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© Dương Nhân / pexels.com

03.04.2024 / Interview / Lesezeit: ~ 6 min

Autor/-in: Stephan Steinseifer

Gesellschaft der Vereinsamten

Wieso vereinsamen Menschen und wie kann man Abhilfe schaffen? Interview mit Dr. Hans-Arved Willberg.

Immer mehr Menschen fühlen sich in unserer Gesellschaft permanent einsam. Was sind die Gründe dafür und wie kann man der Einsamkeit als Betroffener begegnen?

Der Seelsorger, Theologe, Philosoph und promovierte Sozial- und Verhaltenswissenschaftler Dr. Hans-Arved Willberg ist Verfasser des Buches „Einsamkeit und Vereinsamung: Ein interdisziplinärer Überblick mit Impulsen für Praxis und Politik“. Im Gespräch mit ERF Plus Redakteur Stephan Steinseifer gibt er praktische Tipps, wie man aus der Vereinsamung herausfinden kann.
 

ERF: Der Psychiater Manfred Spitzer hat bereits 2018 die Einsamkeit als unerkannte „Volksseuche“ bezeichnet. Halten Sie diese These für angemessen oder für Panikmache?

Dr. Hans-Arved Willberg: Spitzer weiß aus der Praxis, welche Probleme Vereinsamung erzeugen kann. Seine Formulierung stammt aus der Zeit vor Corona. Wir wissen jetzt in einer neuen Dimension, was „Volksseuche“ ist: Pandemie.

Aber wir müssen es ernst nehmen. Auch das Vereinsamungsproblem ist pandemisch, denn es wird global mehr und mehr zum gesellschaftsrelevanten Gesundheitsproblem.

Einsamkeit und Vereinsamung – der große Unterschied

ERF: Sie haben es angedeutet, Einsamkeit ist ein globales gesamtgesellschaftliches Problem. Betrifft es alle Altersgruppen und Bevölkerungsschichten gleichermaßen oder sind bestimmte Gruppen wie etwa ältere Menschen besonders gefährdet?

Dr. Hans-Arved Willberg: Grundsätzlich ist wichtig, klar zu differenzieren zwischen Einsamkeit und Vereinsamung. Einsamkeit an sich kann auch etwas Schönes sein, der einsame Strand zum Beispiel. Einsamkeit ist wichtig für die Persönlichkeitsentwicklung. Wir müssen Einsamkeitserfahrungen machen und auch bewältigen, um daran zu reifen.

Nicht Einsamkeit ist das Problem, sondern die Vereinsamung und die wird erst seit relativ kurzer Zeit wissenschaftlich untersucht. Sie ist einerseits tatsächlich ein Problem alter Menschen, aber nur für eine bestimmte Gruppe innerhalb der großen Zahl der Senioren. Insgesamt kommen Senioren besser zurecht mit sozialer Isolation

Vereinsamung ist aber zunehmend auch ein Problem von jüngeren Menschen, von Jugendlichen, jungen Erwachsenen und – nicht zuletzt auch bedingt durch Corona – in hohem Maße von Kindern. Das hatte man bisher so nicht im Blick.
 

ERF: Sie sind Wissenschaftler und gehen mit den Methoden der empirischen Forschung an dieses Thema heran. Ist Einsamkeit ein objektiver Tatbestand oder ein subjektives Gefühl?

Dr. Hans-Arved Willberg: In der Forschung unterscheidet man zwischen emotionaler Einsamkeit – auch emotionale Isolation genannt – und sozialer Isolation.

Emotionale Isolation ist subjektiv erfahrene Vereinsamung. Das heißt, Menschen kommen subjektiv mit der Einsamkeit nicht zurecht. Das kann bedeuten, dass sie tatsächlich sozial isoliert sind, also keine Menschen haben, mit denen sie Gemeinschaft erleben. Es kann aber auch bedeuten, dass sie sich aufgrund enttäuschender Erfahrungen als vernachlässigt, unverstanden und ungeliebt fühlen. Es gibt beides, und beides ist ein psychisches Problem.

Menschen, bei denen in einer Fragebogenaktion herauskommt, dass sie innerhalb eines bestimmten Zeitraums nur sehr wenig oder überhaupt keine Kontakte haben, sind sozial isoliert. Das hat einen wesentlich höheren Objektivitätsgrad als die emotionale Einsamkeit.

