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18.10.2016 / Ein Porträt / Lesezeit: ~ 8 min

Autor/-in: Tanja Rinsland

Das Erbe unseres Sohnes

Der Tod ihres Sohnes wirft sie aus der Bahn - und bringt sie schließlich zu Gott.

Liebevoll packt Christine Tietz wieder einmal ihre prall gefüllte Fotokiste aus und lässt ihr Finger über die vielen Bilder gleiten. Jedes einzelne hat eine eigene Geschichte. 20 Jahre Leben stecken zwischen den vielen Portraits und Schnappschüssen. 20 Jahre Alfred.

„Der Alfred war ein ruhiges Kind. Er hat wenig von sich aus erzählt oder gesprochen.“ Schmunzelnd erinnert sich Christine Tietz an so manche Eigenheit ihres Sohnes. Alfred liebte es zum Beispiel, seine Mutter auf einen Einkaufsbummel zu begleiten. Danach setzten sie sich auf eine Bank, beobachteten die Passanten und lachten über die Kleinigkeiten des Lebens.

Alfred beschäftigte sich mit dem Tod

Christine seufzt. Sie weiß, dass ihr Alfred anders war als die anderen Kinder. Während sich andere Jungs mit acht Jahren für Fußball und Technik interessierten, beschäftigte sich ihr Sohn mit dem Tod. Regelmäßig besuchte er den Friedhof, besah sich die Grabsteine, dachte nach, betete.

Auf den Fotos lacht ihr dutzendfach ein fröhlicher, sommersprossiger Junge entgegen, um den Hals ein großes Holzkreuz. Selbst im Urlaub wollte Alfred sein Kreuz tragen, er schämte sich nicht, seinen Glauben zu bezeugen. Noch im Kindergartenalter hatte er begonnen, regelmäßig in den Gottesdienst zu gehen – alleine. Denn Christine und ihr Mann Klaus konnten mit der Religiosität ihres Kindes nichts anfangen. Statt dessen schauten sie ihm Sonntag für Sonntag verwundert nach, wie er in seinen besten Klamotten fröhlich zur Kirche ging. Ihr Sohn hatte wohl einen Gott-Tick.

Wegen Lymphdrüsenkrebs Gott verflucht

Diesen Gott, den ihr Sohn so liebte, sollte Christine Tietz später voller Bitterkeit verfluchen, als Alfred mit 19 Jahren die Diagnose Lymphdrüsenkrebs bekam. Viel zu spät hatten die Ärzte die faustgroßen Tumore entdeckt, die in seinem Körper gewachsen waren. Trotzdem verbreiteten sie Optimismus und versprachen den geschockten Eltern, dass die Chemotherapie den Krebs „wegschmelzen“ würde „wie warme Butter.“

Alfred selbst wusste es besser. Nach einigen Monaten schmerzhafter Therapie begann er in seiner stillen Art Abschied zu nehmen. Er verschenkte seine Habseligkeiten und betete, wie schon als Kind voller Vertrauen zu seinem himmlischen Vater. Seine Mutter verstand ihn nicht: „Warum betest du zu einem Gott, der zugelassen hat, dass du krank wirst? Du hast doch niemandem was zu leide getan!“ Doch er ließ ihre Einwände nicht gelten: „Wenn Gott will, dass ich gehe, kannst du nichts dagegen machen.“

Ein Herzanhänger, damit „mein Herz immer bei Euch ist“

Christine Tietz spürte, dass etwas an den zuversichtlichen Worten der Ärzte nicht stimmen konnte. Doch sie wollte ihnen so sehr glauben, dass sie alle Zweifel weit von sich schob. Bis Alfred ihr ein besonderes Geburtstagsgeschenk machte. Er war gleich morgens früh aufgestanden und hatte sie in der Küche überrascht, in den Händen eine Halskette mit Herzanhänger. „Mutter, wenn ich heut nicht mehr bin, sollt ihr wissen, dass mein Herz immer bei euch ist.“

In diesem Moment wurde ihr schmerzlich bewusst, dass ihr Sohn die Krankheit nicht überleben würde. Noch am gleichen Tag fuhr sie voller Angst ins Krankenhaus und stellte den Arzt zur Rede. Erst wollte der Mediziner sie mit den gleichen Floskeln abspeisen wie die letzten Male, doch Christine war nicht länger bereit, sich anlügen zu lassen. Verzweifelt schlug sie ihre Faust auf den Tisch: „Ich spür doch, dass irgendwas ist!“ Und dann rückte der Arzt endlich mit der Wahrheit raus: Alfred hatte vielleicht noch sechs Wochen zu leben. Wenn überhaupt. Ihr Sohn lag im Sterben und es gab nichts mehr, was sie dagegen machen konnten. Es war vorbei.

