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© Nycholas Benaia / unsplash.com

03.09.2013 / Interview / Lesezeit: ~ 8 min

Autor/-in: Nelli Bangert

Vollgas bis zum Anschlag?

Warum die persönliche Dienstbereitschaft in der Gemeinde Grenzen haben darf.

Die Gemeinde scheint ein Fass ohne Boden zu sein. Egal wie viele Mitarbeiter sich in die Gemeinde investieren, die Arbeit wird nicht weniger. Stattdessen eröffnen sich immer wieder neue Möglichkeiten und Arbeitsbereiche. Thomas Härry war selber Pastor und weiß, wie es ist, sich bis zum Limit für die Gemeinde aufzuopfern und sich am Ende selbst dabei zu verlieren. Wir haben ihn in einem Interview gefragt, wie Mitarbeit in der Gemeinde funktionieren kann, ohne dass die Mitarbeiter burn-out-gefährdet sind.
 

ERF: Herr Härry, Ihr Ski-Lehrer sagte damals in der sechsten Klasse: „Der Härry fährt über seine Verhältnisse hinaus“. Förderte Ihre Gemeinde diesen Charakterzug oder half sie Ihnen dabei, ein gesundes Maß zu entwickeln?

Thomas Härry: Als Jugendlicher habe ich in meiner Kirche natürlich – wie auch sonst überall – Vollgas gegeben und über meine Verhältnisse gelebt. Dabei hat mich niemand aufgehalten, schließlich ist man doch froh, wenn ein junger Mann überall dabei ist. Ich denke, wenn man selber nicht lernt, auf sich zu achten, dann wird das ein System nicht übernehmen, es sei denn, es gibt Leute, die darauf achten, dass man sich Grenzen setzt. Wahrscheinlich muss das aber jeder persönlich lernen.

Persönliche Grenzen sind kein Zeichen für Schwäche

ERF: Aber wie kann jemand lernen, seine eigenen Grenzen wahrzunehmen und sie zu akzeptieren?

Thomas Härry: Ein schönes Zitat von Bonhoeffer lautet: Wir Menschen lernen nicht präventiv. Die wesentlichen Dinge lernen wir durch die eigene schmerzhafte Erfahrung. Das ist auch beim Thema Überforderung so. Trotzdem würde ich sagen, dass Gemeinden eine Mitverantwortung haben. Das Vorbild der Leiter ist dabei ganz entscheidend für eine Gemeinde. Denn wenn Leiter maßlos leben, dann werden es auch die Gemeindemitarbeiter tun. Wenn Leiter sich aber ausruhen und das auch zeigen, durch Grenzen setzen oder Nein sagen, dann erlauben sie damit auch den Gemeindegliedern, das zu tun.
 

ERF: Sie selbst waren 11 Jahre Pastor. Konnten Sie Ihrer Gemeinde vermitteln, dass sie die Grenzen der Mitarbeiter akzeptiert?

Thomas Härry: Ja, das war mir sehr wichtig, weil ich selber aus einer schwierigen und schmerzhaften Erfahrung kam. Ich wusste, ich muss meine Grenzen akzeptieren, da ich sonst den Dienst nicht mehr tun kann. Gleichzeitig kann ich mich nicht für meine Grenzen einsetzen, ohne dass ich es auch anderen zugestehe. Ich kann nicht sagen, das sei mir immer super gelungen, es wäre nie ein Problem gewesen und ich hätte nie jemanden unter Druck gesetzt. Trotzdem hat es geholfen, da ich sensibilisiert für Überforderung war.
 

ERF: Wie könnte eine Gemeinde quasi Gemeindemitarbeitern helfen, nur eine angemessene Portion von Diensten zu übernehmen, um so einem Burn-Out vorzubeugen?

Thomas Härry: Als Gemeinde sollte man immer dort hellhörig werden, wo Personen in drei oder vier verschiedenen Diensten sind. An dieser Stelle sollte eine Gemeinde den Mut haben, zu sagen: Wir wollen, dass du ein bis zwei Dinge gut machst und lernst, für dich persönlich Grenzen zu setzen. In vielen Gemeinden besteht die Tendenz, dass Vieles von Wenigen getan wird. Doch eine Gemeinde gewinnt eben nicht, wenn Mitarbeiter jahrelang 150 Prozent geben und nachher frustriert und kaputt sind, sodass sie resigniert weggehen.

