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04.05.2022 / Zum Schwerpunktthema / Lesezeit: ~ 6 min

Autor/-in: Katharina Heiser

Kind Gottes!

Ein Annäherungsversuch von Katharina Heiser an die große Frage des Lebens: Wer bin ich wirklich?

Herr Gärtner war ein kleiner, alter und sehr agiler Mann. Gemeinsam mit Frau Gärtner wohnte er schon immer im dritten Stock des Mehrfamilienhauses in der Kölner Südstadt. Er war die gute Seele des Hauses, in das ich 2009 einzog. Schon bevor das passierte, erwähnte die Hausverwaltung beiläufig, falls ich einmal Probleme habe, könne ich mich an Herrn Gärtner wenden. Am Tag meines Einzuges sprang er wie selbstverständlich aus seiner Garage heraus auf mich zu und stellte sich vor. Als ich meinen Namen sagte, leuchteten seine Augen auf. „Katharina, Kind Gottes!“, rief er in seinem unnachahmlichen, rheinischen Singsang. Von diesem Tag an war die Sache klar. Ich war Katharina, ein Kind Gottes.

Jedes Mal, wenn ich mich ausgesperrt hatte und Hilfe beim Aufhebeln meiner Wohnungstür oder anderen Alltagsproblemen brauchte, nannte er mich so: „Katharina, Kind Gottes.“ Ich habe mich mit Herrn Gärtner nie über Religion unterhalten. Er wusste nicht, ob ich getauft war, ob ich in eine Gemeinde ging und falls ja, in welche. Ob ich regelmäßig Stille Zeit machte, Fleisch aß oder geimpft war. Ich wette, er hätte mich immer und in jeder Ausführung meiner selbst einfach als das gesehen, erkannt und gerufen, das ich bin: Ein Kind Gottes.

Herr Gärtner sprach mir selbstverständlich und radikal zu, was nach meinem Verständnis den Kern des christlichen Menschenbildes ausmacht: Die wertvolle menschliche Identität als Geschöpf Gottes. Doch wie entsteht Identität und was gehört dazu?

Identität ist die Antwort auf die Frage, wer ich wirklich bin. Diese Frage geht tief und ist unscharf. Sie ist eine Überfrage, die weitere Fragen nach sich zieht, um eine befriedigende Antwort geben zu können.

Wie unsere Identität entsteht

Als soziale Wesen bekommen wir in unserer Entwicklung viele Rückmeldungen darüber, was, wer, wie wir sind oder sein sollen. Wir brauchen das, um ein Bild von uns selbst und der angrenzenden Realität zu bekommen. Es fängt mit einfachen Unterscheidungen und Zuordnungen an.

Zum Beispiel lernen wir, dass wir ein Mensch sind und kein Tier. Dass wir ein Mädchen sind oder ein Junge. Dass wir zur Landbevölkerung zählen oder zu den Stadtmenschen, Deutsche sind oder eine andere Staatszugehörigkeit haben. Dass wir beispielsweise Christen sind. Wir lernen, was das inhaltlich bedeutet.

Die Unterscheidungen werden schnell feiner, die vermittelten Narrative komplex. Familienerzählungen, Geschichten, das soziale Umfeld, die Kultur, in der wir leben, all das vermittelt uns ein Bild unserer selbst.

Mit der Pubertät startet in der Regel die Überprüfung. Jugendliche hinterfragen das gelernte Bild ihrer selbst. Sie beginnen, sich zu reflektieren und probieren aus, wie die Umwelt auf Anpassungen reagiert. Dieser Prozess der Identitätsfindung kann für alle Beteiligten anstrengend sein. Fakt ist, er dauert ein Leben lang.

Was sich verändert hat

Die Vorstellung der individuellen Identität ist neu. Früher waren Identitäten viel starrer und an bestimmte, feste Merkmale gebunden. Man war der Dorfschmied, der Sohn des ehemaligen Schmiedes und der Vater des folgenden. Der Rahmen, in dem man seine Identität entwickeln konnte, war sehr klein.

Heute ist das anders. Wir leben in einer globalen Gesellschaft, in der wir vergleichsweise frei unsere Identität entfalten können. Persönliche Merkmale, die vor ein paar Jahren unverrückbar identitätsbestimmend schienen, diffundieren oder werden hinterfragt.

Es gibt sehr viele Möglichkeiten für uns, Erfahrungen zu sammeln, die uns prägen. Je nachdem, wie offen, reflexions- und experimentierfreudig wir sind, nutzen wir kleinere oder größere Freiräume, um unsere Identität zu entfalten und reifen zu lassen.

Identität hat verschiedene Anteile

Damit etwas zum Teil unserer Identität wird, muss es uns über einen längeren Zeitraum begleiten und umfassend sein. Familie, Arbeit, Gemeinde, Freizeit: Alle Beziehungen und Menschen, denen wir in den unterschiedlichen Bezügen begegnen, haben Einfluss auf uns.

Wir haben zudem verschiedene Rollen, die wir täglich leben. Als Ehefrau, Tochter, Vorgesetzte, Freundin und Mutter ändere ich mein jeweiliges Verhalten und zeige je nach Situation nur Teile meiner Identität. Die Teilidentitäten können sich stark voneinander unterscheiden – und sie verändern sich, wenn sich die Lebensverhältnisse ändern.

Haben Sie schon einmal den Wohnort, den Arbeitgeber oder die Gemeinde gewechselt und bemerkt, wie „anders“ Sie dadurch geworden sind? Trotz alledem habe ich das Gefühl, immer dieselbe Person zu sein.