„Gut‘ Nacht, Mama! Morgen früh wie immer einen Kaba und ein Hörnchen.“

Christines Fotokiste beinhaltet nicht nur lustige Urlaubsschnappschüsse und Kindheitserinnerungen. Es gibt auch die anderen Bilder, die einen schlaksigen, jungen Mann zeigen, dem alle Haare ausgefallen sind. Müde lächelt er in die Kamera, auf dicke Kissen gebettet, während eine Krankenschwester ihm einen neuen Tropf anlegt. Und doch: es ist der gleiche verträumte Blick wie auf den anderen Fotos, den vor der Krankheit. Alfred hatte seinen Frieden gemacht mit dem Tod. Und mit Gott, der nichts gegen die Tumore in seinem Körper unternahm.

Nachdem Christine und Klaus von der niederschmetternden Diagnose ihres Kindes erfahren hatten, blieben ihnen nur noch wenige Wochen, um sich zu verabschieden. Da sich Alfreds Zustand immer weiter verschlechterte, brachten ihn seine Eltern ins Krankenhaus. Doch selbst über Nacht wollten sie ihn nicht alleine lassen. Also schoben die Ärzte ein Zusatzbett für Christine ins Zimmer, Klaus machte es sich in einem Sessel gemütlich. Alfred lag zufrieden im Bett, doch bevor ihm seine Augen zufielen, drehte er sich noch einmal zu seiner Mutter um: „Gut‘ Nacht, Mama! Morgen früh wie immer einen Kaba und ein Hörnchen.“ Dann schlief er ein. Christine konnte kaum glauben, dass ihr Sohn, der gerne Schokolade trank und Pizza aß, bald nicht mehr da sein würde. Sie hatte aus den Nachbarzimmern manchmal Schreie gehört: es waren andere Krebspatienten, die unter furchtbaren Schmerzen starben. Der Arzt hatte sie gewarnt, dass auch Alfred einen solchen Tod haben könnte.

Alfred strahlte aus den Augen

Mitten in der Nacht wurde Alfred plötzlich unruhig. Er hob seinen Oberkörper, starrte Richtung Fußende, griff in die Luft. Vater Klaus stürzte an seine Seite und versuchte, ihn aufzufangen. Doch Alfred bemerkte ihn kaum. Statt dessen begann er zu sprechen: „Ich geh, ja ich komm, ich geh jetzt!“ Eigentlich war das Zimmer dunkel gewesen, doch auf einmal veränderte sich die ganze Atmosphäre. Ein Erlebnis, das Christine Tietz nie vergessen hat: „Plötzlich wurde es so hell in dem Zimmer, dass ich meinte, ein Licht sei angegangen. Es war ein Strahlen, Alfred strahlte aus den Augen heraus.“ Dann lehnte er sich wieder zurück in sein Bett und schlief ein. Christine spürte, dass etwas Übernatürliches geschehen war. Was hatte ihr Sohn am Bettende gesehen? Mit wem hatte er gesprochen? Und woher kam das Licht, dass ihn so hatte leuchten lassen? Besorgt beobachtete sie ihn, aber sein Gesicht strahlte tiefen Frieden aus.

Am darauffolgenden Morgen starb Alfred Tietz um 9:30 Uhr, im Alter von nur 20 Jahren. Er war friedlich eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht.
Seit diesem Tag kommen keine neuen Fotos in Christines Fotokiste hinzu: Alfred als Student. Seine Hochzeit. Wie er Familie gründet. Schnappschüsse von den Enkeln, die sie nie haben wird. All diese Bilder fehlen in ihrer Sammlung. Die Trauer um ihr Kind hat nie aufgehört. Auch heute, nach fast 30 Jahren, ist die Lücke noch da.

Zutiefst depressiv aus Trauer

Damals, nach seinem Tod, hatte der Schmerz sie zerbrochen. In den Wochen und Monaten nach der Beerdigung verbrachte sie viel Zeit im Bett. Sie vernachlässigte den Haushalt und war selbst für ihren Mann Klaus kaum ansprechbar. Christine hatte nicht nur ihren Sohn verloren, auch ihr Lebenswille war an seinem Krankenbett gestorben. Tagsüber quälten sie Depressionen, nachts hielten sie Albträume wach. Mehr als einmal war sie in ihrer Verzweiflung an einen Bahndamm gegangen und hatte Ausschau nach dem Zug gehalten, um sich davor zu werfen. Und jedes Mal war ihr Mann schneller gewesen, hatte sie von den Gleisen weggezerrt und nach Hause gebracht. Nur langsam lernte Christine Tietz, wieder zu leben – den Haushalt anzupacken, Geburtstage zu feiern, für ihren Mann da zu sein. Sie kämpfte sich zurück in den Alltag, doch die Trauer blieb. Es dauerte fünf Jahre, bis sie das erste Mal wieder lachen konnte.

