
13.06.2014 / Vergebung macht gesund / Lesezeit: ~ 6 min
Autor/-in: Claas KaeselerWer nicht vergibt, verbaut sich seine Zukunft
Dr. Klaus Hettmer verrät im Interview das Geheimnis eines glücklichen Lebens.
Christian Boni erzählt aus seinem bewegten Leben. Er erlebt Gewalt in der Kindheit, nimmt Drogen und wird sogar selbst zum Dealer. Dass er andere Menschen süchtig gemacht hat, nagt an seinem Gewissen. Er beschließt, für seine Taten um Vergebung zu bitten. Über die positiven Auswirkungen von Vergebung sprechen wir mit Psychotherapeut Dr. Klaus Hettmer.
ERF: Jemandem zu vergeben, der mich verletzt hat, fällt nicht leicht. Welche Vorteile hat es für mich zu vergeben?
Dr. Klaus Hettmer: Der wichtigste Vorteil ist, dass die Verletzung dadurch heilen kann. Das heißt, die Verletzung schreitet nicht weiter voran. Andernfalls kann das dazu führen, dass ich durch meine Verletzung andere oder mich selbst verletze. Und das entwickelt sich dann zu einem Teufelskreis der gegenseitigen Schuld. Es gibt diesen Satz: Wenn man nicht vergibt, ist das wie wenn man durch den Stich einer Biene getötet wird. Das Gift arbeitet immer weiter.
Viele medizinische Studien deuten darauf hin, dass vergeben gesund ist. Vergebung hat keinerlei negative Folgen, dafür aber sehr viele positive Auswirkungen, z. B. dass der Blutdruck sinkt und Entzündungen schneller heilen. Wenn man nicht vergeben kann, ist es dagegen genau gegensätzlich. Schmerzen halten länger an, Entzündungen und Wunden heilen nicht so gut. Das Risiko für Herz-Kreislaufkrankheiten steigt.
Vergebung ist also einer der Schlüssel zu einem glücklichen Leben und zu gelingenden Beziehungen. Es gibt aber noch weitere Schlüssel. Dankbarkeit zum Beispiel oder Demut. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass Vergebung etwas ganz Großartiges ist, um selbst heil zu werden und Beziehungen zu heilen.
Gerade heute früh habe ich meiner Frau vergeben. Es gibt Themen, die immer wiederkehren. Zum Beispiel das Gefühl, zu kurz zu kommen. Da muss man immer wieder ran. Gerade in Beziehungen muss man sich immer wieder gegenseitig vergeben und Vergebung auch empfangen.

Vergeben heißt nicht gutheißen
ERF: Verbaue ich mir möglicherweise meine eigene Zukunft, wenn ich nicht bereit bin, zu vergeben?
Dr. Klaus Hettmer: Ganz kleine Dinge kann man vielleicht noch wegstecken. Wer nicht vergeben kann, verbaut sich aber trotzdem einen großen Teil der Zukunft. Ich erzähle meinen Patienten folgendes Beispiel: Wenn eine Frau verärgert ist über Ihren Ex-Mann und sie schaut immer zu ihm zurück und sagt: „Ich habe noch etwas zu bekommen. Ich bin noch sauer.“ — dann schaut sie nur in die Vergangenheit und ist unfähig, die Gegenwart oder Zukunft zu gestalten. Das Unrecht, das ihr passiert ist, verschwindet dadurch ja nicht. Wenn ich wirklich loslasse, bekomme ich es von anderer Seite vielleicht sogar erstattet.
ERF: In einem Sprichwort heißt es: "Vergeben heißt nicht vergessen." Inwiefern hilft Vergebung mir, selbst wenn ich noch unter den Auswirkungen der Verletzung leide?
