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09.03.2024 / Serviceartikel / Lesezeit: ~ 10 min

Autor/-in: Rebecca Schneebeli

Keine falsche Nachsicht

Es wird immer schwerer, ehrlich miteinander zu sein. Doch es lohnt sich, zur Wahrheit zu stehen.

Wieder einmal sitze ich in Gedanken versunken über meinem Handy, meine Finger tippen wie wild, dann halte ich inne, lösche ich das Geschriebene wieder, beginne erneut … Dieses Verhalten stelle ich seit einiger Zeit immer öfter bei mir fest. Es fällt mir immer schwerer, die richtigen Worte in einer Mail, WhatsApp oder SMS zu finden.

Denn immer häufiger kommt auf eine freundlich formulierte Nachricht ein negatives Echo. Eine Absage, das Äußern einer anderen Meinung oder das Aussprechen einer unbequemen Wahrheit rufen immer schneller Protest hervor. Und das nicht nur in Facebook-Diskussionen oder bei entfernten Bekannten, sondern auch in der persönlichen Kommunikation mit Freunden und Familie.

 

Die Coronakrise hat dieser Entwicklung ordentlich Anschub gegeben, bei nahezu jedem lagen während der Pandemie die Nerven blank und auch seither gab es wenig Entspannung: Die Klimakrise, der Ukraine-Konflikt und die Terrorangriffe gegen Israel halten uns in Atem. Da wird man einfach dünnhäutiger. Ist doch normal, oder?

Doch meiner Ansicht kam dieser Stimmungswechsel nicht allein durch die Pandemie oder andere Krisen. Vielmehr legen die Krisen unserer Zeit nur ein Problem offen, über das wir früher hinwegsahen:

Wir haben verlernt, fremde Meinungen stehenzulassen, wertschätzend zu diskutieren und uns unbequemen Wahrheiten zu stellen.

Wenn jemand etwas sagt, was uns nicht passt, reagieren wir plötzlich wie ein trotziger Dreijähriger, der einen Lolli nicht bekommt. Warum ist das so? Und wie ist es so weit gekommen?

Wir bewerfen uns nur noch mit Wattebällchen

Meine persönliche Beobachtung ist: Noch vor einigen Jahren galt als schlechte Freundin, wer die andere nicht auf einen schlechten Haarschnitt aufmerksam machte. Natürlich war schon damals Taktgefühl gefragt, doch eine echte Freundschaft hieß früher noch, der anderen auch mal die Wahrheit ins Gesicht zu sagen.

Die eigene Meinung wurde offen ausgesprochen, vielleicht bröckelte dabei etwas der Lack von der Freundschaft, aber es zerbrach nichts. Noch heute bin ich mit den Frauen tief verbunden, mit denen ich damals enge Bande knüpfte. Und noch heute bin ich ihnen dankbar, dass sie in meine Komfortzone vordrangen und mir nicht immer nur nach dem Mund redeten.

Wenn ich heute neue Beziehungen knüpfe, merke ich: Offenheit hat nicht mehr die gleiche Bedeutung wie früher. Viele Freundschaften jüngeren Datums sind eher Interessensgemeinschaften.

Statt den eigenen Charakter an dem des anderen abzuschleifen, wie es die Bibel vorschlägt (vgl. Sprüche 27,17), zieht man sich beleidigt zurück, sobald der andere nur ein Wattebällchen nach einem schmeißt. So kann weder eine tiefe Beziehung wachsen noch der eigene Charakter.

Wenn das eigene Umfeld zur Filterblase wird…

Ein falsches Wort, eine Absage im falschen Moment oder ein kritischer Facebook-Kommentar – all dies kann eine Freundschaft heute bereits ins Wanken bringen. Zu einem nicht unerheblichen Teil sind daran die sozialen Medien Schuld. Je mehr digitale Kommunikation Teil unseres Alltags wurde, desto mehr hat diese ihre eigentliche Zielsetzung verloren.

Genau die Medien, die für freien Meinungs- und Wissensaustausch standen, befördern immer öfter reine Selbstbestätigung. Durch exakt konstruierte Algorithmen entsteht eine Filterblase, in der ich nur noch auf Infos stoße, die meine Meinung bestätigen.

