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© Omar Lopez / unsplash.com

01.11.2018 / Interview / Lesezeit: ~ 10 min

Autor/-in: Hanna Willhelm

Muslime verstehen

Wir zeigen, wie Begegnung mit Liebe, Mut und Respekt gelingen kann.

Nicht erst seit den Vorfällen in Chemnitz ist die Stimmung in Deutschland aufgeheizt, was Flüchtlingspolitik, Muslime und dem Islam allgemein angeht. Bei all den Emotionen und teilweise sehr berechtigten Fragen kommt eines jedoch leider zu kurz: Kontakte und Freundschaften zwischen Deutschen und Flüchtlingen, Christen und Muslimen. Manche Befürchtungen würden wahrscheinlich kleiner werden, wenn es zwischen den genannten Gruppen mehr Berührungspunkte gäbe. Roland Denner, Theologe und Islamkenner, will jenseits aller politischen Diskussionen und gesellschaftlichen Ängste dazu beitragen, dass solche Begegnungen möglich werden. Aus diesem Grund hat er ein Arbeitsheft erstellt, anhand dessen sich einzelne oder Gruppen in Gemeinden und Kirchen intensiv mit der Thematik auseinandersetzen können.

Im Gespräch mit ERF Medien erklärt der Theologe , warum es zu unserem Wesen und Auftrag als Christen unbedingt dazu gehört, dass wir uns Muslimen nicht angstvoll verschließen, sondern Beziehungen mit ihnen wagen.

 

ERF: Herr Denner, Sie haben ein Arbeitsheft für Kleingruppen erstellt, das Begegnungen zwischen Muslimen und Christen erleichtern soll. Warum sind solche Begegnungen überhaupt notwendig?

Roland Denner: Gott ist an Beziehungen interessiert. Er hat uns Menschen als beziehungsfähige Persönlichkeiten erschaffen. Begegnung gehört also zum Menschsein. Allerdings fällt es uns oft schwer, fremden, anders geprägten Menschen zu begegnen. Wenn wir solche Personen jedoch vermeiden, kann es dazu führen, dass wir bestimmte Gruppen von Menschen nicht verstehen, sie verdächtigen oder dass wir sie fürchten. Das Verhältnis von Christen und Muslimen ist häufig von Vorurteilen und Ängsten belastet. Das kann durch persönliche Begegnungen überwunden werden.

Das Verhältnis von Christen und Muslimen ist häufig von Vorurteilen und Ängsten belastet. Das kann durch persönliche Begegnungen überwunden werden. – Roland Denner

ERF: Sie haben lange selbst in einem muslimischen Land gelebt und haben viele Freunde muslimischen Glaubens. Erinnern Sie sich an eine Freundschaft oder Begegnung, in der sich die Schwierigkeiten aber auch die Schönheiten eines Kontaktes zwischen Christen und Muslimen brennpunktartig gespiegelt haben?

Roland Denner: Wir haben viel Liebe von unseren muslimischen Mitmenschen erfahren. Als unsere Tochter schwer krank war, haben sich muslimische Nachbarn jeden Tag nach ihr erkundigt und ihr Mitgefühl ausgedrückt. Als einmal bei uns eingebrochen wurde, saß eine muslimische Freundin vor unserer Haustüre und sagte sehr traurig: „So etwas darf euch doch nicht passieren, ihr seid doch unsere Gäste.“

Durch unsere unterschiedliche kulturelle Prägung kam es natürlich auch gelegentlich zu Missverständnissen in der Kommunikation. Manchmal waren diese offensichtlich und ließen sich leicht ausräumen, aber manchmal waren auch beide Seiten irritiert, weil keinem klar war, warum wir uns falsch verstanden hatten. Eines Abends wollte sich mein Freund Yusuf zum Beispiel mein Moped leihen. Aber weder an diesem Abend noch an den folgenden Tagen sah ich meinen Freund oder mein Moped wieder. Eine völlig fremde Person brachte es vier Tage später beschädigt zurück. In diesem Moment war ich furchtbar enttäuscht, weil ich Yusufs Verhalten nicht verstehen konnte. Nach meinem Empfinden hätte Yusuf zu mir kommen sollen, um mir zu erzählen, was passiert ist. Vielleicht hätte er noch anbieten sollen, das Moped zu reparieren. Dieses Empfinden ist völlig korrekt für einen Menschen mit einem eher schuldorientierten Gewissen. Weil Yusuf das nicht getan hatte, schloss ich aus seinem Verhalten, dass ihm unsere Freundschaft nicht wichtig ist.

