Ambiguitätstoleranz. Fangen wir doch direkt mit einem Wort an, mit dem man auf Partys und Gemeindefesten ordentlich Eindruck schinden kann. Was bedeutet dieses Wort? Wikipedia bringt es auf den Punkt: „Ambiguitätstoleranz ist die Fähigkeit, mehrdeutige Situationen und widersprüchliche Handlungsweisen zu ertragen.“
Schöne Sache. Aber dieses Aushalten von Spannungen ist gesellschaftlich – auch bedingt durch soziale Medien – auf dem Rückzug. Polarisierung regiert den Diskurs und somit Spaltung, Konflikt, Abgrenzung. Konservativ gegen woke. Impfbefürworter gegen Impfverweigerer. Evangelikale gegen Postevangelikale. Verbrenner gegen E-Auto.
Bringt ein solches Schwarzweiß-Denken die Gesellschaft, Kirchen, Gemeinden weiter? Einen selbst? Ganz sicher nicht.
Viele Menschen erleben diese Verschärfung im Miteinander als belastend bis verletzend. Manche ziehen sich zurück oder geben auf. Verlassen Organisationen. Weil die Seele sich an dieser Härte wund gerieben hat. Ich spreche da aus eigener, bitterer Erfahrung.
In der Psychologie wird Ambiguitätstoleranz dagegen als Reifezeichen der menschlichen Psyche verstanden, also als etwas Erstrebenswertes. Aber wie können wir in dieser Richtung wachsen?
Wie können wir mit den Spannungen in Gesellschaft und im persönlichen Umfeld umgehen, ohne uns sprichwörtlich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen? Wie kann ein Miteinander in Respekt gelingen und was sind erste, praktische Schritte?
Heilsame Haltungen
Unser Herz und damit unsere Haltung entscheidet. Dazu braucht es Werte, die bei Übertretung wie eine Warnlampe aufleuchten. Solche Werte sind zum Beispiel:
- Wertschätzung der Person über die Meinung hinaus
Der Mensch ist Ebenbild Gottes – unabhängig von seiner Meinung. Ja, auch dieser „Kotzbrocken“, an den Sie gerade denken. Das ist und bleibt Grundlage des jüdisch-christlichen Menschenbildes. Eine Abwertung von Menschen in ihrem Wert ist nicht akzeptabel.
- Unterscheidung zwischen Person und Meinung
Das ist die logische Folgerung aus der ersten Überzeugung. Ich kann eine Meinung abwegig bis verachtenswert finden, doch ich sollte bereit sein, den Menschen dahinter trotzdem zu segnen und anzunehmen. Das bedeutet allerdings nicht, mit ihm Gemeinschaft oder gar Freundschaft haben zu müssen.
- Demut und Lernbereitschaft
Es gibt einen Gott – und Sie sind es nicht. Sie können sich irren. Ich mich auch. Wir haben alle nur einen Teil des Erkenntniskuchens. Demut bedeutet: Sich selbst realistisch sehen – auch in der eigenen Begrenztheit. Und neugierig zu bleiben auf andere Sichtweisen.
- Gelassenheit durch Gottvertrauen
Ich muss und kann andere Menschen nicht ändern. Das ist Gottes Aufgabe. Er arbeitet an jedem Menschen zum Guten (unter Respekt des freien Willens). Auch dann, wenn ich das (noch) nicht sehe.
- Barmherzigkeit
„Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist“ (Lukas 6,36). Menschen sind unterschiedlich. Der Grad von Erkenntnis ist unterschiedlich. Menschen haben ihre jeweils eigene Biografie, die ich nicht kenne. Das anzunehmen und freundlich zu betrachten, ist ein wichtiger Teil von Barmherzigkeit und hilft uns, empathisch zu bleiben. Empathie ist Mangelware in der aktuellen Kultur.
