
04.07.2023 / Zum Schwerpunktthema / Lesezeit: ~ 6 min
Autor/-in: Tanja RinslandDiese Zeit braucht uns
Kreativität ist mehr als basteln, malen und musizieren: 5 Faktoren für mehr Kreativität in herausfordernden Zeiten.
Und plötzlich ist sie da. Die Idee. DIE Idee. Nach stundenlangem grübeln, diskutieren, ringen, analysieren, reden und zerreden. Endlich sagt das Bauchgefühl: „Jetzt haben wir es. Das ist die Lösung.“
Ich habe unzählige Stunden meines nunmehr 14-jährigen Berufslebens damit verbracht, Probleme zu lösen. Es ist nicht gerade der vergnügungssteuerpflichtige Teil meines Jobs, vielleicht aber der bedeutsamste: das Ringen um angemessene Antworten auf komplexe Fragestellungen. Oft haben mir solche Tage jedes kleine bisschen an Kreativität abverlangt, die ich aufbringen konnte – und manchmal blieb der erlösende Gedankenblitz auch aus.
Wenn wir von Kreativität sprechen, denken wir häufig in erster Linie an künstlerische Ausdrucksformen: Malerei, Musik, Dichtung. In der Psychologie wird Kreativität aber viel umfassender verstanden: Neben schöpferischen Tätigkeiten meint sie auch die Fähigkeit, in unübersichtlichen Lagen passende Lösungen zu finden.
In der Psychologie meint Kreativität die Fähigkeit, in unübersichtlichen Lagen passende Lösungen zu finden.
Kreativität ist also für politische Entscheiderinnen und Entscheider mindestens genauso erforderlich wie für Kunstschaffende. Nicht zuletzt in Zeiten wie unseren, wo die Welt aus den Fugen zu geraten scheint.
Was ist Kreativität?
Der Psychologe Karl-Heinz Brodbeck bezeichnet jedes menschliche Handeln als kreativ, das „Neues und Wertvolles“ hervorbringt. In diesen beiden Wörtchen steckt wohl die Krux: Es reicht eben nicht, etwas Neuartiges zu produzieren. Es muss auch von Wert sein. Ein Roman mag einzigartig sein. Wenn ihn aber keiner lesen möchte, mangelt es ihm wohl an Kreativität. So bleibt auch ein unpraktikabler Lösungsansatz wertlos, egal wie innovativ er klingt.
Positiv ausgedrückt: Überall da, wo Wertvolles neu entsteht, handeln Menschen kreativ. Von dem Vater, die seine Kinder fördert über die Ingenieurin, die an KI forscht bis hin zur Politikerin, die Konfliktparteien für einen Kompromiss gewinnt. Ohne den Motor der Kreativität wäre unsere Gesellschaft nicht funktionsfähig.
Dieses Konzept findet sich schon auf den ersten Seiten der Bibel: Es ist der „Creator“, zu Deutsch der Schöpfergott, der aus nichts ein Etwas erschafft, und zwar ein durch und durch wertvolles Etwas. Und Gott tut dies nicht allein, sondern im dreieinen Wir. Denn Kreativität entsteht häufiger in Gemeinschaft als im Kopf eines eigenbrötlerischen Genies.
Wie werde ich kreativ?
Doch auch wenn Kreativität göttlichen Ursprungs ist: Vom Himmel scheint sie leider nicht zu fallen. Es gibt unzählige Studien über Organisationen, die als innovative Vorreiter gelten, und doch lässt ein funktionierender „10-Punkte-Plan zur superinnovativen Firma“ immer noch auf sich warten. Flüchtig und nicht wirklich steuerbar ist sie, die Gabe, die unsere Gesellschaft – und unsere Kirchen – überlebensfähig macht.
Was man allerdings inzwischen weiß: Es gibt Faktoren, die es Menschen leichter machen, kreativ zu sein. Fünf davon will ich jetzt genauer betrachten: Zuversicht, Wissen, Irritation, Planung und Motivation.
1. Zuversicht
Panik ist ein echter Innovationskiller. Wem das Wasser bis zum Hals steht, interessiert sich nicht für „one more thing“, sondern möchte – egal wie – ans rettende Ufer. Kreativität braucht die Zuversicht, dass das Vorhaben überhaupt gelingen kann.
Unter Schriftstellerinnen und Schriftstellern wird gerne das Dilemma des „weißen Blattes“ diskutiert. Wenn Autorinnen und Autoren eine Schreibblockade haben und gleichzeitig unter Druck stehen, kreativ sein zu müssen. Der Stresspegel steigt, die Uhr tickt und die Ideen bleiben trotzdem aus. Schreibcoaches raten in solchen Fällen: Einfach schreiben, auch wenn es miserabel wird. Besser ein Blatt voller schlechter Ideen als gar keine. Das Konzept dahinter ist einfach: Kreativität erfordert Mut, aber mutig kann nur der sein, der sich selbst als handlungsfähig erlebt. Zuversicht entsteht durchs Tun.
Kreativität erfordert Mut, aber mutig kann nur der sein, der sich selbst als handlungsfähig erlebt. Zuversicht entsteht durchs Tun.
2. Wissen
Vor vielen Jahren lernte ich während einer Vorlesung über Filmgeschichte ein zentrales Prinzip der Kreativität kennen. Unser Dozent erzählte uns die Geschichte der Nouvelle Vague, einer der bedeutsamsten Filmepochen des europäischen Kinos. In den 50er Jahren drehten junge französische Regisseure sehr innovative Filme, die alle Konventionen des Mediums sprengten.
