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05.05.2023 / Interview / Lesezeit: ~ 6 min

Autor/-in: Miriam Schaumburg

Intersexualität – darüber sprechen wir nicht?

Genetisch nicht nur weiblich oder männlich zu sein, ist ein heißes Thema. Wie bereitet man sich als Moderatorin auf so ein Interview vor?

„Intersex – Zwischen den Geschlechtern“, so lautet der Titel der neuen Sendung ERF Mensch Gott. Studiogast Angela Sänger erzählt darin ihre Lebensgeschichte. Geboren wurde sie, zumindest auf den ersten Blick, als Junge. Doch was keiner ahnte: Genetisch ist sie das nicht eindeutig. Erst viele Jahre später erfährt sie, dass es Gründe gibt, warum sie sich fühlt, wie sie sich fühlt. Sie erlebt bis dahin eine brutale Identitätskrise, die sie in tiefe Depressionen stürzt und fast in den Selbstmord treibt. 

Wie bereitet man sich als Moderatorin auf eine Sendung mit diesem sensiblen Inhalt vor? Miriam Schaumburg, Unit Leader ERF Mensch Gott, hat die neue Moderatorin Simone Merz gefragt.

 

ERF: LGBTQIA+ hat eine sehr hohe Aufmerksamkeit in den Medien und der Gesellschaft bekommen. Als das Thema Intersex bei dir auf dem Tisch lag, war dir sofort klar, worum es da geht?

Simone Merz: Ich habe mich erst mal riesig gefreut, dass ich Angela Sänger interviewen durfte. Ich habe mich immer wieder mit sexueller Identität beschäftigt, weil ich Menschen kenne, die ein anderes sexuelles Empfinden haben als ich, daher war mir Grundlegendes schon klar. Aber gerade manche biologischen Details in Bezug auf Intersexualität kannte ich noch nicht. Deshalb fand ich es sehr spannend, mich in das Thema tiefer einzulesen und mich mit der Geschichte von Angela zu beschäftigen.

Gott liebt jeden Menschen

ERF: Gab es Zweifel, ob du die Sendung moderieren möchtest? Hattest du Befürchtungen?

Simone Merz: Nein, ich empfinde es als Vorrecht, dass ich Angela Sänger interviewen durfte! Angela geht mit einem sehr sensiblen Thema in die Öffentlichkeit und macht sich dadurch sehr verletzlich. Dazu gehört viel Mut. Sie stellt sich einer Öffentlichkeit, die nicht nur nett zu ihr sein wird. Davor habe ich großen Respekt.

Denn: Es gibt immer wieder Menschen, die sich hinter ihren Vorurteilen oder theologischen Richtigkeiten verstecken und der Person vor ihnen gar nicht wirklich zuhören. Das zeigen mir verletzende Kommentare unter YouTube-Videos, und ich befürchte, dass genau das passieren wird. Solche Kommentare machen aber mehr kaputt, als dass sie hilfreich sind.
 

ERF: Welche theologischen Fragen hat das Thema Intersexualität bei dir aufgeworfen?

Simone Merz: Ich hatte tatsächlich keine theologischen Fragen, weil mir schnell klar war, dass es bei der Sendung von Angela Sänger im Grunde um „Identität“ geht. Da ist für mich theologisch klar: Gott liebt jeden Menschen. Außerdem geht es mir in einer Sendung von ERF Mensch Gott nicht so sehr um theologische oder moralische Einordnungen. Es geht mir darum, die Person vor mir kennenzulernen.

Ja, ich finde es wichtig, dass wir durch die Sendung aufklären und Missverständnisse aus dem Weg räumen, aber zuallererst sitzt Angela Sänger vor mir, eine Person, die eine sehr schmerzhafte Frage stellt: „Darf ich überhaupt sein?“ 

Das hat mich tief berührt. Was muss passieren, dass ein Mensch das Gefühl hat, nicht existieren zu dürfen? Als zweites sehe ich durch ihre Frage in einen Spiegel. Denn: Stellen wir uns diese Frage nicht irgendwie alle, zumindest in abgeschwächter Form? Angelas Geschichte rückt mir dadurch näher, und ich stelle fest: Sie erzählt einen Teil meiner eigenen Geschichte, die Suche nach jemandem, der in mein Herz spricht und sagt: „Ja, du darfst sein. Ich liebe dich!“ Das hat mich zu Tränen gerührt.

Ein komplexes Thema

ERF: Ganz am Anfang steht im Schöpfungsbericht der Bibel, dass Gott den Menschen erschuf als Mann und Frau. Hat Gott bei intersexuellen Menschen einen Fehler gemacht?

Simone Merz: Nein, weil es darum meines Erachtens gar nicht geht, auch nicht in der Schöpfungsgeschichte. Ich empfinde die Kategorien „Richtig“ und „Falsch“ in sehr vielen theologischen Fragen als unpassend. Die Frage, „Hat Gott einen Fehler gemacht?“, impliziert, dass es falsch ist, intersexuell zu sein. Aber die Welt ist komplex, das Thema Intersexualität ist komplex. Eine einfache Antwort gibt es darauf nicht. Was aber feststeht, ist, dass jeder Mensch von Gott bis in sein tiefstes Inneres geliebt ist.
 

