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© Ashley Batz / unsplash.com

20.02.2021 / Wissenschaft / Lesezeit: ~ 7 min

Autor/-in: Siegfried Scherer, Simone Merz

„Die Wissenschaft hat festgestellt“

Naturwissenschaft auf der Suche nach der Wahrheit.

Da lese ich in der Zeitung: „Eine neue wissenschaftliche Studie hat ergeben, dass Kinder doch ansteckendender sind, was das Corona-Virus betrifft, als gedacht.“ Wenig später scrolle ich durch mein Handy und lese dort, dass eine andere Studie genau das Gegenteil bewiesen hat. Ich lasse resigniert mein Smartphone sinken und frage mich: „Wer hat denn nun recht? Was ist wahr und was nicht?“.
 

 

Prof. Dr. Siegfried Scherer nähert sich diesem Thema von der naturwissenschaftlichen Richtung her. Er ist der Leiter des Lehrstuhls für Mikrobielle Ökologie an der Technischen Universität München.

Im Oktober 2020 hielt er einen Vortrag zum Thema „Naturwissenschaft und Wahrheit“ auf der Herbstkonferenz der SMD. Hier seine Hauptaussagen zusammengefasst:

Naturwissenschaft – Lieber „richtig“ als „wahr“

Die Naturwissenschaft und ihr Potenzial sind fantastisch! Was wir heute können! Andererseits: Wie ist das mit naturwissenschaftlicher Erkenntnis? Ist sie wahr oder ist sie richtig? Und wie ist das mit den Begrenzungen der naturwissenschaftlichen Erkenntnis? Das sind die Themen, die ich mit Ihnen in diesem Vortrag besprechen will.

Man kann immer wieder folgende Definition lesen: „Eine naturwissenschaftliche Erkenntnis ist wahr, wenn sie die Wirklichkeit korrekt beschreibt.“ Hier stellen sich viele Fragen: Was ist eigentlich Wirklichkeit? Und was ist im Einzelnen eine korrekte Beschreibung? Dazu gibt es unterschiedliche Meinungen. Es ist nicht so einfach zu definieren, was Wahrheit in den Naturwissenschaften ist. Deshalb würde ich persönlich lieber von „Richtigkeit“ sprechen, nicht von „Wahrheit“. Ich würde diesen Begriff vielleicht so definieren:

Eine naturwissenschaftliche Erkenntnis gilt vorläufig als richtig, wenn die überwiegende Mehrheit der Wissenschaftsgemeinschaft der Meinung ist, dass diese Erkenntnis mit den geräteabhängigen Messergebnissen und Beobachtungsdaten weitgehend widerspruchsfrei übereinstimmt.

Das war jetzt kompliziert, Sie haben aber schon gemerkt, da sind einige Einschränkungen drin. Ich will damit sagen, es gibt verschiedene Grade der Gewissheit naturwissenschaftlicher Erkenntnis. Ich bevorzuge es deshalb, von der „vorläufigen Richtigkeit einer naturwissenschaftlichen Aussage“ zu sprechen, die so lange gilt, wie sie nicht durch Messergebnisse ernsthaft in Frage gestellt wird.

Jede Methode hat ihre Grenzen – oder wiederholen Sie mal ein Wunder!

Wie kommen wir denn aber zu unseren naturwissenschaftlichen Aussagen? Vereinfacht gesagt: Wir gehen von Experimenten und von Beobachtungen aus. Wir designen Experimente und daraus gewinnen wir Daten. Das sind zunächst einmal Messergebnisse und Beobachtungen. Diese versuchen wir, sinnvoll zusammenzufügen zu Hypothesen, zu Theorien. Diese Theorie testen wir dann wieder anhand von neuen Experimenten. Wir gewinnen neue Daten und so geht dieser Zirkel im Kreis.

Je mehr Daten wir gewinnen und je widerspruchsloser wir sie interpretieren können, desto mehr sind wir davon überzeugt, dass unsere Aussage richtig ist. Die Fragestellung, die wir so beantworten wollen, ist: Wie sind die gegenwärtige Struktur und die Funktion der Welt? Wir stellen die „Wie“-Frage.

Unsere empirische Methode, die wir dafür anwenden, hat eine Reihe von Merkmalen:
 

  1. Wiederholbarkeit
    Das wichtigste Merkmal ist, dass wir Vorgänge untersuchen, die man immer wieder wiederholen kann, entweder im Labor oder in der Beobachtung draußen. Nur solche Dinge sind für uns relevant.
     