Für Yusuf stellte sich die Situation aber ganz anders dar. Gerade weil ihm unsere Beziehung sehr viel bedeutet hat, wollte er mit seinem Rückzug zeigen, wie sehr er sich schämt. Er hat sich damit seinem eher schamorientierten Gewissen nach völlig angemessen verhalten. Yusuf war total enttäuscht, dass ich ihm nicht über einen Vermittler signalisiert habe, dass zwischen uns alles gut ist, weil mir an unserer Beziehung mehr liegt als an einem Blechschaden. Er hat aus diesem Erlebnis geschlossen, dass mir unsere Freundschaft nichts bedeutet.

 

ERF: Der Titel Ihres Arbeitsheftes heißt „Muslime verstehen“. Ganz praktisch gefragt: Was braucht es für mich als Christ, um einen Menschen muslimischen Glaubens in seinem Denken, Handeln und Fühlen verstehen zu können?

Roland Denner: Es ist nötig, zuzuhören. Das Hören kommt vor dem Verstehen. Es ist erforderlich, im Gespräch immer wieder zu prüfen, ob wir richtig verstanden haben. Rückfragen, wie „Was meinst du damit?“, „Wie praktizierst du das in deinem Alltag?“, „Habe ich dich richtig verstanden, wenn ich deine Aussage so wiedergebe?“ können zu echtem Verständnis für einander beitragen. Oft kommt es vor, dass wir ähnliche Begriffe gebrauchen, hinter denen jedoch sehr unterschiedliche Konzepte stehen. Wenn wir gleiche Begriffe verwenden, wie z.B. „Barmherzigkeit“, „Sünde“ oder „Beten“, müssen wir unserem Gesprächspartner erklären, wie diese Begriffe für uns gefüllt sind, sonst reden wir aneinander vorbei.

Es ist nötig, zuzuhören. Das Hören kommt vor dem Verstehen. Es ist erforderlich, im Gespräch immer wieder zu prüfen, ob wir richtig verstanden haben. – Roland Denner

Außerdem sollten wir kulturelle Unterschiede nicht zu schnell bewerten, sondern erst einmal nur wahrnehmen. Vieles ist nicht schlechter oder besser, sondern anders. Der beste Weg um einander zu verstehen, ist, Leben zu teilen, Zeit miteinander zu verbringen. Dann finden wir heraus, was dem anderen wichtig ist, was seine Hoffnungen und Ängste oder was seine Strategien sind, um das Leben zu bewältigen.

 

ERF: Sie sind auch überzeugt davon, dass muslimische Menschen die Begegnung mit Christen brauchen. Warum?

Roland Denner: Es geht in der Begegnung mit muslimischen Menschen nicht um einen Wettbewerb zweier Religionen und um die Frage, wer Recht hat oder wer besser ist. Religionen sind meiner Meinung nach Lebensstrategien der Menschen, die uns aber letztlich nicht mit Gott in Verbindung bringen können. Als Christen folgen wir nicht einer Religion, sondern einer völlig einzigartigen Person, Jesus Christus. In Jesus ist Gott selbst Mensch geworden, um uns Menschen mit unserem Schöpfer zu versöhnen. Jesus hat also eine Bedeutung für alle Menschen und es ist deshalb nötig, dass auch Muslime die Gelegenheit erhalten Christen zu begegnen, die ihnen von Jesus erzählen.

Durch Ängste, Vorbehalte und Abgrenzung sind wir Christen oft nicht in der Lage, Muslimen liebevoll zu begegnen und ihnen zu helfen, Jesus kennenzulernen. Das ist eine große Tragik. Jesus will, dass Christen jeden Menschen auf ihn hinweisen. – Roland Denner

ERF: Manche Christen befürchten vielleicht, dass es zu einer „Religionsvermischung“ kommt, wenn wir uns zu sehr auf das Denken und die Lebenswelt des anderen einlassen. Frei nach dem Motto „Wir haben uns alle lieb und glauben sowieso alle an denselben Gott.“ Besteht diese Gefahr?

Roland Denner: Diese Aussage begegnet mir oft im Gespräch mit Muslimen: „Aber letztlich glauben wir doch alle an den gleichen Gott.“ Ich vermute, dass dahinter oft der Wunsch steht, dass wir zusammenleben können und uns nicht zerstreiten.

