
08.10.2021 / Serviceartikel / Lesezeit: ~ 8 min
Autor/-in: Hanna WillhelmDer Traum vom einfachen Leben
Wie man als Familie trotz stressigem Alltag nachhaltig leben kann.
Wenn ich mir überlege, wie ich mir einen einfachen Lebensstil für meine Familie vorstelle, dann kommt mir zuerst Begriffe wie Ruhe, Ausgeglichenheit, Gelassenheit in den Sinn. Nichts treibt uns an. Das Mittagessen ist mit nachhaltigen Lebensmitteln und viel Liebe ohne Zeitdruck selbst gekocht. Zum Nachmittagstermin fahren wir entspannt mit dem Fahrrad und danach genießen die Kinder beim Spielen die Wärme der Herbstsonne, während im Garten das Wintergemüse zur Ernte heranreift. Für uns Erwachsene gibt es abends auf der Terrasse zum Tagesabschluss noch ein Gläschen ökologisch angebauten Wein. Einfach leben, einfach durchatmen, einfach sein. Und all das ohne schlechtes Gewissen. Das klingt gut, oder?
Monotasking statt Multitasking?
Die Frage ist bloß, ob sich ein solcher Lebensstil heute noch verwirklichen lässt. Das habe ich mich gefragt, als ich beim Wandern in den Alpen einen Waldarbeiter beobachtet habe. Während wir flott bergab unterwegs waren, schob er einen mit Ketten angetriebenen Handwagen mit seinen Werkzeugen langsam den Berg hinauf. Zu dem Waldstück, in dem er arbeiten wollte, gab es keinen anderen Zufahrtsweg. Meine erste Reaktion war Mitleid: Wie anstrengend muss es sein, wenn der Weg zum Arbeitsplatz so anstrengend und langwierig ist! Schnell mal irgendwas zu erledigen oder einen Termin zwischen zwei Aufgaben zu schieben – das geht bei einem solchen Job nicht.
Als ich abends nochmal über die Szene nachdachte, verwandelte sich das Mitleid allerdings in Neid: Wie genial, wenn man seine Arbeit einfach Schritt für Schritt erledigen kann, ohne Druck im Nacken und einer anstehenden Besprechung im Hinterkopf. Umweltfreundlich ist diese Arbeitsweise allemal. Dieser Mann kann an seinem Arbeitsplatz ohne großen Aufwand einen Lebensstil pflegen, nachdem sich viele Menschen einschließlich mir heute sehnen.
Die spannende Frage ist: Wären wir auch bereit, die damit verbundenen Einschränkungen, die Langsamkeit, den Verzicht in Kauf zu nehmen?
Es ist diese Spannung, die ich wahrnehme, wenn ich herauszufinden versuche, wie ein einfacher Lebensstil für uns als Familie aussehen könnte. Folgende Punkte sind mir dabei wichtig geworden:
Einfach leben heißt: Es passt zu uns
Was passt zu uns als Familie? Ich glaube, das ist tatsächlich eine der entscheidenden Fragen auf dem Weg zu einem einfacheren Lebensstil. Das anfangs beschrieben Idyll eines ruhigen Lebens muss sich am Alltag messen lassen. Damit Wunsch und Wirklichkeit dabei nicht knallhart aufeinandertreffen, hilft nur eines: Prioritäten setzen!
Ja, es wäre schön und im Sinne eines nachhaltigen Lebensstils, wenn ich mit den Kindern selbst Gemüse anpflanzen und ernten könnte. Aber ganz ehrlich: Das ist nicht meins. Ich bin froh, wenn ich ein paar Erdbeeren und Tomaten über den Sommer bekomme. Gemüse und Kräuter kaufe ich lieber bequem und frisch im Supermarkt. Es wäre auch cool, wenn ich unser Brot selbst backen würde. Allerdings reizt mich das Ansetzen eines Sauerteiges nicht im Geringsten. Dafür fehlt mir die Geduld.
Diese Erkenntnis heißt umgekehrt nicht, dass man als Familie nicht einzelne Projekte umsetzen kann. Ich habe zum Beispiel meine Leidenschaft für Stauden entdeckt. Dafür musste ich mich nicht erst mühsam aufraffen, weil es gerade angesagt war. Die schwer zu mähenden Stellen in unserem Garten waren Motivation genug. Auch hier brauche ich Geduld und erlebe, dass Pflanzen eingehen, weil ich aus Unwissenheit den falschen Standort gewählt habe. Aber hier merke ich, dass ich – im Gegensatz zum Brotbacken und Gemüseziehen – tatsächlich bereit bin, den entsprechenden Aufwand auf mich zu nehmen.
