Varvara Dizengof wird 1976 im russischen Sotschi geboren. Die kleine Stadt am Schwarzen Meer ist ein beliebter Ferienort. Varvara wächst in einer gut situierten Familie auf und ihre Kindheit in der Küstenstadt ist von Stabilität und Privilegien geprägt. Der Vater ist selbstständig, die Mutter Zahnärztin.
Varvara besucht eine Privatschule mit englischer Sprachförderung und spielt Tennis im Verein. Sie ist begabt, neugierig und fleißig, eine Tochter, auf die ihre Eltern stolz sind.
Neugier wird zum Fallstrick
Die glänzende Fassade bröckelt jedoch, als Varvara mit zwölf Jahren zum ersten Mal Haschisch probiert. „In der siebten Klasse, habe ich die Freunde meines älteren Bruders kennengelernt“, erzählt sie.
Ihre Neugier wird ihr zum Verhängnis. Was als Gelegenheitsjoint beginnt, wird bald zur Gewohnheit. Während ihre Eltern glauben, sie sei in der Schule, schleicht sich Varvara zu ihren Freunden, um zu rauchen.
Bald ist es ihre Aufgabe im Freundeskreis, die Drogen zu besorgen. Denn die Freunde wissen, dass Varvaras Familie Geld hat. Hat sie selbst keins mehr, stiehlt sie das Geld heimlich vom Vater.
Der Jackpot entpuppt sich als Niete
Mit 17 Jahren probiert Varvara Opiate aus und spritzt sich kurz darauf zum ersten Mal Heroin. „Mein Gehirn arbeitet schneller“, sagt sie über den Einfluss der Drogen. Dass sie durch ihr Jurastudium nicht mehr bei ihren Eltern wohnt, ist der perfekte Nährboden für ihren Konsum. Ihre Noten sind trotz des Drogenkonsums gut, sie scheint den Jackpot geknackt zu haben, aber der Schein trügt.
Im Sommer verdienen sie und ihre Freunde Geld mit Betrügereien auf den Straßen von Sotschi. Doch als der Winter kommt, bleiben die Urlauber aus und damit die Drogen. Als Varvara sich plötzlich krank und kraftlos fühlt, denkt sie zunächst, sie habe eine Grippe.
Ihre Freunde erklären ihr: Das ist der Entzug. Sie braucht Heroin, um essen, schlafen und denken zu können. Varvara spürt zum ersten Mal die Schattenseite ihrer Drogensucht.
Aufgeflogen
Es ist Ostersonntag, als die Bombe platzt. Varvaras Vater findet Haschisch und gebrauchte Spritzen in ihrer Tasche. Er ist geschockt. Varvara behauptet, ihr gehörten die Sachen nicht. Doch der Vater glaubt ihr kein Wort und verliert die Kontrolle. Er schlägt sie und fesselt sie mit Handschellen an die Heizung. Während die Familie Ostern feiert, sitzt Varvara angebunden im Nebenzimmer.
Am nächsten Tag wollen die Eltern sie zu einem befreundeten Polizisten bringen. Doch Varvara flieht vorher und sucht Unterschlupf bei ihrem Bruder. Aber ihr Vater findet sie und bringt sie zur Polizei. Dort schweigt sie über ihre Kontakte.
Als ihre Eltern sie bedrängen, einen Entzug zu machen, stimmt sie dem Deal zunächst zu. Jeden Tag kommt nun ein Arzt im Elternhaus vorbei, gibt ihr Tabletten und Beruhigungsspritzen. Nur so gelingt der körperliche Entzug von den harten Drogen. Doch er hat nicht die gewünschte Wirkung.
Varvara will gar nicht aufhören, Drogen zu nehmen. „Ich wollte wieder diesen Kick haben“, erinnert sie sich.
Schwanger und high
Varvara zieht in eine Wohnung, in die ihre Mutter ihr heimlich Essen und Geld bringt. Der Vater ahnt nichts davon. Mit Drogen versorgt Varvara ihr damaliger Freund. Sie beginnt zu stehlen und beteiligt sich an Überfällen, bis die Polizei auf sie aufmerksam wird.