- Identität in Christus
Wenn meine Identität nicht von der Zustimmung anderer abhängt, sondern ich mich stattdessen von Gott zutiefst angenommen und geliebt weiß, egal wie viel ich verbocke, kann ich Andersdenkenden freier begegnen. Hier liegt die tiefe Ursache vieler Konflikte: Abweichung und Kritik wird als Angriff auf die Identität verstanden und diese muss dann logischerweise verteidigt werden.
Und jetzt: Friede, Freude, Eierkuchen?
Schön, aber sollen wir nun alles mit Harmoniesoße übergießen? Oder gibt es nicht manchmal sogar die Notwendigkeit, Grenzen zu ziehen und Klartext zu reden? Diese Frage ist eindeutig mit JA zu beantworten. Eine weitere Frage ist: Zu welchen Dingen mache ich den Mund auf und wann sollte ich Grenzen ziehen? Hier ein paar Wegweiser dazu.
Abgrenzung ist notwendig …
... wenn andere übergriffig und grenzverletzend werden – sei es verbal, emotional oder auch strukturell. Wenn wir unsere Grenzen nicht gegen solche Übergriffigkeiten schützen, gehen wir mit unserem eigenen Herzen nicht achtsam um. Keiner und keine von uns ist ein Fußabtreter! Niemals.
... wenn Integrität, Glaube oder Berufung kompromittiert werden. Wir alle haben Grundüberzeugungen, die noch über unseren Werten stehen. Bei Christen und Christinnen ist es der Glaube. Und der Weg, den sie von Gott her für sich erkannt haben.
Diese Dinge sind Grundmauern unserer eigenen Integrität, die es zu verteidigen gilt. Das gilt aber nicht im gleichen Maße für Ausprägungen und Teilüberzeugungen des Glaubens wie zum Beispiel das Schöpfungs- oder Abendmahlsverständnis oder andere theologische Detailfragen wie zum Beispiel die Haltung zum Thema Homosexualität.
Hier ist es wichtig Ambiguitätstoleranz zu erlernen, Christus im Zentrum der Beziehung zu halten und den Nächsten als Bereicherung zu verstehen.
... wenn ein Miteinander bedeutet, Kernwerte aufzugeben. Kernwerte können Dinge sein wie Vertrauen, Verlässlichkeit, Offenheit, Ehrlichkeit. Es ist wichtig, sich seines eigenen Wertekanons bewusst zu sein. Überlegen Sie, in welchen Werten Vielfalt und Gemeinschaft mit Andersdenkenden möglich ist – und in welchen nicht.
Wie zum Beispiel die Handwerkerin, die sich weigert, schwarz zu arbeiten. Der Büroleiter, der für seinen Chef nicht lügen will. Die Versicherungsmaklerin, die es nicht mehr ertragen kann, Menschen Dinge aufzuschwatzen, die sie nicht brauchen.
Was sind Ihre unaufgebbaren Kernwerte? Ziehen Sie an diesen Stellen keine Grenze, verletzen Sie sich letztlich selbst.
Grenzen ziehen statt Mauern errichten
Und wie zieht man nun angemessen eine Grenze? Zuerst durch eine klare Kommunikation: Bis hierhin und nicht weiter! „Nein“ ist ein vollständiger Satz. Das muss erlernt werden – gerade, wenn die eigene Prägung einen eher Richtung Harmonie und Anpassung drängt.
Für manche Menschen ist Neinsagen kaum ohne Scham oder Schuldgefühl möglich. Dahinter steckt meistens eine Prägungsgeschichte, in der Rebellion und Abgrenzung nicht akzeptiert oder sogar bestraft wurden. An dieser Stelle mache ich Ihnen Mut, sich eine kompetente Begleitung zu suchen, um diese Prägung zu verwandeln.
Gesunde Grenzen definieren uns. Grenzen, nicht Mauern.
Grenzen haben gut bewachte Tore, durch die wir gerne andere Meinungen und Überzeugungen einladen, hereinzukommen. Wir schließen und verteidigen sie aber auch, wenn es uns nicht guttut.