Doch eine Frage quälte sie all die Jahre: Was war in dieser letzten Nacht passiert? Wen hatte ihr Sohn damals gesehen, mit wem hatte er gesprochen? Christine Tietz versuchte, Antworten auf ihre Fragen zu finden, doch es war vergeblich. Sie kam dem Glauben ihre Sohnes einfach nicht allein auf die Spur, sie verstand nicht, was ihm so viel Trost gegeben hatte.

Mit der Nachbarin auf Alfreds Spur

Schließlich bekam Christine Tietz von ungeahnter Seite Hilfe: Nach einem Umzug lernte sie eine ihrer neuen Nachbarinnen kennen. Und als sie von ihrer Suche nach Antworten erzählte, lud die Frau sie zu einem Gottesdienst ein. Christine hatte nichts mehr zu verlieren, also entschied sie sich, die Nachbarin zu begleiten – eine folgenschere Entscheidung: „In meinem Herzen hat sich was bewegt! Ich stand da im Gottesdienst und habe gedacht: ‚Alfred, wenn es diesen Gott gibt, den du gekannt hast, dann will ich den kennenlernen!‘ “

Plötzlich spürte Christine Tietz, dass dieser Gott, den sie verflucht hatte, ihr nahe kommen wollte. Gänsehaut überzog ihren Körper, und ihr flossen die Tränen – stundenlang. War es das, was Alfred in seinem Herzen gehabt hatte? War es das, was ihn bis zum Schluss gehalten hatte, während sie immer verzweifelter wurde? Sie ahnte, dass sie endlich auf der richtigen Spur war.

Jesus kannte die Schmerzen und das Leid

Sie wollte mehr. Christine begann, die Bibel zu lesen, besuchte Gottesdienste, nahm an Bibelabenden teil. Auf einmal verstand sie, dass Gott selbst gelitten hatte – dass er in Jesus Schmerzen ertragen und mit dem Tod gekämpft hatte. Je mehr sie sich Jesus näherte, um so ruhiger wurde ihr trauerndes Herz. Sie musste sich nicht länger zusammenreißen, um zu funktionieren – echte Freude kehrte bei ihr ein. Auch Klaus, der dem neuen Glauben seiner Frau erst skeptisch gegenüberstand, spürte, wie Christine sich von Grund auf veränderte und begleitete sie in die christliche Gemeinde. Beide entschieden sich, ihr Leben mit Jesus zu leben.

Endlich verstanden sie auch, was damals am Sterbebett passiert war: Alfred hatte gewusst, dass das Leben auf Erden nicht das Ende sein würde. Und als er im Sterben lag, hatte Gott ihn zu sich in die Herrlichkeit geholt und er hatte sich auf ein Leben ohne Krebs, ohne Krankenhäuser und ohne Leiden gefreut.

Heute ist die Trauer anders

Christine Tietz legt die Fotos zurück in ihre Kiste. Früher hatten sie die Erinnerungen an Alfred gequält. Alles war überschattet gewesen vom Schmerz, ihn so früh verloren zu haben. Einfach ist es immer noch nicht, der Verlust bleibt. Und trotzdem ist Christines Leben heute erfüllt von Freude und Hoffnung. Denn seitdem sie Jesus kennengelernt hat, ist alles anders geworden: „Heute weiß ich, dass es ein Leben nach dem Tod gibt. Und dass Gott uns unser Leben lang begleitet. Ich bin nicht die einzige Mutter, die ihr Kind verloren hat. Aber ich würde jedem wünschen, dass er den Glauben finden kann, den unser Alfred als Kind hatte und den ich heute habe, denn ich weiß: Ich stehe mal vor Gottes Tür und sie geht auf.“


Schauen Sie sich die Sendung mit Christine Tietz bei Mensch, Gott! an.

 

 

Ihr Kommentar

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Kommentare (6)

Lisa F. /

Liebe Christa habe deine herz greifende geschichte gelehsen ich hatte kein anung aber ich wusste und habe gefuehlt das da was besonderes an dir ist. Gott beschuetze dich. Hab dich lieb.

Christian L. /

Sehr berührend, das war wirklich Gott, der in das Leben eingegriffen hat. Diese Geschichte wäre es wert als Buch veröffentlicht zu werden. Ich wünsche den Eltern Gottes Segen, ich glaube, dass sie mehr

Vera W. /

Inci A. /

Liebe Christine, ich habe selber ein Kind mit einer lebenslimmitierenden Erkrankung. Welch ein Segen, dass Sie ebenso wie ihr Sohn Alfred zum Glauben an unseren HERRN gefunden haben und um Gottes mehr

Margot D. /

Ein bewegender Bericht! Wie schön, daß Christine und Klaus das Geheimnis ihres Sohnes entdeckt haben!

Tonia /

Wow, das ist so berührend!

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