Nun zieht der Vater Konsequenzen: In Moskau soll Varvara unter Aufsicht ihrer Tante leben und einen Mann heiraten, den er ausgesucht hat. Gesagt, getan: Varvara heiratet diesen Mann, den sie weder kennt noch liebt. Schon bald ist sie schwanger. Doch sie will das Kind nicht, denn Drogen und Partys gehören noch immer zu ihrem Alltag. Als sie sich sicher ist, dass sie abtreiben will, ist sie bereits im vierten Monat.
Aber eine Abtreibung ist nun nicht mehr so einfach wie gedacht. Varvara müsse Tabletten nehmen, die Wehen auslösen, erklärt ihr der Arzt. Sie müsse die Anstrengung und Schmerzen einer „echten“ Geburt auf sich nehmen, um ein totes Kind zu gebären.
Nach diesem Gespräch fragt sich Varvara: „Warum muss ich dieses Kind töten?“ Sie entscheidet sich, das Kind doch zu behalten und schafft es sogar, mit dieser Entscheidung auch auf die Drogen zu verzichten.
Ihr Entschluss hält nicht lange: Im letzten Trimester der Schwangerschaft nimmt Varvara wieder Heroin. Ihre Tochter Valeria kommt schwarz vom verschmutzten Fruchtwasser zur Welt. Einen Monat bleiben Mutter und Kind in der Klinik. Doch noch immer möchte Varvara nicht von den Drogen ablassen. Ihre Eltern leben zu dieser Zeit schon in Deutschland. Um dem Konsum ihrer Tochter endgültig einen Riegel vorzuschieben, holen sie die kleine Familie nach Köln.
Absturz in Köln
Nach kurzer Zeit zerbricht Varvaras Ehe. Aber selbst jetzt ist sie nicht gewillt, die Drogen hinter sich zu lassen. Sie zieht mit ihrer Tochter Valerie in eine Notunterkunft. Als Varvara an Hepatitis C erkrankt, wird ein Entzug unumgänglich. Sie beginnt ein Methadonprogramm. Jeden Tag fährt sie mit ihrer kleinen Tochter mehrere Stunden zum Arzt. Dort lernt sie andere suchtkranke Menschen kennen und beginnt parallel Kokain zu konsumieren.
Paranoia und Halluzinationen sind die Folge. Regelmäßig ruft Varvara die Polizei und behauptet: „Jemand will mich und meine Tochter umbringen.“
Die Mutter-Tochter-Beziehung zerbricht daran. Valeria nennt sie nicht mehr Mama, sondern beim Vornamen.
Eines Tages hört Varvara wieder Stimmen in ihrem Kopf, die ihr sagen, sie sei in Gefahr. Im Wahn flieht sie mit ihrer Tochter auf den Balkon, klettert zur Nachbarwohnung, zerstört dort die Einrichtung und schließt sich im Bad ein. Als die Polizei an der Badezimmertür klopft, will sie aus dem fünften Stock springen, denn sie ist überzeugt, ihre Peiniger hätten sie gefunden. In einem klaren Moment bittet sie um Hilfe: „Bringen Sie mich ins Krankenhaus.“
Ein leiser Neuanfang
Kurze Zeit später organisiert Varvaras Mutter ein Treffen mit zwei ehemaligen Drogenabhängigen. Die beiden sind Christen und erzählen Varvara, wie sie durch den Glauben frei von Drogen wurden. Varvara hört skeptisch zu und raucht ihnen frech ins Gesicht.
Doch die Worte der Männer und ihre Einladung zum Gottesdienst wirken nach. Varvara entscheidet sich, der Einladung zu folgen, und spricht mit dem Pastor: „Ich bin Junkie. Ich brauche Hilfe.“ Er antwortet: „Ich kann dir nicht helfen, aber Gott kann.“ Nach dem Gottesdienst bietet er ihr ein Gebet an, das sie nachsprechen soll. Sie stimmt zu und alle Dämme brechen. Zum ersten Mal seit fünf Jahren weint sie. „Ich war zuvor wie ein Zombie, hatte keine Gefühle“, sagt sie rückblickend.