Dieser Lernprozess ist einer der Wichtigsten im Leben: Weg von unumstößlichen Mauern auf der einen Seite oder totaler Offenheit auf der anderen Seite hin zu gesunden Grenzen! Das Ziel ist hier, Grenzen mit Respekt und Klarheit zu setzen – nicht mit brutaler Härte. Und ja, manchmal ist auch Trennung dran. Wege dürfen sich trennen.
In der Bibel lernen wir genau das: Menschen, die Grenzen setzen und gleichzeitig dialogfähig bleiben. Jesus, der toxische Theologie begrenzt, aber auch Brücken baut bei abweichender Theologie (vgl. Johannes 4,19ff).
Paulus, der öffentlich Petrus widerspricht, als dieser heuchlerisch handelt (vgl. Galater 2,11ff), aber gleichzeitig respektvoll dialog- und anschlussfähig bleibt gegenüber den Athenern auf dem Areopag (vgl. Apostelgeschichte 17,17-34).
Apropos Paulus: Gerade bei ihm sehen wir, wie er aus einer dogmatisch fanatischen Enge und Polarisierung (wir sind die Guten – die sind die Bösen) durch Jesus herausgeführt wird in die Weite des Evangeliums. Dazu brauchte er noch ein paar Jahre in der Wüste, aber er hat es geschafft!
Gesunde Demut leben
Und wie können wir einander ganz praktisch mit Respekt begegnen? Das meiste erschließt sich bereits aus dem Gesagten.
Es beginnt damit, an der eigenen Haltung zu arbeiten, sich selbst zu hinterfragen. Spannungen auszuhalten und nicht direkt mit Flucht oder Kampf zu reagieren. Nein zu sagen, wo es dran ist, ansonsten in Demut zuzuhören und neugierig auf das zu sein, was andere mich über das Leben und den Glauben lehren können. Zuhören, um zu verstehen, und nicht, um zu antworten.
Ein weiterer Tipp für ein zugewandtes, respektvolles Miteinander ist folgender: Über gemeinsame Werte reden, anstatt das Trennende zu finden und sich daran zu ergötzen, weil man sich dann ein wenig überlegener fühlt.
Kurz: eine gesunde Demut leben. Langsamer zum Reden und schneller zum Hören zu sein. Und nicht zu jedem Thema den eigenen Senf absondern, gerade dann, wenn dieser Senf nicht mit fundiertem Wissen untermauert ist.
Das alles erfordert Courage.
Aber wenn wir beginnen, Spannungen und Konflikte als Chance zu sehen, dann kann an diesen Reibungsflächen Wachstum geschehen.
Denn Wachstum ereignet sich nun mal nicht gemütlich auf dem Sofa mit der Chipstüte auf dem Bauch.
Vielleicht kriegen wir die ganz großen Konflikte dieser Welt nicht gelöst, aber wir können Wertschätzung unseren Familienmitgliedern, Freunden und Nachbarn gegenüber einüben. Wenn wir das beherzigten, haben wir eine Chance für ein besseres Miteinander. In dem sich Herzen öffnen können – auch für das Evangelium.
Ihr Kommentar
Kommentare (2)
Das hört sich alles schlüssig an. Aber das Umsetzen, nur der Versuch, lässt mich oft scheitern. Du öffnest die Haustür, gepowert mit dem Wissen und vor der Tür steht der Teufel, der mich in eine … mehrbeschriebene herausfordernde Situation bringt. Der tobende Nachbar, u.v.a.m. und alles Wissen bleibt im Halse stecken.
Hier wurde das kleine Einmaleins des Dialoges und der Diskussion passend erläutert. Ich denke niemand ist in den genannten Punkten perfekt und es bedarf bei jedem sicherlich noch etwas … mehrFeinjustierung. Ich denke beim Thema Wachstum sollte bewusst auf eine gesunde Mischung zwischen "mit Chipstüte auf der Couch, Fleiß und klarer Denkweise, optimalerweise durch das tägliche Studieren der Bibel" geachtet werden. Alles andere würde wahrscheinlich zu extrem in die eine, oder aber auch andere Richtung abweichen.