Das führt irgendwann dazu, dass wir auch in unserem persönlichen Leben vornehmlich Kontakt zu Menschen haben, die so denken wie wir. Und indirekt bedingt es auch, dass wir überrascht und vielleicht sogar schockiert oder angewidert reagieren, wenn wir in der realen Welt auf Menschen treffen, die anders denken und leben als wir.

Wir sehen Vielfalt oft nicht mehr als Chance, sondern als Bedrohung. Andere Menschen sehen wir nicht mehr als heilsames Korrektiv, sondern suchen in ihnen jemanden, der mein Bild von der Welt bestätigt.

Auch bei mir selbst bemerke ich diese Tendenz.

Deine Wahrheit, meine Wahrheit?

So wird auch Wahrheit plötzlich zu etwas Individuellem. Ich habe meine Wahrheit und die darf mir keiner nehmen. Das Auseinandersetzen mit fremden Positionen ist dann nicht mehr nötig. Lass mir meine Wahrheit, ich lasse dir deine! Das ist das Motto, nach dem Beziehungen immer öfter ablaufen.

Das funktioniert solange, bis es zu einer Ausnahmesituation kommt. Die Pandemie war solch eine Ausnahmesituation. Sie führte uns vor Augen, dass die Idee von mehreren gleichwertigen Wahrheiten letztlich nicht überzeugt.

Wenn es plötzlich darum geht, in richtiger Weise auf eine äußere Katastrophe zu reagieren, wandelt Gleichgültigkeit sich in erbitterten Streit.

Wir erkennen mit einem Mal, dass es in manchen Situationen eben doch nur eine Wahrheit gibt. Aber durch unser Filterblasen-Leben haben wir verlernt, um diese Wahrheit zu ringen. In der Corona-Pandemie gab es teils erbitterte Diskussionen dazu, ob Masken eine Infektion verhindern oder nicht. Teils wurde darüber im engsten Freundes- und Familienkreis gestritten. 

Warum? Es war plötzlich klar: Es kann nicht beides gleichwertig wahr sein. Die Haltung „Lass mir meine Wahrheit, ich lass dir deine“ funktionierte mit einem Mal nicht mehr. Und so blieb nur Konflikt oder Flucht in die Ignoranz. Denn ein Ringen um die Wahrheit, die in diesem Fall ein komplexes „Wenn, dann“ war, war von keiner Partei gewünscht.

Menschen auf „Snooze“ schalten ist keine Lösung

Wenn ich mit der Person nichts weiter zu tun habe, ist Ignoranz leichter als Konflikt. Dann drücke ich einfach auf „Snooze“ und gut ist. Snooze meint hier nicht die Taste am Wecker, sondern die Snooze-Taste bei Facebook. Damit kann ich ausblenden, was eine Person postet, deren Inhalte ich aus irgendwelchen Gründen als problematisch einstufe. Und zwar ohne einen ansonsten netten Menschen zu entfreunden.

Nur, du merkst es schon, das geht nur, wenn ich die Person im echten Leben nicht treffe. Bei der Maske etwa wurde vielfach direkt sichtbar, welche Überzeugungen der andere dazu vertrat. Allein daran, ob er sie trug oder nicht. Da ließ sich mancher Konflikt kaum vermeiden.

Aber auch bei anderen Themen kann ich mich ja nicht ständig um meine Überzeugungen herumdrücken. Sobald ich tiefer mit Menschen ins Gespräch komme, droht auch hier eventuell ein Konflikt. Das betrifft auch und gerade meinen Glauben.

Ich kann meine Überzeugungen in puncto Gott vielleicht durch geschickte Themenwechsel oder vage Aussagen verbergen und einen Konflikt möglichst lange hinauszögern, aber irgendwann kommt auf den Tisch, dass ich von anderen Fakten ausgehe als die Person vor mir. Meine Erfahrung ist: Je später das passiert, desto schlechter ist es meist für die Beziehung zueinander.