Fordert Gott Energie bis zum Limit?

ERF: Die Bibelstelle in Philipper 3,14 motiviert dazu, Jesus leidenschaftlich zu folgen: „Jage nach dem vorgesteckten Ziel, dem Siegespreis der himmlischen Berufung Gottes in Christus Jesus.“ Doch wie können Christen mit Eifer ihren Glauben ausleben – ohne dabei auszubrennen?

Thomas Härry: Darauf gibt es keine Pauschalantwort. Solche Verse liest man immer so, wie man gestrickt ist. Als Leistungstyp denkt man, dass das Maß der Hingabe das Maß der Zeit und Kraft ist, die jemand reinsteckt. Ein weniger leistungsorientierter Menschen erinnert sich eher daran, dass er sich viel Zeit für das Gebet nehmen sollte und er häufiger mit Jesus Zeit verbringen sollte. Die Wahrheit liegt wohl irgendwo in der Mitte.
 

ERF: Jesus sagt in Matthäus 16,18, dass er seine Gemeinde bauen will. Inwiefern fordert er von seinen Mitarbeitern überhaupt Einsatz bis zum äußersten Ende der Kraft?

Thomas Härry: Ich kann nicht für jemand anderen urteilen, was Gott von ihm fordert. Ich kann nur versuchen, bei mir ehrlich zu sein und mich zu hinterfragen: Suche ich die Bühne und die Gemeinde bietet sie mir und deshalb fühle ich mich so von Gott berufen? Flüchte ich mich – und das gibt es oft – vor einer Verantwortung, die ich woanders hätte, zum Beispiel in der Familie? Worum geht es mir wirklich?

Je weniger ehrlich meine Motivation reflektiert ist, umso größer ist die Gefahr, dass ich Gott vor meinen eigenen Karren spanne und Grenzen missachte, meine Kräfte überschätze und dann in der Überforderung lande.

Das Verrückte am Glauben ist, dass wir oft widersprüchliche Dinge sagen müssen. Wir müssen sagen: „Für Gott gehen wir und geben wir Alles.“ Gleichzeitig müssen wir sagen: „Selbst wenn wir nichts mehr geben können, wäre es nicht das Ende Gottes. Dann kann er noch und vielleicht sogar erst recht dann.“ Diese paradoxen Dinge müssen wir manchmal im selben Atemzug sagen und unseren Weg finden zwischen Hingabe und Vertrauen.

Mehr tun, um noch mehr geliebt zu sein

ERF: Wenn Mitarbeiter Jesus leidenschaftlich dienen wollen, führt sie das häufig zu unüberschaubar vielen Aufgaben. Wie kann eine Gemeinde der Lüge „Je mehr du machst, desto mehr liebst du Jesus“ gegenwirken?

Thomas Härry: Diese Lüge wird von den meisten Menschen aus der industriellen Welt gar nicht als Lüge gesehen, sondern als Wahrheit. Es ist eine fest verankerte Überzeugung, die sich auch bei uns Christen niedergelassen hat. Wenn ich mir mein Umfeld und meine persönlichen Neigungen anschaue, dann würde ich doch ehrlicherweise sagen, wir handeln nach diesem Muster:

Wir predigen Gnade und bedingungslose Annahme von Gott, aber voreinander müssen wir uns beweisen und führen uns gegenseitig unsere Leistungen vor. Wir tun viel und trotzdem bewegt sich wenig. Wir müssen neu lernen, dass nach Aktion wieder Entspannung fällig ist. Kämpfen kann nur der, der Kräfte gesammelt hat. Konkret heißt es zum Beispiel auch, rechtzeitig ins Bett zu gehen, um am nächsten Tag wieder als Ausgeruhter das Beste geben zu können.
 

ERF: Wie kann man das denn lernen?

Thomas Härry: Wir sollten uns in jeder neuen Lebensphase einen Moment hinsetzen und uns darüber im Klaren werden, wie viel Kraft wir haben, wo sie hinfließen soll und was für uns dran ist. Das ist ein persönlicher Weg mit Gott. Wenn zwei oder drei Freunde ehrlich sagen, wie man auf sie wirkt, ist das auch sehr hilfreich.