Aktuell kann man von ungefähr 30 Prozent sozial isolierter Menschen sprechen – wahrscheinlich sind es seit Corona noch mehr – und von ungefähr 10 Prozent, bei denen der Schwerpunkt in der emotionalen Isolation liegt.

Alle diese Menschen haben richtige Probleme mit Vereinsamung, im Sinne von: die Gesundheit geht kaputt - und zwar nicht nur psychisch, sondern auch körperlich.

Vereinsamung trotz permanenter Kontakte

ERF: Sie sprachen an, dass auch immer mehr Kinder betroffen sind. Woran kann ich als Eltern oder Großeltern erkennen, ob meine Kinder oder Enkel ein Problem haben?

Dr. Hans-Arved Willberg: Oft zeigt sich das an Verhaltensauffälligkeiten, wenn Sie etwa merken, es ist nicht mehr normal, wie sich mein Kind verhält. Konzentrationsstörungen, Depressivität, Zurückgezogenheit und ein starkes Fixiert-Sein auf Bildschirmmedien können Anzeichen sein.
 

ERF: Also wenn das Kind nur noch vorm Computer oder Smartphone sitzt und quasi nichts anderes mehr macht?

Dr. Hans-Arved Willberg: Letzteres kann Auswirkung der Vereinsamung sein, der Isolation, des Nicht-Bewältigens. Auch der sozialen Vernachlässigung, die stattfinden kann. Es kann sowohl Auswirkung, aber auch Ursache der Vereinsamung sein. Die sogenannten Social Media – ich sage „sogenannte“, denn ich finde sie in der Hauptwirkung unsozial – sind ein wesentlicher Faktor für das Wachsen des Vereinsamungsproblems.
 

ERF: Nun stehen mit dem Smartphone Menschen quer durch die Gesellschaft miteinander in Kontakt, kann denn da überhaupt von sozialer Isolation die Rede sein?

Dr. Hans-Arved Willberg: Das ist tatsächlich paradox. Die moderne Kommunikationstechnologie kann überaus hilfreich sein. Besonders in der Corona-Zeit war sie ein wesentlicher Faktor, um überhaupt Beziehungen zu erhalten.

Aber die Frage ist: Beherrschen wir die Technik oder beherrscht sie uns? Wenn sie uns beherrscht, trägt sie zur Isolation bei, weil wir uns dann nur noch durch ein Rechteck begegnen.

Die allermeiste Kommunikation, gerade in Social Media, verläuft auf einem Oberflächlichkeitsniveau, das mit echten Begegnungen nicht vergleichbar ist.

Einsamkeit verursacht Scham

ERF: Sie sprechen es in Ihrem Buch an: Menschen schämen sich ihrer Einsamkeit. Was bedeutet das, auch für die Untersuchungsergebnisse?

Dr. Hans-Arved Willberg: Das Untersuchen von Vereinsamung stößt dann an Grenzen, wenn sich Menschen schämen. Das ist eng verwandt mit der Scham bei Armut. Dazu kommt, dass Armut und Einsamkeit die beste Mischung geben, um pathologische Vereinsamung zu produzieren. Armut ist ein wesentlicher Faktor dabei, Wohlstand puffert das Vereinsamungsproblem enorm ab.
 

ERF: Sie gehen in Ihrem Buch auf unterschiedliche philosophische und theologische Texte ein. Unter anderem findet sich da ein Text aus den Psalmen, der Ihrem Buch gewissermaßen als Motto vorangestellt ist. Was können wir diesen uralten Texten zum aktuellen Problem Einsamkeit entnehmen?

Dr. Hans-Arved Willberg: Im Psalm 25 heißt es in der Lutherübersetzung „Ich bin einsam und elend“. Das spricht mich besonders an, denn genaugenommen steht da „einsam und arm“. Diese Verbindung wird dort schon beim Namen genannt und Gott geklagt. Einsamkeit als Leid und Armut, die fatal ineinander hängen können mitsamt der Beschämung.

Es steht viel in der Bibel über Einsamkeit. Die Erfahrung der Einsamkeit wird auch symbolisch in Verbindung gebracht mit der Gottentfremdung. Das ist existenzielle Einsamkeitserfahrung.

