Als 19-Jährige fiel es mir leicht, neue Freundschaften zu schließen. Für mein Studium war ich in eine neue Stadt gezogen, so wie die meisten meiner Kommilitonen. Wir waren alle auf der Suche nach Anschluss und das WG-Leben machte Gemeinschaft noch einfacher.
Mit 25 bin ich an den Ort gekommen, wo ich heute noch lebe. Hier war es anders: Die meisten Menschen standen fest im Beruf, hatten ein stabiles soziales Netzwerk, oft schon Freundschaften aus Kindertagen – und meistens die Familie in der Nähe.
Schnell merkte ich: Neue Beziehungen entstehen hier nicht so leicht. Ich fragte mich: Woran liegt das? Und mit welcher Haltung kann ich selbst auf Menschen zugehen?
In herzlicher Liebe zugetan
Ein Vers aus dem Römerbrief hat mich in dieser Frage weitergebracht: „In herzlicher Liebe seid einander zugetan. In Ehrerbietung kommt einander zuvor“ (Römer 12,10).
Ich interpretiere den ersten Satz so, dass ich in meinem Herzen immer Raum für andere Menschen haben möchte. Vielleicht nicht für zehn auf einmal, aber mindestens für eine Person – im Rahmen meiner Möglichkeiten.
Und „einander zuvorkommen“ bedeutet für mich, dass auch ich die Initiative ergreifen kann und manchmal auch sollte. Ich habe es für mich so formuliert:
Ich möchte Freundschaft anbieten. Damit schaffe ich Raum für Beziehung, ohne mich aufzudrängen.
Mit der Zeit habe ich festgestellt: Am offensten für neue Freundschaften sind in der Regel Menschen, die selbst zugezogen sind – weil sie ebenfalls auf der Suche sind. Ich bin bewusst auf diese Personen zugegangen und habe geschaut, ob wir auf einer Wellenlänge liegen.
Was ich über Freundschaften gelernt habe
Mittlerweile lebe ich viele Jahre hier und habe gute Freunde gefunden. Es war mühsamer als gedacht, aber es hat sich gelohnt. Zugleich habe ich einiges über Freundschaft gelernt:
1. Nicht jeder Bekannte, mit dem ich mich verstehe, muss gleich zum Freund werden.
Psychologen haben herausgefunden, dass auch lose Beziehungen eine wichtige Rolle in unserem Leben spielen: Sie bringen frische Ideen und neue Perspektiven in unseren Alltag, gerade weil man keine so große Schnittmenge hat. Außerdem verstärken sie unser Zugehörigkeitsgefühl, ohne dass eine gegenseitige Erwartungshaltung besteht.
2. Beziehungen können sich nach einiger Zeit wieder auseinanderentwickeln.
Vielleicht haben sich die Lebensumstände geändert oder man hat sich nicht mehr viel zu sagen. Dann muss ich an Freundschaften nicht krampfhaft festhalten.Ich muss mich nicht verbiegen oder kleinmachen, um ins Leben eines anderen zu passen. Auch habe ich das Recht, mich zurückzuziehen, wenn eine Freundschaft mir nicht mehr guttut.
3. Ich vermeide inzwischen die Begriffe „beste Freundin“ oder „bester Freund“.
Denn damit kategorisiere ich meine Freunde auf einer Beliebtheitsskala. Ich habe mich gefragt: Ist das wirklich nötig? Zum einen sind Beziehungen immer im Fluss und ich bin mal dem einen näher und mal dem anderen. Zum anderen kann es verletzend sein, wenn man vor jemandem von den „besten Freunden“ spricht, zu denen der Betroffene offensichtlich nicht zählt.
4.Ich habe mein Ideal von Freundschaft unter die Lupe genommen
Muss ein wahrer Freund Tag und Nacht erreichbar sein und mich in allem verstehen? Ich kann nicht erwarten, mit einer Person alles teilen zu können. Im Gegenteil: Mit dieser Einstellung wird jede grundverschiedene Sichtweise gleich zur Bedrohung für die Freundschaft.
Seit mir das bewusst geworden ich, gehe ich viel gelassener an Beziehungen mit Menschen heran, die ganz anders sind und denken als ich. Und manchmal stelle ich mit der Zeit fest, dass der andere mich zwar herausfordert, aber auch zum Nachdenken anregt und Veränderungen in mir anstößt.
Freundschaft, die bleibt
Manche Begegnungen führen nicht weiter, andere wachsen. So habe ich erlebt, wie aus vorsichtigen ersten Gesprächen echte, tragfähige Freundschaften wurden. Eine Freundin schrieb mir kürzlich in eine Geburtstagskarte: „Ich zähle dich zu den Segnungen meines Lebens.“
Das hat mich tief berührt. Und es hat mir gezeigt: Freundschaft ist kein Anspruch, sondern ein Geschenk. Ein Geschenk, das einer dem anderen anbietet.
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