Dr. Klaus Hettmer: Vergebung beginnt mit einer Entscheidung. Dabei hilft es, wenn man weiß, warum der andere mich verletzt hat. Manche sprechen aber auch vorschnell eine Entschuldigung aus. Das ist eigentlich nicht richtig. Wenn die Verletzung noch weh tut, muss man sich das auch zugestehen. Da helfen praktische Schritte zur Vergebung. Ein Schritt lautet: „Die Verletzung, die eigenen Gefühle zulassen". Man muss den Schmerz und die Bitterkeit zwar zulassen und sich darum kümmern, aber man darf nicht dauerhaft daran festhalten. Dadurch nimmt man der Vergangenheit den schädlichen Einfluss.
Es geht auch nicht darum, das zu vergessen, was war. Vergeben heißt nicht gutheißen, sondern loslassen, um selbst in die Freiheit zu kommen. Es kann sogar bedeuten, mal Abstand vom anderen zu nehmen. In der Bibel heißt es, man solle wegen der gleichen Sache siebzig mal sieben Mal an einem Tag vergeben. Es geht also um eine Lebenshaltung, einen Lebensstil. Wenn ich wirklich vergebe, hole ich es nicht mehr hervor.
ERF: Wer kann mir helfen, damit ich vergeben kann?
Dr. Klaus Hettmer: Viele gehen zu Menschen, die ähnliches erlebt und bewältigt haben. Es ist also wichtig, Freunde oder Menschen zu finden, die einen verstehen und einem sagen: „Ich verstehe deine Verletzung und du darfst deine Gefühle diesbezüglich zeigen, aber Du kannst darüber hinwegkommen. Einer der Schritte wird irgendwann sein, zu vergeben. Vielleicht nicht sofort, aber stell Dir vor, Du kannst nie vergeben. Wie würde Dein Leben dann ausschauen? Und stell Dir vor, wie es ausschaut, wenn Du irgendwann vergeben kannst."
Natürlich können auch Therapeuten oder Seelsorger auf dem Weg helfen. Ich bin ja auch ein gläubiger Mensch und in der Bibel findet man viele Beispiele, was Vergebung bewirken kann. Und auch in meiner Praxis habe ich schon erstaunliche „Wunder“ durch die Macht der Vergebung erlebt.
Vergeben kann man lernen
Dr. Klaus Hettmer: Auf jeden Fall. Ein Beispiel: Wenn man jemandem Geld leiht und bekommt es nicht zurück, wird man sauer. Es beschäftigt einen immer wieder und kann einem richtig zur Last werden. Aber wenn ich dann dem anderen sage „Ich schenke Dir das Geld. Ich erlasse Dir die Schuld.“ – dann ist das nichts anderes als Vergebung.
Man erlässt jemandem die berechtigte Schuld, um selber frei zu werden. Man kann sich nur in Liebe voneinander lösen. Sonst ist man wie über eine Energie noch an den anderen gebunden. Das ist wie in der Quantenphysik. Da hat man festgestellt, dass Teilchen auch nach einer Trennung noch durch eine Energie verbunden sind. Nur durch Liebe kann ich diese negative Energie lösen. Von Lewis Smedes stammt der Satz: „Wenn man vergibt ist es, wie einen Gefangenen frei zu lassen, um zu entdecken, dass man selbst der Gefangene war.“
ERF: Was ist aus psychologischer Sicht schwerer: Sich selbst oder anderen zu vergeben?
Dr. Klaus Hettmer: Das kann man nicht generell sagen. Aber den meisten Menschen scheint es am schwersten zu fallen, sich selbst zu vergeben. Gerade, wenn man selber schuldig geworden ist. Aber auch da gibt es ein paar Schritte, die man gehen sollte. Man muss die eigene Schuld anerkennen, dazu stehen. Man sollte daraus lernen, vielleicht Wiedergutmachung leisten und zuletzt auch sich selber vergeben. Der vierte Schritt ist, von Gott Vergebung annehmen.
Vergebung heißt Verantwortung für sich übernehmen
ERF: Inwiefern spielt es eine Rolle, ob meine Bitte um Vergebung angenommen wird?