Umgekehrt ist der Friede mit mir selbst, mit anderen und mit Gott die Erfahrung des Geborgenseins, das Ahnen des Daheimseins.

Wege aus der Einsamkeit

ERF: Was kann jemand, der Einsamkeit als belastend empfindet, selbst tun, um diese zu überwinden?

Dr. Hans-Arved Willberg: Es geht darum, aus der Glocke der Isolation herauszukommen. Das ist das Wesentliche. Die Frage ist: Was liegt am nächsten: Bedeutet es, eingeschlafene Beziehungen wieder zu aktivieren? Den Anruf zu tätigen, der schon jahrelang nicht mehr stattgefunden hat? Jemanden aufzusuchen, also selbst wieder Beziehung zu knüpfen?

Es kann aber auch bedeuten, dass ich mich in einer Beziehung einsam fühle. Dann sollte ich den Mut finden, diese Beziehung auf ein anderes Fundament zu stellen, so dass es wieder schön ist miteinander.

Wer die Kraft nicht hat und zu pessimistisch ist, also eigentlich nur noch schwarzsieht in der emotionalen Isolation oder sich schämt, sollte Fachpersonen aufsuchen. Einen Termin in der Seelsorge oder bei einer Psychotherapeutin ausmachen. Man bekommt eigentlich immer ziemlich schnell ein paar Probier-Termine und die können schon ausreichen, genügend ins Gespräch zu kommen, um zu besprechen, was Betroffene selbst tun können.

Eine wichtige Rolle spielen dabei auch Kontakte zu Fachpersonen, die schon da sind. Ob das eine Pastorin ist oder ein Arzt, zu dem man sowieso immer wieder mal hingeht oder in den Gottesdienst kommt. Da den Mut fassen – auch mit Herzklopfen – und sagen: „Wissen Sie, ich hab ein ganz großes Problem damit, dass ich mich wahnsinnig einsam fühle.“

Was können Christen gegen Einsamkeit tun?

ERF: Was kann die christliche Gemeinde, also eine schon bestehende Gemeinschaft, tun, um auf die zu achten, die am Rande stehen und es aus eigener Kraft nicht schaffen, aus der Glocke der Isolation herauszukommen?

Dr. Hans-Arved Willberg: Ich denke hier an das Gleichnis von dem Pharisäer im Tempel und dem Zöllner, der am Eingang des Tempels steht und sich nicht reintraut, weil er sich schämt. Das ist kein Armer, sondern ein Reicher, der sich schämt und einsam ist.

In einer solchen Situation heißt es, den Mut ausbilden, auch auf solche und gerade auf solche Menschen zuzugehen, auf die man sonst nicht zugehen würde. Auf die, die am Rand sind.

Das ist das eine, aber das betrifft erst einmal nur die Peripherie von Gemeinde. Und solche Peripherien gibt es teilweise gar nicht, weil die Gemeinden in sich abgeschlossen sind. Die Nachbarn außenherum kommen erst gar nicht in den Blick. Dazu braucht es Struktur. Dazu braucht es Theologie, dazu braucht es eine entsprechende Verkündigung.

Es muss zum Wesensmerkmal von Kirche werden, hinauszugehen und isolierte Menschen aufzusuchen, und zwar aus eigener Initiative und mit viel Kreativität und Geduld.

ERF: Einsamkeit ist kein Schicksal, sondern etwas, das man ändern kann. Herzlichen Dank Dr. Willberg für das Interview.
 

Autor/-in

Stephan Steinseifer

  |  Moderator und Redakteur

Er hat Philosophie, Theologie und Germanistik studiert und dann beim ERF das Radiohandwerk von der Pike auf gelernt. Viele Jahre war er einer der Live-Moderatoren von „Aufgeweckt“ und ist gegenwärtig eher „hinter den Kulissen“ tätig – u. a. als Verantwortlicher für das Magazin „Der Feierabend“.

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G.W. /

Wichtige Gedankenanstöße und doch: Wie kann diese Gemeindestruktur entstehen? Was für eine Verkündigung erreicht die sozial Vereinsamten (in den Medien gefangen, in Shows aller Art und dann Sport und mehr

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