Die erste Frage auf dem Weg zum einfachen Lebensstil heißt also: Was passt zu uns als Familie und was setzen wir gerne um und nicht, weil andere es so machen oder weil man es machen sollte?
Es ist besser, einzelne Projekte wirklich durchzuziehen, als zu viel auf einmal zu wollen und daran zu scheitern.
Einfach leben heißt: Es muss nicht aufwändig sein
Der zweite Punkt lautet, dass man es sich im wahrsten Sinne des Wortes einfach machen darf! Wir haben heute die Möglichkeit, auf Hilfsmittel zurückzugreifen, die frühere Generationen nicht hatten. Sie verantwortungsvoll zu nutzen, darf uns tatsächlich entlasten, ohne dass wir uns dabei schlecht fühlen müssten.
Diese Erkenntnis trifft nicht nur auf das Essen und die Produktion von Lebensmitteln zu. Die jährlich wiederkehrende Gretchenfrage heißt hier für mich: Wie gestaltest Du die Geburtstage deiner Kinder? Als Event auf dem Reiterhof oder der Bowlingbahn? Oder doch lieber zuhause als Mottoparty mit abgestimmter Dekoration, Schatzsuche und selbstgebackenem Kuchen? Ich kann beiden Versionen etwas abgewinnen, allerdings in abgespeckter Form.
Als Familie einfach zu leben, heißt hier für mich, alles eine Nummer kleiner zu denken und Hilfsmittel anzunehmen, wo es sie gibt und wo ich sie brauche.
Ich bin keine Rabenmutter, wenn ich auf die Benjamin-Blümchen-Tiefkühltorte zurückgreife, statt mehrere Abende lang ein Meisterwerk zu kreieren. Die Hälfte des Gebäcks liegt nachher sowieso auf Tisch und Boden. Genauso wenig muss ich mit einer Horde neunjähriger Jungs auf Biegen und Brechen ein Programm zu Hause veranstalten. Für sie ist der nächsten Indoorspielplatz die perfekte Location – ganz ohne schlechtes Gewissen, ob das pädagogisch besonders wertvoll ist oder was andere Eltern darüber denken.
Einfach leben heißt: Es geht ums Hier und Jetzt
Vielleicht ist das heute die größte Herausforderung für Familien: Im Moment zu leben. Der Tagesablauf ist von so vielen Terminen bestimmt, dass man gedanklich immer schon ein, zwei Stunden weiter ist. Das Handy zieht uns ebenfalls ständig heraus aus dem Augenblick.
Bringe ich die Selbstbeherrschung auf, das Smartphone links liegen zu lassen, während mein Sohn und ich uns durch seine Hausaufgaben kämpfen? Bin ich gedanklich ungeteilt bei dem Bilderbuch, das ich vorlese, oder überlege ich, was ich in der nächsten halben Stunde noch erledigen will? Habe ich etwas Hilfreiches zu einem Post in den sozialen Netzwerken zu sagen, oder will ich nur meinem Unmut Luft machen? Es ärgert mich, wenn ich mich bei einem solchen Verhalten ertappe. Trotzdem gelingt es mir nicht immer, mich anders zu verhalten.
Der Schweizer Autor Rolf Dobelli hat mich an diesem Punkt mit seinem Buch „Die Kunst des digitalen Lebens“ ins Nachdenken gebracht. Seine Kernaussage lautet, dass wir auf ständigen News und die Informationsflut verzichten können, ohne dabei etwas Wesentliches zu verpassen. Um diese These zu bestätigen, fordert er seine Leser zu folgendem Experiment auf:
Schreiben Sie auf ein Blatt Papier alle Nachrichten aus den letzten zehn Jahren auf, an die Sie sich erinnern. Überlegen Sie dann, welche dieser Informationen Ihnen dabei geholfen haben, klügere Entscheidungen zu treffen, weiser und ausgeglichener zu leben, zielgerichteter zu handeln oder die Weltpolitik besser zu verstehen. Wenn es Ihnen geht wie mir, dann ist das Ergebnis überschaubar.
Dobelli rät dazu, (Sach-)Bücher zu lesen oder gute Podcasts zu hören, statt ständig News zu konsumieren. Das entspannt und hilft im Idealfall dabei, sich ganz auf ein Thema einzulassen. Dobellis Credo lautet außerdem, dass man nicht zu allem eine Meinung haben muss. Provozierend schreibt er:
Neunzig Prozent Ihrer Meinungen sind überflüssig. Sparen sie sie sich und lassen Sie ihren Meinungsvulkan nicht noch zusätzlich durch die News aufheizen.