Wahrheit entsteht durch Diskurs

Wie aber spreche ich Wahrheiten aus? Bevor wir darauf eingehen, möchte ich etwas Grundsätzliches klären. Auch wenn ich hier einige Beispiele aus politischen Krisen oder der Pandemie nenne, darum geht es mir nicht. Es geht mir um die Herzenshaltung, die wir für einen ehrlichen Austausch untereinander wieder neu entwickeln müssen.

Die Frage ist letztlich: Lasse ich mir von einem anderen Menschen etwas sagen? Oder anders: Bin ich demütig genug, mir eine andere Meinung anzuhören und zu erwägen, ob ich vielleicht Unrecht habe?

Gerade als Christ stehe ich manchmal in der Gefahr zu glauben, ich hätte die Wahrheit gepachtet. Denn die Bibel ist schließlich die Wahrheit. Muss dann nicht alles, was ich aus ihr herauslese, auch wahr sein? Dies ist genau die Stelle, an der wir uns täuschen lassen. In der Wissenschaft, im Glauben und im Leben tritt Wahrheit vor allem durch eines hervor, durch Diskurs.

Wahr ist nicht unbedingt, was ich für mich im Selbststudium erkannt habe, sondern was auch der kritischen Betrachtung anderer standhält. Ich mag meinen Einsatz für das Reich Gottes als treue Nachfolge sehen, ein anderer erkennt dahinter vielleicht den falschen Ehrgeiz, der auch hinter meinen Bemühungen steckt.

Deshalb hat Gott uns auf Beziehungen hin geschaffen. Wir sind dazu bestimmt, uns gegenseitig den Spiegel vorzuhalten. Doch wo wir oder der andere uns dem verweigern, werden tiefe Beziehungen unmöglich und am Ende leidet sogar der Zusammenhalt in der Gesellschaft. Das ist das, was wir in all den aktuellen Krisen erlebt haben und noch erleben. Gerade, wenn es wichtig wäre, ehrlich miteinander zu reden und auf verschiedene Positionen zu hören, merken wir, dass wir gar nicht mehr wissen, wie das geht.

Zur Wahrheit stehen

Doch wie können wir dies im Kleinen neu lernen, um auch in größeren politischen Diskursen einander zugewandt zu bleiben? Es fängt bei uns selbst an. Deswegen habe ich mir während der Pandemie irgendwann die Mühe gemacht und einen Kommentar, der meinen ernsthaften redaktionellen Recherchen zufolge etliche Corona-Fake-News enthielt, so höflich und wertschätzend wie möglich beantwortet. Ich hätte diesen Kommentar ignorieren oder verbergen können, aber ich spürte: Ich muss jetzt Position beziehen.

Ich habe mir viel Zeit dafür genommen, die Worte bewusst gewählt. Dennoch fiel die Reaktion bescheiden aus. Hätte ich also anders handeln sollen? Nein, denn unabhängig davon, dass einiges faktisch nicht stimmte und ich es als Journalistin und Christin so nicht stehenlassen konnte, hätte ich den Eindruck gehabt, meine Freundin zu belügen, hätte ich nichts erwidert.

In den Sprüchen steht ein weiser Ratschlag: „Ein ehrlicher Zeuge sagt immer die Wahrheit aus, ein falscher Zeuge verbreitet Lügen“ (Sprüche 14,5). Die Wahrheit zu sagen ist nicht nur gefordert, wenn es leicht ist und der andere mir zustimmt.

Als Nachfolger Jesu sollen wir ehrliche Zeugen sein und auch dann den Diskurs suchen, wenn es unbequem ist. So hat es auch Jesus getan. Er hat sich nie davor gedrückt, unbequeme Wahrheiten auszusprechen.

Von Jesus lernen: Klar kommunizieren

Wie Jesus unbequeme Wahrheiten kommuniziert hat, kann auch uns eine Richtschnur für den Umgang mit unbequemen Wahrheiten sein. Jesus war in seinen Aussagen anderen gegenüber immer klar. Mir selbst gelingt das noch nicht so gut.

Bei meiner Freundin damals habe ich die Chance verpasst, im persönlichen Austausch meine Haltung deutlicher zu machen. Erst als ich ihr öffentlich auf Facebook schrieb, wie ich die Dinge sehe, kam es zum Konflikt. Einem Konflikt, der im privaten Rahmen angebrachter gewesen wäre.