Dr. Klaus Hettmer: Ich denke, es spielt keine so große Rolle. Es ist gut, wenn das passiert, weil dann die Beziehung weiter gehen kann oder wieder möglich ist. Aber es ist nicht notwendig. Sich entschuldigen bedeutet, sich selbst die Schuld zu nehmen. Wenn der andere sagt „Ich verzeihe Dir aber nicht“, kann ich nichts weiter tun. Aber ich stehe zu meiner Schuld und dadurch werde ich sie los. Vielleicht braucht der andere auch noch Zeit. Wenn der Mann fremdgeht und die Frau kann ihm nicht sofort verzeihen — das darf auch sein. Aber wenn man auf Dauer nicht verzeihen kann, wird die Beziehung meistens auseinanderbrechen.
ERF: Wenn man das hört, dann muss man sich fragen: Warum fällt es uns Menschen so schwer zu vergeben?
Dr. Klaus Hettmer: Das habe ich mich auch gefragt. Es ist irgendwie ein gut gehütetes Geheimnis. Vergebung wird nicht wirklich gelehrt oder weitergegeben. Wenn Menschen Fehler machen, müssen sie sofort zurücktreten. Egal ob in der Wirtschaft oder Politik — man bekommt selten die Chance, es besser zu machen. Zu vergeben ist nicht modern oder wird fast bekämpft.
Etwas anderes erlebe ich oft bei Patienten, die auch so schlimme Dinge vergeben können wie Missbrauch. Da spielt Gott oft eine wichtige Rolle. Ohne Gott wird es sehr schwer fallen, mir selbst oder anderen zu vergeben.
Vergebung heißt übrigens auch, die Wahrheit zu finden. Der andere hat einen Grund für sein Handeln. Diese Erkenntnis kann dabei helfen, nächste Schritte zu gehen. Vergebung ist ein schmaler Pfad. Die breite Straße heißt: „Ich bin wütend und zornig und voller Selbstmitleid.“ Zu vergeben bedeutet, für sich selbst und seine Heilung die Verantwortung zu übernehmen. Viele Menschen wollen oder können aber leider die Verantwortung nicht für sich übernehmen, nach dem Motto: „Leiden ist leichter als lösen.“
Ihr Kommentar
Kommentare (11)
Liebe Mona, Ich kann Ihre Zeilen nachvollziehen, es ist schwer, mit einem Ich-Menschen zusammen zu sein. Aber Vergebung heißt ja nicht gut heißen und manchmal muss man den Ort der Verletzung … mehrverlassen, um heil zu werden. Der andere trägt seine Schuld weiter, solange er nicht Buße tut und Gott richtet jeden nach seinen Taten. Reue und die Schuld annehmen ist wichtig, um die Beziehung weiter zu führen, ohne geht es nicht. Dann kann Versöhnung geschehen. Die Vergebung auch ohne Reue ist in erster Linie zu meinem eigenen Heil notwendig, damit keine Bitterkeit entsteht und auch Gottes Gebot. Wir müssen nicht barmherziger sein als Gott, aber Gott liebt auch den Mörder, verurteilt aber seine Tat und er sagt, wir sollen unsere Feinde lieben. Das können wir nur mit der Hilfe seiner unendlichen Liebe. Freundliche Grüße, Klaus H.
Vergebung ohne Reue macht kein Sinn, es ist in dem Fall keine echte Verhebung . Wer jahrelang mit einem Psychopathen/Nsrzissten zusammen war, der nie schuld ist und man ihm immer alles vergeben hat, … mehrweiß ganz genau, dass er nur seine Sünden abgekauft hat und dadurch man doppelt gelitten hat. Ein Psychopath/Narzisst ist somit frei und kann weiter Unheil anrichten. Es besteht ein Teufelskreis. Diesmal habe ich mir vergeben und all den Schmerz was mein Ex Narzisst mit zugefügt hat kann man nicht vergessen. Was soll ich ihm vergeben? Ich bin bereit zu vergeben, wenn er die Vergebung braucht. Aber er will keine Vergebung weil er seine Sünden nicht anerkennen will.