ERF: Angela erzählt in der Sendung, dass gerade Christen ihr das Gefühl gaben, das Mädchen in ihr dürfte nicht sein und müsste sogar „weggebetet“ werden. Wie siehst du das?

Simone Merz: Dieses Verhalten macht mich traurig, ich finde es sogar gefährlich. Weil es mir zeigt, dass Angela in ihrem Wesen gar nicht wahrgenommen wurde. Gehen wir noch einmal in die Geschichte rein. Angela hat mir in der Sendung erzählt, dass sie zu Gott gesagt hat: „Bitte nimm mir das Mädchen in mir nicht weg!“. Das war ein sehr besonderer Moment in der Sendung für mich, weil ich mich selbst darin wiedergefunden habe. Letztlich stellt sie Gott damit eine Frage: „Wie bist du eigentlich?“

Ich kenne diese Frage selbst, da mein Baby nach acht Monaten Schwangerschaft in meinem Bauch verstorben ist. Ich habe diese Frage in abgewandelter Form auch an Gott gestellt: „Wieso nimmst du mir mein Baby weg?“ Was für ein Bild habe ich von Gott, ist hier die Frage. Und diese Frage stellte Angela Sänger im Grunde auch: „Was für ein Gott bist du? Wirst du mir das Mädchen in mir wegnehmen? Meine Identität?“ Ich spüre die Angst von ihr dahinter. Und Gott antwortet ihr darauf: „Nein!“ Was für ein liebevoller Gott. So habe ich ihn auch erlebt.

Ich wünsche mir, dass solche Geschichten mehr für sich stehen bleiben dürfen, dass wir ihnen erst einmal nachspüren, sie an uns heranlassen, bevor wir versuchen, sie theologisch einzuordnen, zu bewerten oder „wegzubeten“.

In Demut aufeinander zugehen

ERF: Wie sollten gerade Christen intersexuellen Menschen begegnen?

Simone Merz: So wie sie jedem anderen Menschen auch begegnen sollten, so wie es Jesus uns vorgelebt hat: Dass wir zuerst einmal zuhören. Ich wünsche mir, dass wir uns zurückhalten mit Kommentaren, guten Ratschlägen oder Verboten. Dass wir in aller Demut vielleicht auch unsere eigene Unsicherheit zugeben und ins Gespräch kommen, dass wir uns selbst auch verletzlich zeigen.

Und vor allem finde ich es wichtig, dass wir das Tun und Sein des anderen nicht sofort bewerten und eine innere Messlatte anlegen. Darin sind wir Menschen leider richtig gut. Ich weiß, bewerten geht innerhalb von Sekunden. Das ist ganz normal. Die Frage ist dann aber, wie ich mit meinen eigenen Beurteilungen umgehe: Halten diese Beurteilungen mich zurück, den Menschen vor mir wirklich kennenzulernen, oder habe ich den Mut, mich darüber hinwegzusetzen und weiter zuzuhören?

Denn ich bin sicher: Der andere ist nicht nur anders, sondern es gibt auch immer Gemeinsamkeiten zu entdecken und Themen, mit denen wir alle zu kämpfen haben. Nur dann werden wir selbst auch wachsen können.

Mich fordert ein Vers in der Bibel immer wieder sehr heraus: „Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, dass er die Welt richte, sondern dass die Welt durch ihn gerettet werde.“ (Johannes 3,17). Das heißt für mich, jetzt ist nicht die Zeit zu richten, schon gar nicht für uns Menschen. Jetzt ist die Zeit, Jesu Blick auf die Menschen einzunehmen. Und dieser Blick ist immer liebevoll, weg von mir selbst und für den anderen.
 

ERF: Was wünscht du dir, welche Reaktionen die Geschichte auslöst?

Simone Merz: Ich wünsche mir, dass ganz viele Menschen sagen: „Wow, das habe ich nicht gewusst.“ Ich wünsche mir, dass sie sich berühren lassen von einem tiefen Schmerz eines Menschen, der immer wieder in seinem Innersten verletzt wurde. Wie viele Menschen habe ich schon, vielleicht ganz unwissentlich, verletzt, weil ich nur ihre sexuelle Orientierung gesehen habe oder ihre sexuelle Identität, die so anders ist als meine?

Ich wünsche mir, dass ein ehrliches: „Das tut mir leid!“ in unseren Herzen entsteht und eine neue Offenheit, aufeinander zuzugehen, eine Bereitschaft, uns gegenseitig wirklich zuzuhören.

 

Sie leiden an Depressionen oder denken an Suizid, machen sich um jemanden Sorgen oder haben einen Menschen aufgrund eines Suizidtodesfalls verloren? Hier finden Sie Erste-Hilfe-Tipps, Notfallkontakte und Hilfsangebote.

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Kommentare (2)

Sylvie P. /

Die Sendung hat mir sehr gut gefallen. Besonders zu wissen dass Gott Angela angenommen und geholfen hat , besonders auch dass Sie sich jetzt als Frau wohlfühlen kann. Christliche Kirchen müssen sich schlau machen über dieses Thema und die Menschen so annehmen wie sie sind!

C.D. /

Ein herzliches Hallo, ich habe das Interview gesehen und ein paar Aha-Erlebnisse gehabt. Auch der Text hier ist für mich hilfreich. Meine Problematik ist eine andere, aber ich bin ermutigt worden. mehr

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