Ich möchte hinzufügen: Wenn ich mich austausche, warum dann nicht mit realen Menschen in meinem Umfeld? Sie sind es schließlich, mit denen ich mein Leben in der Wirklichkeit teile. Und wenn ich schon Fragen beantworte, warum dann nicht die meiner Kinder? Im Gegensatz zu den Kommentarspalten im Internet habe ich auf sie tatsächlich einen Einfluss.
Einfach leben heißt: Es geht nicht ohne Verzicht
Im Verzicht trifft ein einfaches Leben eins zu eins mit Nachhaltigkeit zusammen. Vielleicht hat es Sie gestört, dass von Nachhaltigkeit bislang kaum die Rede war, obwohl Sie vom Titel her etwas derartiges erwartet haben. Das kann ich nachvollziehen. Trotzdem gehören für mich die ersten drei Faktoren dazu. Denn nachhaltiges Handeln beschränkt sich nicht auf meinen Konsum. Nachhaltig zu leben hat etwas damit zu tun, dass ich mich grundsätzlich einschränken kann – egal welcher Lebensbereich betroffen ist.
Es geht darum, die eigenen Begrenzungen anzunehmen und innerhalb dieser Grenzen (gerne) leben zu lernen. Die Kernfrage eines nachhaltigen, einfachen Lebens ist: Kann ich mit dem leben, was ich habe und bin, ohne ständig mehr oder anderes zu wollen?
Das beeinflusst auch meine Erziehung. Ganz bewusst erfülle ich meinen Kindern nicht jeden Wunsch nach einem neuen Spielzeug. Auch dann nicht, wenn es finanziell möglich wäre. Ich möchte, dass sie begreifen, dass Glück nicht von Konsum abhängt. Umgekehrt übertrage ich ihnen kleine Aufgaben im Haushalt, selbst wenn das nicht auf Gegenliebe stößt. So lernen sie, dass sie nicht zu klein sind, um mitzuhelfen und etwas zu bewirken. Das ist nicht nur ein sehr befriedigendes Gefühl. Es kann auch Mut machen, selbst mit anzupacken, Müll zu trennen oder Plastik zu vermeiden.
Einfach leben heißt: Gemeinsam statt nur individuell
Welche Rolle die Gemeinschaft für einen einfachen Lebensstil spielt, das wurde mir bewusst, als ich mich eine Zeit lang intensiver mit den Amischen auseinandergesetzt habe. Diese sehr traditionell lebende Glaubensgemeinschaft in den USA bezeichnet ihre Art zu leben passenderweise als einfach oder schlicht.
Die Autorin Jodi Picoult lässt eine Amische diese Lebensweise in ihrem Roman „Die einzige Wahrheit“ folgenderweise beschreiben:
Für Euch geht es immer nur darum, sich irgendwie hervorzutun. Wer ist der Reichste, wer ist der Beste. Für uns geht es darum, mit den anderen eine Einheit zu bilden. Wie die Stoffstücke in einem Quilt. Betrachtet man uns einzeln, machen wir nicht viel her. Aber zusammen sind wir etwas Wunderbares.“ Und etwas später in der Handlung ergänzt der Bruder der Hauptperson diese Beschreibung so: „Viele Leute meinen, die Amischen wären dumm, weil sie sich von der Welt überrollen lassen. Aber amische Menschen sind klug, sie sind bloß nicht selbstsüchtig genug, um gierig zu sein, oder herrisch oder stolz.
Nun gehe ich nicht davon aus, dass amische Menschen selbstlose Heilige sind. Aber ihre Haltung zu Besitz und zur Gemeinschaft verhindert möglicherweise die Einstellung, die in unserer westlichen Gesellschaft zur Triebfeder für maßlosen Konsum und für das Streben nach Selbstoptimierung, neudeutsch Self-Enhancement geworden ist.
Wenn ich mich in einer Familie, einer Gruppe, beheimatet weiß, dann muss ich mein eigenes Dasein nicht ständig aufhübschen. Dann bin ich getragen und angenommen und muss meinen Wert nicht andauernd durch Leistung oder Neuanschaffungen beweisen.
Deswegen hat ein nachhaltiges Leben auch damit zu tun, wie wir miteinander umgehen und uns annehmen. Wenn ich mich, meine Familie oder meinen Besitz nicht ständig vergleichen muss, kann ich mich auf den Beitrag konzentrieren, den wir zu einem besseren Leben für alle beitragen können. In meinem Fall ist das garantiert nicht das selbstgezogene Gemüse. Aber vielleicht bekommen Sie das ja hin – und profitieren umgekehrt von meinen bienenfreundlichen Stauden.
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