerstand gegen das russische Regime gezogen.  

Im Gegensatz zur Romanfigur hat seine Geschichte allerdings kein Happy End. Einzelhaft und schlechte Zustände im Gefängnis haben ihm mehr abverlangt, als sein Körper aushalten konnte. Rein äußerlich ist er einen würdelosen Tod gestorben, als er im Februar 2024 im Hof einer sibirischen Haftanstalt zusammengebrochen ist.  

Vielleicht hat Nawalny in diesem Moment nicht gespürt, dass Gott bei ihm ist. Aber Nawalny glaubte daran, dass er „seinen Platz bei Gott sicher hat“. Diesen Platz hat Jesus dem russischen Dissidenten und Christen mit seinem eigenen, würdelosen Tod am Kreuz und seiner Auferstehung an Ostern unwiderruflich geschenkt. Menschlich gesehen hat Nawalny den Kampf um seine Würde und seine Freiheit verloren. Aber die Würde und die Freiheit, die Gott ihm zuspricht, weil er an Jesus geglaubt hat, kann ihm jetzt keiner mehr nehmen - auch seine politischen Gegner nicht.  

Autor/-in: Hanna Willhelm

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