Die Frage, wie Gott ist, wie er sich offenbart oder wie er handelt, ist jedoch sehr wichtig. Denn darin wird sehr schnell die Unterschiedlichkeit zwischen dem muslimischen und dem christlichen Gottesbild deutlich. Wenn diese Unterschiede deutlich werden, kann das bei muslimischen Menschen die Sehnsucht wecken, Gott zum Beispiel als Vater oder Erlöser kennenzulernen. Als einen Gott, der gerecht richtet, aber selbst in seiner Barmherzigkeit das Gericht auf sich nimmt usw.

Damit das geschehen kann, kann es nötig sein, dass wir dem Beispiel des Apostels Paulus folgen (1 Korinther 9,19-23). Er passte sich demütig und liebevoll Menschen an, um sie für das Evangelium zu gewinnen. Es geht dabei nicht darum, das Evangelium anzupassen, sondern herauszufinden, wie wir muslimischen Menschen das Evangelium so vermitteln können, dass sie es verstehen, glauben und verinnerlichen können. Wir sollen in unserer Kommunikation ehrlich und klar sein und gleichzeitig respektvoll und gewinnend.

Es geht dabei nicht darum, das Evangelium anzupassen, sondern herauszufinden, wie wir muslimischen Menschen das Evangelium so vermitteln können, dass sie es verstehen, glauben und verinnerlichen können. – Roland Denner

ERF: Im Vorwort zu dem Arbeitsheft schreiben Sie „Die Beschäftigung mit der islamischen Religion macht es nötig, über das Thema Angst nachzudenken.“ Wie meinen Sie das?

Roland Denner: Angst ist normal und menschlich. Und es gibt so vieles, was uns Angst machen kann. Aber wichtig erscheint mir die Frage, wie wir dann mit diesen Ängsten umgehen. Darf Angst unser Ratgeber sein? Darf sie uns lähmen und unser Handeln bestimmen? Oder erleben wir in unseren Befürchtungen Jesus, der gesagt hat: „Ich habe euch das alles gesagt, damit ihr in mir Frieden habt. In der Welt werdet ihr hart bedrängt. Doch ihr braucht euch nicht zu fürchten: Ich habe die Welt besiegt.“ (Johannes 16,33)?

In der Auseinandersetzung mit dem Islam dürfen wir zu unseren Ängsten stehen und müssen uns nicht dafür schämen, aber entscheidend ist, welche Antworten auf unsere Ängste uns unser Glaube gibt.

 

ERF: In Ihren Ausführungen machen Sie auch die Aussage, dass „muslimische Mitbürger zu unserer Gesellschaft und zu unserem Alltag gehören“. Eine Tatsache, die viele Menschen in Deutschland und der Schweiz, darunter auch viele Christen mit gemischten Gefühlen wahrnehmen. Wie geht es Ihnen bei diesem Gedanken?

Roland Denner: Ich bin sehr dankbar, dass ich in einem Land leben darf, in dem Religionsfreiheit herrscht. Sie ist ein unveräußerliches Menschenrecht und gilt für jeden Menschen. Deshalb ist es selbstverständlich, dass auch muslimische Mitbürger einen vollwertigen Platz in unserer Gesellschaft haben. Eine Gesellschaft hat einen Rahmen aus Werten und Gesetzen, die unser Zusammenleben regeln. Dieser Rahmen ist für alle verbindlich und muss von den staatlichen Autoritäten durchgesetzt werden.

 

ERF: Haben Sie Angst vor einer Islamisierung Deutschlands und der Schweiz?

Roland Denner: Nein! Wenn wir unsere Werte und unseren Glauben konsequent leben, dann werden unsere Länder nicht islamisiert werden. Wenn wir das nicht tun, dann sind unsere Werte auch nicht schützenswert. Ich sehe im Islam eine große Gefahr! Aber er ist in allererster Linie eine Gefahr für die muslimischen Menschen, weil der Islam sie von der Versöhnung mit ihrem Schöpfer durch Jesus Christus abhält.

 

ERF: Es scheint momentan allerdings eher so zu sein, dass Politik und Gesellschaft zurückstecken, was den Schutz abendländischer, europäischer Werte angeht – und zwar gerade weil sie Muslimen nicht zu nahe treten wollen. Wie kommen wir Ihrer Meinung nach aus diesem Dilemma wieder heraus?

Roland Denner: Durch eine neue Reflexion über den Wert der Menschenrechte und der Grundwerte, die unsere Gesellschaft tragen. Dabei können wir durchaus zu der Erkenntnis kommen, dass wir diese Werte neu entdecken und konsequenter leben müssen. Es hilft uns nicht weiter, wenn wir Muslimen nicht zu nahe treten wollen. Wenn wir einander ernst nehmen und respektieren, bedeutet das auch, dass wir uns etwas zumuten können. 

