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© Logan Weaver / unsplash.com

06.04.2022 / Serviceartikel / Lesezeit: ~ 6 min

Autor/-in: Redaktion Family

Die Beziehung neu gestalten

Wenn die Eltern alt werden, gilt es, die Beziehung entsprechend der Möglichkeiten anders zu leben. Anregungen von Elisabeth Vollmer.

Es ist nicht mehr wie früher. Was so selbstverständlich war, dass ich es gar nicht wahrgenommen oder darüber nachgedacht hätte, vermisse ich heute schmerzlich. Seit Corona verbindet uns diese Erfahrung. Und sie wird sich auch in Bezug auf die alt werdenden Eltern für die meisten von uns an manchen Punkten so anfühlen.

Anders als bei Corona gibt es hier aber weder Impfung noch Hoffnung auf Therapie oder Herdenimmunität. Wir müssen uns von dem Lebensgefüge, das einmal war, endgültig verabschieden. Diese Tatsache gilt es, erst einmal anzunehmen.

Unser Gefüge war nicht perfekt, aber doch vertraut und ein Stück weit kalkulierbar. Was kommt, ist anders. Fremd und unkalkulierbar, aber nicht zwingend schlecht. Auf der Basis einer stabilen Bindung zwischen meinen Eltern und mir. Und diese Bindung kann gezielt und aktiv gestaltet werden und so die Grundlage sein, auf der sich die Herausforderungen der kommenden Jahre gut bewältigen lassen. So hoffe ich …

Sichere Bindung

In Katja Werheids Buch „Nicht mehr wie immer“ habe ich den interessanten und für mich sehr hilfreichen Ansatz der „Umbindung“ gefunden. Die Bindungstheorie geht davon aus, dass Menschen ein angeborenes Bedürfnis nach engen und von intensiven Gefühlen geprägten Beziehungen zu ihren Mitmenschen haben.

Wo dieses Bedürfnis gestillt ist, können sich Kinder positiv entwickeln und den Herausforderungen des Alltags stellen, während zugleich das erwachsene Gegenüber eine starke emotionale Bindung eingeht und darin Befriedigung und Glück erfährt.

Katja Werheid überträgt diese Erkenntnisse der Bindungstheorie auf das Verhältnis von alternden Eltern zu ihren Kindern. Wo unsere Eltern bei uns sicher gebunden sind, können sie sich den Herausforderungen des Alterns stellen, während sich zugleich unsere Bindung an sie verstärkt (oder auch wieder aufbaut) und vertieft.

Zeit, Nähe, gemeinsame Erlebnisse – das waren schon in Erziehung und Partnerschaft „die großen Drei“ und sie sind es auch, die hier zum Tragen kommen. Allerdings klingt das alles auch nach einem ziemlich großen Paket an Verantwortung, Kraft und Zeit. Dabei habe ich doch von Verantwortung schon so viel und von Kraft und Zeit so wenig …

Aber ich kann dieses Paket auch nicht einfach ignorieren. Wenn ich nicht aktiv gestalte, laufe ich Gefahr, dass das Leben (und Sterben) sich die Zeit, Verantwortung und Kraft nehmen wird, wann immer es so weit ist. Es wird diese Investitionen also in jedem Fall brauchen.

Etwas ist besser als nichts. Dass ich nicht alles gestalten und nutzen kann, wird mich nicht davon abhalten, das zu nutzen, was mir möglich ist.

Die Gestaltungsspielräume habe ich jetzt. Und die möchte ich nutzen. Außerdem gilt auch hier die Devise: Etwas ist besser als nichts. Dass ich nicht alles gestalten und nutzen kann, wird mich nicht davon abhalten, das zu nutzen, was mir möglich ist.

Erinnerungsschätze

Ein interessantes Experiment ist es in diesem Zusammenhang, mir einmal bewusst eine rosarote Brille aufzusetzen, innerlich einen Schritt zurückzugehen und ausschließlich Erinnerungsschätze zu sammeln. Was haben wir Schönes zusammen erlebt? Welche witzigen Episoden sind mir in Erinnerung? Wo oder wann habe ich mich besonders wohl gefühlt? Welche Werte habe ich von meiner Mutter, welche von meinem Vater übernommen (vielleicht in anderer Ausprägung, aber im Kern doch ähnlich)? Wofür bin ich dankbar?

Ein Blick durchs Fotoalbum der Kindheit kann Erinnerungen wecken. Und damit die Schätze nicht verloren gehen, lohnt es sich, sie aufzuschreiben. Und – auch wenn es ziemlich ungewohnt ist – diese Sammlung beim nächsten Besuch bei den Eltern mitzubringen.

Ehrlich gemeintes Lob ist der beste Stimmungsaufheller. Das Teilen von schönen Erinnerungen schafft Nähe. Beides kann ich üben. Und es tut nicht nur meinen Eltern gut, sondern auch mir.

Ehrlich gemeintes Lob ist der beste Stimmungsaufheller. Das Teilen von schönen Erinnerungen schafft Nähe.

Ich empfinde es auch als sehr hilfreich, neue, kleine Rituale zu etablieren. Mein Friseur liegt auf halber Strecke zu meinen Eltern. Seit einiger Zeit verbinde ich den Friseurbesuch mit einem Besuch „außer der Reihe“ bei meinen Eltern.