Apropos Sabbat: Der Gottesdienst auf dem Prüfstand

ERF: Nun ist der Sabbat von Gott dafür eingesetzt, damit Menschen zur Ruhe kommen und Zeit zum Innehalten haben. Doch ohne das Engagement von der Band und dem Prediger sähe der Gottesdienst definitiv anders aus. Trotzdem: Widerspricht die allgemein verbreitete Gottesdienstgestaltung nicht dem Sabbatgesetz? 

Thomas Härry: Das kann schon sein. Dennoch entscheiden die Menschen, die diese Arbeit tun, dass sie die tun und wie viel sie tun. Das heißt, wir dürfen nicht sagen, die Gemeinde sei schuld, dass sich Mitarbeitende überarbeiten. Dann lieber ehrlich sagen: Ich lasse mich überall einspannen, ich sage nicht nein, ich halte meinen Sabbat nicht. Die Gemeinde kann mit Menschen nur tun, was diese mit sich tun lassen.

Dennoch: Wenn ich als Pastor gesehen habe, dass drei Male dieselbe Person im Kindergottesdienst mitgearbeitet hat, habe ich sie gefragt: „Wann kommst eigentlich du zu einem ganz normalen Sonntag für dich?“

Dann gibt es Leute, die mir ehrlich sagen, dass sie sich ziemlich wertlos fühlen, wenn sie nichts tun. Dann sage ich: „Ich mache dir sehr Mut, dass du deinen Wert nicht darüber definierst, was du hier leistest. Wir sind froh über deinen Dienst, aber ich möchte, dass du dich auch frei und dich nicht wertlos fühlst. Denn stell dir vor, du kannst irgendwann aus irgendeinem Grund deinen Dienst nicht mehr tun. Bist du dann wertlos geworden? Das wäre schlimm.“

Man muss genau hinschauen und Menschen ermutigen, Ruhen und Auszeiten als etwas Essentielles, Wesentliches zu sehen, dass sie sich gönnen dürfen. Dann ist die Gemeinde auch froh, wenn die Mitarbeiter wieder Vollgas geben.
 

ERF: Wie könnte eine Gemeinde das Prinzip des Sabbats besser in den Gemeindealltag integrieren?

Thomas Härry: Es gibt einige grundlegende Regeln: Es kann nicht sein, dass jemand jeden Sonntag im Einsatz ist. Die Gemeinde sollte nur das machen, was sie mit angemessenem Kraftaufwand schaffen kann, und damit tun sich schon viele Pastoren schwer.

Ich glaube, dass jede Gemeinde alle Ressourcen von Gott hat, um das Wichtigste tun zu können, was sie von Gott her tun soll. Dabei verzichten wir vielleicht auf Glanzfolien und auf ein Niveau, das einem Fernsehgottesdienst gleicht. Wenn man die Ressourcen dafür nicht hat und es trotzdem um jeden Preis versucht, dann ist das nicht gesund.

Vor Jahren haben wir als Gemeinde einen Sabbatmonat eingesetzt, in dem wir nur Gottesdienste gefeiert haben und in dem wir keine Sitzungen, keine Besprechungen, keine Sonderanlässe hatten. Wir haben die Gemeinde ermutigt, die Zeit zu nutzen, sich einzuladen, Gemeinschaft zu pflegen und sich zu erholen. Es sollte geschenkte Zeit sein. Wir glaubten nicht, dass wir Segen verlieren würden.

Die Gemeindemitarbeiter haben daraus gelernt. Sie durften sich einen Monat ausruhen und gleichzeitig wurde unser Vertrauen herausgefordert, dass die Arbeit in diesem Sabbatmonat nicht eingehen wird. Es war eine tolle Erfahrung, die wir ursprünglich nur einmal machen wollten, doch es blieb nicht bei dem einen Mal.
 

ERF: Sollte sich eine Gemeinde demzufolge vielleicht auch einmal grundsätzlich die Frage stellen, warum am Sonntag überhaupt ein Gottesdienst stattfindet?

Thomas Härry: (lacht) Ja, man soll immer alles in Frage stellen können. Denn dann muss man sich gut überlegen, weshalb man etwas tut. Wollen wir mit geschliffener Brillanz beeindrucken oder halten wir es auch aus, etwas ganz schlicht zu machen. Erwarten wir, dass Gottes Gegenwart in der Einfachheit zum Zuge kommt? Es ist eine Gratwanderung, für Gott das Beste zu geben und gleichzeitig ihm nicht im Weg zu stehen mit unserem scheinbar Besten.
 

ERF: Vielen Dank für das Interview.

 

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