Das macht deutlich: Meine Identität, ich selbst, das sind viele. Und das ist sinnvoll. Denn lebe ich mein Leben eindimensional, auf einen oder wenige meiner Teilaspekte ausgerichtet, macht das langfristig unzufrieden und krank. Ein Beispiel: Fokussiere ich meine Identität auf Leistung, meine berufliche Rolle und den damit verbundenen Status, hängt meine Identität stark an diesem Lebensbereich. Beim ersten Misserfolg oder Ereignissen, die mir verwehren, Leistung zu erzielen, falle ich ins Bodenlose. Es folgt eine Identitätskrise. Vielfalt dagegen ermöglicht persönliche Stabilität und fördert Resilienz.

Gemeinsam einzigartig

Neben der Vorstellung, die ich von mir selbst habe, spielen andere Menschen eine tragende Rolle. In der Begegnung mit anderen Menschen baue ich meine Identität auf. Vorbilder und prägende Menschen meiner Biografie machen den Abgleich der inneren Vorstellung von mir überhaupt erst möglich. Das Zitat von Religionsphilosoph Martin Buber aus seiner Schrift „Ich und Du“ von 1923 beschreibt die Wechselwirkung, in der wir alle miteinander leben: „Der Mensch wird am Du zum Ich.“

Dabei ist jeder Mensch einzigartig. Sie und mich gibt es genau einmal. Ihre DNA, die Verbindung Ihrer Synapsen, Ihre Erlebnisse und deren Verarbeitung ist so einzigartig, wie Ihr Fingerabdruck. Einzigartigkeit ist eine Voraussetzung für Identität.

Die Bibel sagt, bei uns sind sogar die Haare auf dem Kopf gezählt (Matthäus 10,30). Ein starker Hinweis darauf, wie einzigartig Gott den einzelnen Menschen sieht und für wie wertvoll er ihn hält.

Trotzdem haben wir Menschen auffallend viele Gemeinsamkeiten. Einzigartigkeit hält nicht davon ab, einander ziemlich ähnlich zu sein. Wir haben alle eine ähnliche biologische Grundstruktur und deuten zum Beispiel Gesichtsausdrücke oder optische Täuschungen auf ähnliche Art. Einzigartigkeit und Gemeinsamkeiten gehören also in guter Spannung zusammen. Beim Menschsein und bei allen Fragen der Identität.

Identität und ihre Schattenseiten

Es scheint, heute könnten wir unsere Identität beliebig gestalten. Was auf der einen Seite eine große Freiheit darstellt, kann auf der anderen Seite bisweilen überfordern. Niemand sagt uns mehr, wer wir (nicht) sind. Es gibt Konzepte, die dieses Vakuum für sich nutzen, indem sie eindeutige Antworten geben. Sie vereinfachen stark und geben dadurch eine scheinbare Orientierung und gefühlte Sicherheit.

Menschen, die persönliche Eindeutigkeit für sich brauchen, identifizieren sich stark in der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe und ihrer Überzeugungen. Sei es eine Religion, eine Nation oder bestimmte Sichtweise. Ein großer Teil ihrer Identität nimmt Bezug auf das Gemeinschaftsgefühl mit einer strikten Gruppe. Diese Konzentration auf einen Aspekt der Identität birgt aber ähnliche Risiken wie die Fokussierung auf berufliche Leistung. Die eigene Identität auf mehrere Pfeiler zu bauen, ist langfristig tragfähiger als vermeintliche Eindeutigkeit.

Die Einladung in Gottes Familie

Bei allem Nachdenken über Identität bleibt Herr Gärtner mein Vorbild. In den Begegnungen mit ihm habe ich die Zusage meiner göttlichen und menschlichen Identität praktisch erlebt. In Wort und Tat. Jenseits aller theologischen Diskurse und Meinungen liegt für mich darin die Essenz: Gott ist das Gegenüber, das große DU, dass uns unsere Identität zusagt.

Als Menschen sind wir Kinder Gottes. Geschaffen, gewollt und geliebt. Das Menschsein zum Bilde Gottes (1. Mose 1,26-27) ist das Fundament, worauf wir eine reichhaltige, individuelle Identität aufbauen dürfen.

Er schenkt uns die Freiheit, unsere Identität persönlich zu gestalten und begegnet uns individuell. Mit Liebe und Annahme. Das ist wichtiger als meine Prägung, größer als jede gesellschaftliche Norm und fester als jede einfache und doch bruchstückhafte Antwort auf die Fragen dieser Zeit. Jesus ist das „Du“, an dem wir frei werden, in unserer wahren Identität zu leben.

In der Begegnung mit ihm prägen wir unsere von Gott gegebene Identität aus und können sie so weitergeben. Ich lade Sie ein, lebendiger Teil dieser großen Familie zu sein. Kind Gottes zu sein ist das Natürlichste und Einfachste auf der Welt. Es ist unser Ursprung.

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Kommentare (2)

Mathilde /

Geschätzte Frau Heiser,
vielen Dank für Ihre wertvollen Ausführungen zum Thema "Kind Gottes" / (Teil-)Identität(en).
Ihre detaillierte und tiefgehende Sicht ist sehr hilfreich.
Mit sehr freundlichen Grüßen und einem ebensolchem Segensgruß

Ursula S. /

Vielen DANK für Ihren Beitrag, der sehr gut geschrieben ist!

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