Bemerkenswert war, dass diese Regisseure große Alfred Hitchcock-Fans waren, obwohl seine Thriller bei den Intellektuellen und Filmkritikern ihrer Zeit als überkommerzielles Popcorn-Kino verschrien waren. Als anspruchslose Unterhaltung für die Massen.
Die jungen Filmemacher erkannten in Hitchcocks Hollywoodstreifen die Handschrift eines Meisters seines Handwerks. Sie studierten seine Montage, Kameratechnik und Erzählstruktur, um daraus eigene Ideen zu generieren, die das europäische Kino revolutionierten.
Es ist eine Fehlannahme, dass innovatives Denken kein Fachwissen braucht. Es ist oftmals das Fundament der Kreativität. Nur durch unser Fachwissen beherrschen wir das nötige Werkzeug, um ein Thema in seiner Komplexität zu begreifen.
Außerdem geht es beim kreativen Denkprozess meistens gar nicht darum, etwas völlig Neues zu erfinden, sondern wir kombinieren Bekanntes so, dass etwas Anderes daraus entsteht. So, wie die jungen Regisseure die Stilmittel eines Hitchcocks völlig neu interpretierten, um ihre Visionen umzusetzen.
Dieses Prinzip lässt sich auf viele Bereiche anwenden: Ob ich Predigten schreibe, Menschen seelsorgerlich berate oder koche: Erst lerne ich das Handwerk, um dann die ganze Klaviatur der Kreativität spielen zu können.
3. Irritation
Das Verrückte daran ist: Wissen kann auch ein Hindernis sein, kreativ zu werden. Nämlich da, wo ich mein Wissen nicht hinterfrage und dadurch mir selbst Denkverbote auferlege. Im Englischen spricht man gerne vom „Out-of-the-box-thinking“, also außerhalb der (Denkmuster)-Kiste denken.
Das ist leichter gesagt als getan, schließlich entstehen Denkmuster oft unbewusst und entziehen sich damit einer direkten Einflussnahme. Damit ich sie durchbrechen kann, brauche ich Impulse von außen, die in Spannung zu meinen Gedanken stehen. Innovationsforschende nutzen dafür auch den Fachbegriff der „Irritation“, also eine Störung, die meine bisherigen Annahmen und Muster in Frage stellt.
Auch deswegen entsteht Kreativität oft im Austausch mit einem Gegenüber, weil die Vorstellungen des anderen nicht meinen Denkverboten unterliegen. An mir liegt es, mich auch irritieren zu lassen
An mir liegt es, mich auch irritieren zu lassen.
4. Frühzeitige Planung
Der amerikanische Psychologe Robert Sternberg hat jahrelang zum Thema Intelligenz geforscht und sich unter anderem mit dem Wesen der Kreativität auseinandergesetzt. Seine erstaunliche Entdeckung: Kreative Problemlöser zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich am Anfang Zeit nehmen zu planen, bevor sie neuartige Aufgaben angehen. Wie der französische Chemiker Louis Pasteur feststellte: „Der Zufall begünstigt den vorbereiteten Geist.“ Sie stürzen sich also nicht sofort auf die kreative Aufgabe, sondern planen erst, wie sie die Herausforderung angehen wollen.
Vielleicht ist dies einer der Gründe, warum Kreativität so schwer zu erzwingen ist. Auf der einen Seite braucht sie die Freiheit, Neues zu denken und intuitiv zu handeln. Und doch erfordert sie auch Denkdisziplin und analytisches Vorgehen.
5. Motivation
Während ich das bisher geschriebene so überfliege, stelle ich fest, dass Kreativität ein gerütteltes Maß an Arbeit erfordert: Wissen akquirieren, Impulse von außen einholen, planen... puh.
Warum wirkt es aber manchmal so mühelos, kreativ zu sein? Warum empfinde ich es sogar als Glück, obwohl ich viel Mühe und Arbeit in ein kreatives Projekt investieren muss? Der ungarische Psychologe Mihály Csíkszentmihályi entwickelte einen Erklärungsansatz dafür, den sogenannten „Flow“. Wenn Menschen eine für sie interessante Tätigkeit ausüben, die sie sehr herausfordert, aber nicht überfordert, dann kommen sie in einen „Flow-Zustand“:
Man geht in einer Aufgabe ganz auf, vertieft sich und verliert sogar das Zeit- und Raumgefühl, man fühlt sich regelrecht beflügelt. Wenn Motivation und die eigenen Fähigkeiten auf eine interessante und gleichzeitig herausfordernde Aufgabe treffen, dann erblüht unsere Kreativität. Faszinierend.
Als Gott den Menschen geschaffen hat, hat er sein Ebenbild in ihn hineingelegt. Ich glaube, unsere Fähigkeit kreativ zu gestalten ist eines der lautesten Zeugnisse von Gottes Wesen in dieser Welt.
Kreativität ist eines der lautesten Zeugnisse von Gottes Wesen in dieser Welt.
Vielleicht, weil es eine so herrlich verschwenderische Gabe ist. Komplex, nicht steuerbar, manchmal unverfügbar. Und doch macht sie so glücklich. Eben ganz so, so wie Gott selbst ist. Also: Werden wir kreativ! Die Welt braucht uns.
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