  2. Gegenwärtiges
    Damit hängt es zusammen, dass wir auch nur gegenwärtige Vorgänge untersuchen können. Ich kann ja nichts untersuchen, was in der Vergangenheit abgelaufen ist oder was in der Zukunft ablaufen wird.
     
  3. Natürliches
    Und wir beschränken uns als Naturwissenschaftler auf die Suche nach den natürlichen Ursachen. Das schließt alles aus, was mit Gott zu tun hat, was mit irgendwelchen übernatürlichen Einflüssen zu tun hat. Das nennt man auch den methodischen Atheismus. Deshalb kann die Naturwissenschaft Gott nicht beweisen, und sie kann Gott nicht widerlegen. Die Konsequenz daraus ist, dass die Naturwissenschaft religionsneutral ist. Deshalb kann die Naturwissenschaft nur einen Teil der Welt erklären.

 

Die Welt aber, die Wirklichkeit umfassend, ist riesig. Es gibt beispielsweise so viele einmalige Ereignisse in unserem Leben, die wir nicht ins Labor packen können. Nehmen wir unsere Gottesdienste: Wir beten auch für Menschen, die Nöte haben, die krank sind, die Rat suchen, die Gottes Hilfe suchen und es kommt nicht selten vor, dass Gott Gebete erhört. Solche Situation kann ich nicht wiederholen. Es ist unmöglich. Diese singulären Ereignisse fallen also komplett aus dem Erklärungsbereich der Naturwissenschaft heraus.

Ich fasse zusammen:

Die Naturwissenschaft kann nur einen Teil der Welt erklären. Die empirische Methode, die wir benutzen, ist einer unter mehreren Wegen, um Erkenntnis zu gewinnen. Deshalb ist es nicht angebracht, wenn Naturwissenschaftler einen Absolutheitsanspruch erheben, wenn sie sagen: „Wir sind die einzigen, die etwas Verlässliches über die Welt sagen können.“. Das ist vollkommen daneben, entspricht nicht den Tatsachen.

Alle Erkenntnis ist Stückwerk – deshalb immer kritisch bleiben

Seit Werner Heisenberg, 1932 Nobelpreisträger in der Physik, wissen wir, dass es prinzipielle Grenzen der Erkenntnis gibt. Es ist unmöglich, eine absolute Festlegung von Ursache- und Wirkungsbeziehung auf der Quantenebene durchzuführen. Nicht, weil wir nicht genau genug messen könnten, weil wir bessere Geräte brauchen würden, nein, das ist ein grundsätzliches Problem.

Außerdem wird die naturwissenschaftliche Erkenntnis durch die Komplexität der Untersuchungsgegenstände begrenzt. Ein Beispiel: Wenn ich im Bereich der Gensequenzierung Experimente durchführe, erheben wir Datensätze, das Big Data. Sie besteht aus einer Milliarde Datenpunkte. Will man die abspeichern, brauchen wir 75 Gigabyte und das kostet 5.000 Euro. Diese experimentellen Daten zuverlässig zu interpretieren, ja auch, sie zuverlässig exakt zu wiederholen, ist eine ungeheuer komplexe Aufgabe, die oft nicht mehr zu leisten ist.

Naturwissenschaftliche Erkenntnis wird aber durch die menschliche Natur und das menschliche Verhalten begrenzt, denn alle unsere Erkenntnis ist gebunden an unser Gehirn. Dinge, die nicht in die grundsätzliche Struktur und Wahrnehmungsfähigkeit des zentralen Nervensystems passen, können wir nicht erforschen, und zwar grundsätzlich und prinzipiell nicht.

Eine weitere Begrenzung, mit der wir laufend konfrontiert sind, ist der Stand des Wissens. Ich kann nur Dinge erkennen auf dem Stand des Wissens, der im Augenblick zur Verfügung steht. Schon deshalb kann naturwissenschaftliche Erkenntnis oft nicht absolut sein, weil sie gekoppelt ist an das, was ich jetzt weiß, und vielleicht weiß ich ja in zehn Jahren viel mehr.

Bei Begrenzungen spielen aber auch wissenschaftliche Interessen der Forschung eine Rolle und soziologische Systeme. Das heißt, es gibt herrschende Denksysteme, Schulen, in denen das Forschen und die Theoriebildung ablaufen. Man könnte in diesem Zusammenhang auch über wissenschaftlich motivierte Forschungsförderung reden. Wo wird überhaupt Geld reingesteckt?