Auf dem Heimweg wirft Varvara ihre übrigen Drogen und die Spritzen weg. Als ihre Mutter ihr die Tür öffnet, sieht sie sie an und sagt: „Du siehst anders aus. Deine Augen sind normal. Du redest ruhig, ohne zu schimpfen.“
Es ist unübersehbar: Varvara hat den ersten Schritt in Richtung eines neuen Lebens gewagt.
Endlich echte Heilung
Varvara beginnt eine christliche Langzeittherapie. Die ersten Wochen schweigt sie fast vollständig. Ohne Drogen fehlt ihr jegliches Selbstbewusstsein. Eine russischsprachige Mitbewohnerin, mit der sie sich auf Anhieb versteht, fragt sie täglich: „Liest du in der Bibel?“
Zwei Monate lang ignoriert Varvara die Frage. Dann schlägt sie die Bibel an einer zufälligen Stelle auf. Die Worte aus Jesaja 54,4 treffen sie: „Hab keine Angst! Du wirst nicht wieder enttäuscht, du brauchst dich nicht mehr zu schämen. An die Schande deiner Jugendzeit und die Schmach deiner Witwenschaft wirst du bald nicht mehr denken.“
Varvara beginnt zu beten. Täglich. Sie bittet Gott, ihren Charakter zu verändern. In fast zwei Jahren Therapie legt sie alte Muster ab und verarbeitet ihre Vergangenheit.
Das Gebet wird zu ihrem Anker, die Bibel zum täglichen Begleiter.
Der Makel wird zum Werkzeug

Heute hat Varvara gelernt: „Diesen Schmutz kann man nicht einfach abwaschen. Aber Gottes Vergebung reinigt wirklich.“ Auch die Beziehung zu ihrer Tochter heilt dadurch. Als Valeria fünf Jahre alt ist, vergibt sie ihrer Mutter.
Später kehrt Varvara bewusst nach Köln zurück, um anderen Drogenabhängigen zu helfen. Sie trifft alte Bekannte. Einige erkennen sie nicht wieder. „Ich wollte helfen, weil Gott mir so viele Sachen vergeben hat“, sagt sie. Mit ihrem heutigen Mann, der auch eine Drogenvergangenheit hat, gründet sie 2011 die Gefährdetenhilfe Köln. Er kümmert sich um die Männer, Varvara um die Frauen, deren Not oft übersehen wird.
2019 wird Varvaras Herzenswunsch Realität und sie gründet eine christliche Wohngemeinschaft für drogenabhängige Frauen. Hier wird Leben geteilt, gebetet, geweint und gehofft. Sie hat ein Ohr für die Geschichten der anderen und eine Schulter für ihre Tränen.
„Die Bibel ist unser wichtigstes Medikament“
Heilung ist ein Prozess, der seine Zeit brauchen darf. In der Gefährdetenhilfe ist der Glaube ein zentraler Teil dieses Heilungsprozesses. „Die Bibel ist unser wichtigstes Medikament“, sagt Varvara. Manche der ehemaligen Bewohnerinnen arbeiten heute selbst mit und helfen wiederum anderen Frauen auf dem Weg in die Freiheit.
Varvara Ditzengof lebt heute ein Leben, das anderen Hoffnung macht. Ihre Vergangenheit ist für sie kein Makel, sondern bildet eine wichtige Ressource für ihren Dienst an suchtkranken Frauen.
Varvara hat erlebt, dass es für Gott nie zu spät ist, Menschen zu begegnen und ihnen Freiheit zu schenken.
Ihre eigenen Wunden durften heilen und durch ihre eigene zerbrochene Geschichte strahlt Gottes Liebe und Kraft nun auch in das Leben anderer.
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