Die Frage meines Vaters neulich: „Sollen wir zuerst zu Abend essen oder kommen die Füße zuerst dran?“, zeugt für ein weiteres Ritual, das sich etabliert hat: Ich massiere meinen Eltern die Füße. Sie lieben es. Und ich liebe es auch. Es beinhaltet Berührung, Wertschätzung, Zeit zum Reden und ist kein großer Aufwand. Ein echtes Bindungselement, das beiden Seiten guttut.

Anders Feste feiern

Bei Familienfesten ist meine ältere Schwester inzwischen dankenswerterweise die Hauptorganisatorin. Sie koordiniert, wer Kuchen und Salate beisteuert, wer für Auf- und Abbau wann bereitsteht. Meine Eltern sind da komplett raus. Die Menge der Menschen ist (bei aller Freude!) anstrengend genug.

Früher haben meine Eltern all das gemanagt. Meine Schwester hat zu einer Zeit, als ich noch nicht auf den Gedanken gekommen wäre, schon gemerkt, dass es mehr Last als Lust geworden ist und hat es übernommen.

Als der 85. Geburtstag meines Vaters kurz nach überstandenem Herzinfarkt meiner Mutter im Gasthaus gefeiert wurde, hat mein Bruder ein Zimmer organisiert, in dem sie sich zum Mittagsschlaf zurückziehen konnte. Ich bin dankbar, dass wir gemeinsam darauf schauen, wo Entlastung nötig und möglich ist, wohl wissend, dass es auch ganz anders sein könnte.

Die wesentliche Frage ist immer wieder: Ist ein Ablauf oder Event noch zur aktuellen Verfassung passend? Und wenn nicht: Kann es angepasst werden (und wenn ja wie), oder nicht? Meinen Eltern ist es zum Beispiel wichtig, den Geburtstag ihrer Kinder mitfeiern zu dürfen. Allerdings fährt mein Vater nicht mehr ins unübersichtliche Freiburg. Sie hätten also geholt und gebracht werden müssen.

Ist ein Ablauf oder Event noch zur aktuellen Verfassung passend? Und wenn nicht: Kann es angepasst werden (und wenn ja wie), oder nicht?

Einer Einladung an meinem Geburtstag stand zudem die Coronaverordnung im Wege und meine Priorität, mit den eigenen Kindern feiern zu wollen. Die verteilten ihre Besuche über den Tag und damit waren die Besuchskapazitäten erschöpft.

So habe ich meine Eltern die Woche darauf zusammen mit Jürgen besucht. Ein leckeres Lieblingsessen habe ich fertig gekocht mitgebracht, und wir hatten ein schönes gemeinsames „Geburtstags-Nachfest“. Das war für uns alle eine gute Alternative.

Lieblingsplätze

Inzwischen ist es schon vier Jahre her, dass ich mit einem Teil meiner Geschwister, meinen Eltern und meinem Onkel in München war, aber es klingt noch immer nach. Das Fotobuch von diesem Erlebnis blättern meine Eltern immer wieder durch. Und wenn mein Onkel zu Besuch ist, ist es fast immer Thema. Das war etwas ganz Besonderes.

Viel weniger aufwendig und spektakulär, aber genauso warm in der Erinnerung ist ein Sonnenuntergangspicknick mit meinen Eltern an einem Lieblingsplatz mit Blick aufs Dorf.

Fotos halten Erinnerungen wach. Fotobücher sind nicht jedermanns Sache, aber schon ein kleines Album wertet das Erlebnis enorm auf und kann immer wieder hervorgeholt werden. Vom Sonnenuntergangspicknick hat mein Bruder ein gerahmtes Foto vorbeigebracht, das jetzt über dem Esstisch meiner Eltern hängt. Egal, was noch kommt: Diese schönen Erinnerungen werden bleiben.

Zum Weiterdenken

  • Welche Erlebnisse würde ich gern mit meinen Eltern teilen? Was davon ist realistisch umzusetzen? Was könnte wie angepasst werden? Wann werde ich das konkret umsetzen?
     
  • Wann/wo/wobei fühle ich mich mit meinen Eltern besonders wohl? Was könnten sich davon ausgehend für neue kleine Rituale entwickeln?
     
  • Was brachte/bringt mir und meinen Eltern im Miteinander Nähe, Entspannung, Wohlgefühl? Braucht es Anpassungen, damit das auch weiterhin so gelebt werden kann? Könnte zum Beispiel der Kuchen für das gemeinsame Kaffeetrinken künftig vom Bäcker kommen, wenn das Backen zur Last geworden ist?
     
  • Welche schönen Erinnerungen möchte ich mit meinen Eltern teilen? Was schätze ich an ihnen und könnte ich ihnen sagen?
     
  • Was könnten für mich passende Elemente sein, um Zeit mit meinen Eltern zu verbringen? Zum Beispiel: ein Gesellschaftsspiel spielen, Fotoalben anschauen, eine Serie anschauen, die wir in meiner Kindheit gesehen haben (Schwarzwaldklinik …), ein Fußballspiel anschauen oder ein Bundesliga-Tippspiel mit wöchentlichem Telefonat, eine Musical-DVD anschauen oder einen Kino-Abend mit Popcorn machen …

 

Elisabeth Vollmer ist Religionspädagogin und Mutter von drei erwachsenen Kindern. Sie lebt mit ihrem Mann in Freiburg. Dieser Artikel wurde erstmals veröffentlicht in der Zeitschrift FamilyNext 02/2022. Wir danken dem Bundes-Verlag für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung.

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