Auch sonst kann ich hier noch viel lernen. Wir diskutieren bei Freunden über ein politisches Thema und ich merke auf der Heimfahrt: Ich habe nicht klar gesagt, was ich anders sehe, sondern nur vage Andeutungen gemacht. Oder jemand bittet mich um meine Meinung zu einer Entscheidung, und statt zu sagen, dass ich sie generell für unklug halte, mache ich nur kleine Änderungsvorschläge.

Nur warum handle ich so widersprüchlich? Letztlich nur, um den anderen nicht vor den Kopf stoßen. Ich will nett sein, brav sein, gemocht werden. Das geht teils sogar so weit, dass ich Termine mit Freunden annehme, die mir nicht passen, statt einfach zu klären, was für uns beide ein besserer Termin wäre. Und hier wird klar, wie sinnlos solch ein Verhalten ist. Denn echte Beziehungen beruhen auf Ehrlichkeit.

Mach es wie Jesus – komm direkt zur Sache!

Jesus kennt diese falsche Rücksicht nicht. Direkt als er in den Tempel kommt, äußert er seine Kritik an dem Kaufpalast, zu dem das Gotteshaus geworden ist (vgl. Matthäus 21,12-13). Als er die Frau am Brunnen trifft, die wechselnde sexuelle Beziehungen hatte, kommt er direkt darauf zu sprechen (vgl. Johannes 4,17-18).

Jesus ist klar und direkt – und viele Menschen schätzen genau das an ihm. Gerade weil er sofort zur Sache kommt, weiß man immer, wo man bei ihm dran ist. Er lässt es nicht anstehen, auch mal Kritik zu äußern, und kann so Zeit und Ort dafür bestimmen. Bei der Frau am Brunnen etwa ist niemand sonst bei dem Gespräch anwesend, weil seine Jünger gerade Essen kaufen.

Wir selbst lassen allzu oft das ehrliche Wort, was zu wechseln wäre, solange anstehen, bis wir zu einer Stellungnahme gezwungen sind. Doch dann ist dafür selten der passende Moment.

Ich will hier von Jesus lernen und früher und klarer kommunizieren und selbst das geeignete Setting dafür bestimmen.

Im Epheserbrief von Paulus steht ein Satz, der für mich wegweisend ist: „Stattdessen wollen wir die Wahrheit in Liebe leben“ (Epheser 4,15). Wahrheit und Liebe gehören zusammen. Wo es uns an der Liebe fehlt, wird Wahrheit hart und ruppig rüberkommen. Doch wenn es in unseren Beziehungen an Ehrlichkeit fehlt, ist dies auch kein Zeichen von Liebe, sondern vielmehr von Gleichgültigkeit.

Ehrlichkeit führt in die Freiheit

Wenn wir das bedenken, werden unsere Beziehungen ehrlicher und ja, dann wird es hier und da auch mal knallen. Das lässt sich nicht verhindern. Aber wir werden im besten Fall auch wieder lernen, in Diskurs zu gehen und einen Zugang zueinander finden, der auf Wahrheit und Liebe und nicht auf Ignoranz und Gleichgültigkeit fußt.

Vielleicht machen wir dann auch die Erfahrung, die ich in letzter Zeit immer öfter mit weise bedachten ehrlichen Worten gemacht habe: Sie werden freundlich aufgenommen und ich renne offene Türen ein. Ich erfahre Verständnis und Offenheit , wo ich dachte: Mir bläst harter Gegenwind entgegen.

Denn auch das ist wahr: Erst wenn ich mich positioniere, wird ein ehrliches Herz-zu-Herz-Gespräch mit dem anderen möglich und eventuell ist manch harte Diskussion unnötig, wenn ich gleich zum Kern meiner Überzeugung komme, statt drumherumzuschlafenzeln.
 

 Rebecca Schneebeli

Rebecca Schneebeli

  |  Redakteurin

Sie schätzt an ihrem Job, mit verschiedenen Menschen und Themen in Kontakt zu kommen. Sie ist verheiratet und mag Krimis und englische Serien.

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