Wir brauchen eine offene und ehrliche Gesprächskultur zwischen Christen und Muslimen ohne Tabus und vorauseilenden Gehorsam. – Roland Denner

ERF: Sie haben viel Zeit, Wissen und Herzblut in das Serendipity Heft gesteckt? Was können Einzelpersonen oder Gruppen daraus mitnehmen, wenn sie es durcharbeiten?

Roland Denner: Mein Wunsch ist es, dass wir befähigt werden, uns nicht nur distanziert mit „dem Islam“ zu beschäftigen, sondern muslimischen Menschen persönlich zu begegnen und ihnen die Hoffnung des Evangeliums zu bezeugen. Dabei vermittelt das Heft viel Grundsätzliches zum Umgang mit andersgläubigen Menschen, was nicht nur für die Begegnung mit Muslimen gilt.

Religion ist in unserer Gesellschaft Privatsache geworden. Nun kommen viele Menschen zu uns, für die Religion ein identitätsstiftendes, alltägliches und öffentliches Thema ist. Das fordert uns heraus, neu zu entdecken, dass Toleranz gegenüber Andersgläubigen und Dialog mit ihnen gerade nicht den Verzicht auf Wahrheit, Werte und Überzeugungen bedeutet. Das Helft kann helfen, sprachfähig und weise unseren Glauben Menschen aus anderen Kulturen zu bekennen.

Das Serendipity Heft soll uns auch anregen, neu unseren eigenen Glauben zu reflektieren. Denn die Auseinandersetzung mit dem Islam fordert uns heraus, auch neu die Inhalte unseres christlichen Glaubens zu verstehen und auszudrücken.

 

ERF: Die Verständigung zwischen Christen und Muslimen ist Ihnen ein Herzensanliegen. Wenn Sie sich Deutschland und die Schweiz in 25 Jahren vorstellen – was wünschen Sie sich, wie sich das Zusammenleben zwischen Muslimen und Christen bis dahin entwickelt hat?

Roland Denner: Ich wünsche mir, dass viele Muslime Religionsfreiheit als ein hohes Gut begreifen, das im Wesen Gottes begründet ist. Gott zwingt nicht, sondern er wirbt und ringt um Menschen. Ich wünsche mir, dass es mehr Freiräume für muslimische Menschen gibt, sich mit anderen Lebensentwürfen auseinanderzusetzen. Meine große Hoffnung ist es, dass Muslime, die Jesus begegnen, ihm öffentlich nachfolgen und ihn bezeugen können, ohne in der Gefahr sozialer Ausgrenzung oder lebensgefährlicher Verfolgung leben zu müssen. Im Moment ist dieser Wunsch nicht realistisch. Es gibt keinen legitimen Weg, den Islam zu verlassen. Abkehr vom Islam kommt Hochverrat gleich und ist kein individuelles Recht.

Was meine Wünsche für uns Christen angeht, so kann ich mich nur wiederholen: dass wir keine Berührungsängste haben, sondern mutig, respektvoll und voller Liebe auf Muslime zugehen und ihnen die Hoffnung in Jesus Christus bezeugen, auch wenn uns das etwas kostet.

 

ERF: Vielen Dank für das Gespräch.


Roland Denner (Foto: privat)

Roland Denner ist evangelischer Theologe. Nach einem zwölfjährigen Auslandsdienst in Mali war er von 2006 an  Leiter des deutschen Zweiges von ReachAcross, einer internationalen Organisation, die sich besonders dafür engagiert, Muslimen zu dienen und sie mit dem Evangelium bekannt zu machen. Seit 2019 leitet er deren internationale Missionsarbeit.

 Hanna Willhelm

Hanna Willhelm

  |  Redakteurin

Hanna Willhelm ist Theologin und Redakteurin im Bereich Radio und Online. Sie ist fasziniert von der Tiefe biblischer Texte und ihrer Relevanz für den Alltag. Zusammen mit ihrer Familie lebt die gebürtige Badenerin heute in Wetzlar und hat dabei entdeckt, dass auch Mittelhessen ein schönes Fleckchen Erde ist.

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Kommentare (1)

Felix /

Roland Denner betont die Menschenrechte als Grundlage unserer gesellschaftlichen Werte und Gesetze. Das sehe ich auch so.
Mich würde noch interessieren, warum die Religionsfreiheit im 'Wesen Gottes' mehr

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