Das heißt, was werden wir wissen und was werden wir erkennen? Und so kommen wir zur Begrenzung der politisch motivierten Forschungsförderung. Das, was da politisch gefördert wird, das wird gewusst. Alles, was dem entgegensteht, wird nicht gefördert das werden wir auch nicht wissen. Das ist typisch menschlich.

Ich fasse das zusammen:

Aussagen und Meinungen von Naturwissenschaftlern dürfen und müssen aus all diesen Gründen grundsätzlich hinterfragt werden. Die Wissenschaft lebt davon, dass wir kritische Fragen stellen. Karl Popper, einer der ganz großen Wissenschaftsphilosophen, hat gesagt, wir arbeiten nach der Methode von Versuch und Irrtum. Es ist die Methode, kühne Hypothesen aufzustellen und sie der schärfsten Kritik auszusetzen, um herauszufinden, wo wir uns geirrt haben. Wenn es mal soweit ist, dass kritische Fragen nicht mehr erlaubt sind, dann ist Feuer unterm Dach.

Naturwissenschaft kann vieles richtig gut – auch sich selbst korrigieren

Nun hat die Naturwissenschaft aber auch eine ganze Reihe von Selbstkorrektur-Mechanismen, die dafür sorgen, dass Irrtümer, Falschaussagen, Vorläufigkeiten nicht überhandnehmen, die letztendlich auch dafür sorgen, dass wir bedenkenlos in einen Flieger steigen können, weil die entsprechenden Gesetzmäßigkeiten berücksichtigt worden sind.

Was sind also die Selbstkorrektur-Mechanismen der Naturwissenschaft?

  1. Viele Naturwissenschaftler haben etwas, was ich persönlich als Wahrheits-Gen betrachte. Sie haben etwas in sich, was sie dazu bringt, kompromisslos nach der richtigen Beschreibung der naturwissenschaftlichen Erkenntnis zu suchen. Sie wollen keine Fehler tolerieren.
  2. Dann gibt es den internationalen Austausch in der Wissenschaftsgemeinschaft. Wenn wir an einem Thema forschen, gibt es Dutzende Arbeitsgruppen in der Welt, die ähnliche Fragestellungen bearbeiten. Wenn der Vergleich ergibt, dass die Ergebnisse identisch sind, haben wir ein ganz starkes Argument, dass es richtig ist.
  3. Dazu kommt auch der „peer pressure“, also der Druck der Wissenschaftsgemeinschaft, das was wir als den guten Ruf bezeichnen. Jeder Mensch legt Wert darauf, dass er einen guten Ruf hat und Naturwissenschaftler sind doch auch nur Menschen. Das erzeugt den Druck, dass man nicht Dinge behauptet, die vielleicht gar nicht stimmen.
  4. Außerdem verfügt auch so mancher Naturwissenschaftler über das Neid-Gen. Da unterscheiden sie sich ja auch nicht vom Rest der Bevölkerung. Das haben wir alle. Das bedeutet, ich werde ganz genau darauf achten, was sagt denn der Kollege? Und wenn der erfolgreich ist und ich merke, da stimmt doch irgendetwas nicht mit seiner Aussage, dann werde ich sehr, sehr darauf achten, dass es bekannt wird.
     

Das alles führt am Ende dazu, dass naturwissenschaftliche Aussagen im Lauf der Zeit immer zuverlässiger, immer korrekter werden, auch wenn sie niemals absolut wahr sein werden. Trotz aller Begrenzungen ist die naturwissenschaftliche Methode eine der leistungsfähigsten wissenschaftlichen Erkenntnisformen, weil sie über mehrere Mechanismen der Irrtums-Korrektur verfügt. Weil das so ist, gehe ich zum Arzt und wenn es möglich ist, werde ich mich bald gegen Corona impfen lassen oder deshalb steige ich auch in ein Flugzeug und vertraue darauf, dass ich wieder heil herunterkomme.

Naturwissenschaft ist ein wunderbarer Weg, den Gott uns gegeben hat, um etwas erkennen zu können von der fantastischen Schöpfung, die er geschaffen hat. Naturwissenschaftler haben das ungeheure Vorrecht, mit naturwissenschaftlichen Methoden, die Schöpfung Gottes zu untersuchen. Das ist unglaublich faszinierend und stellen Sie sich vor, ich werde als Professor auch noch dafür bezahlt.

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