Ich kann nicht Barmherziger als Gott sein. Gott möchte dass wir vor ihm die Sünden eingestehen, es vom Herzen bereuen , damit er uns vergeben kann. Das Thema Vergebung wird oft meiner Meinung nach falsch verstanden.
Man sollte sich selbst vergeben, akzeptieren was geschehen ist , und man soll bereit sein zu vergeben, wenn der Täter die Vergebung möchte. Ich hab ihn nichts zu vergeben aber wenn er irgendwann mal auf mich zu kommt, werde ich ihm vergeben.
Möchte ich mir unbedingt näher ansehen
Dieser Artikel ist zwar schon etwas älter aber sehr heilsam. <3
@ Schweres Thema
Das steht so aber nicht in der Bibel. Dort steht nicht, dass man nur vergeben soll, wenn der andere Reue zeigt. Dort steht einfach, dass man vergeben soll. Das bedeutet aber nicht, … mehrdass man die Auswirkungen relativiert oder ignoriert. Und es bedeutet auch nicht, dass man sich beispielsweise von jemandem distanziert, weil die Person keine Reue empfindet. Vergeben bedeutet, die eigene Last, die man mit sich herumschleppt, abzugeben: Die Bitterkeit, Verärgerung, Enttäuschung. Vergeben heißt eben nicht, fünfe gerade sein zu lassen, alle Schuld auf sich zu nehmen oder mit dem Ex noch in irgendeiner Art "zusammenbleiben" oder den Kontakt zu halten. Vergeben heißt: Du hast mir weh getan, das vergebe ich Dir. Aber trotzdem kann man sagen: "Ich will mit Dir trotzdem nichts mehr zu tun haben."
Vergebung ohne Reue macht kein Sinn. Mein Ex der 12 Jahre mein Leben weiter und voll bewusst mein Leben zerstörte weil ich ihm immer vergeben habe ,und alle seine Schulden auf mich genommen habe, … mehrdadurch habe ich noch mehr gelitten! Ich vergebe jetzt nicht :) d.h heißt für mich ,ich baue unsichtbare Schutzmauer um mich herum um nie wieder so verletzt zu werden. Ich setzte Grenzen auf und signalisiere damit, so kannst du nicht mit mir umgehen, hat nichts mit Hass zu tun wie es alle beschreiben. Auch wenn er jetzt seine Vergebung nicht will, was soll ich den vergeben? Ich kann mir nur selbst vergeben. Und so herrscht auch Frieden in mir, was bei ihm abgeht, ist nicht mein Problem.
Ich möchte vergeben und versuche jeden Tag, den Blick in die Zukunft wenden, mich von der Fixierung auf das Geschehene zu lösen. Es ist geschehen, was geschehen ist - es ist, was es ist. Und trotzdem … mehrüberwuchert das Geschehene das Heute, stiehlt mir Handlungsmöglichkeiten, Hoffnung, Kraft. Wie kann ich mich endlich von der Vergangenheit freimachen?
Vergebung ist ein langer Prozess und passiert nicht von heut auf morgen. Auf Veränderung wartet man lebenslänglich
Kann ich jemandem vergeben, der seine Schuld gar nicht sehen will, der mich während einer schweren Krankheit angelogen und hintergangen hat? Muss ein Mensch nicht normalerweise zuerst seine Schuld eingestehen und bereuen, oder muss ich zuerst verzeihen?
Ich glaube Vergebung fällt den meisten Menschen doch sehr schwer, weil sie niemals in ihrem Leben Gott erfahren haben. Gott ist Liebe, und die Liebe ist die Erfüllung des Gesetzes. Steht in Römer (ab … mehrVers 8). Eine Gemeinde sollte die Liebe Gottes weitergeben, leben, und andere Menschen aufbauen, sowie niemanden im Stich lassen. Nur so können Menschen geheilt werden.
Danke für dieses Gespräch. Mich beschäftigt die Sach' mit der Vergebung sehr stark. Kann man wirklich alles vergeben ?
Sich selbst vergeben ist am schwersten.
Eine gute Hilfe dabei ist Gottvertrauen.
Gruss Dorena