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© Towfiqu barbhuiya / unsplash.com

24.08.2022 / Interview / Lesezeit: ~ 5 min

Autor/-in: Lena Kolberg

Keine Kultur des Sterbens, sondern des Lebens

Ekkehart Vetter von der Evangelischen Allianz über Suizid-Prävention als gesamtgesellschaftliche Aufgabe.

 

Über diesem Thema liegt ein Tabu; es passt weder zu geselligen Sommerabenden noch zum Small-Talk in der Büropause, das Thema Suizid. Dabei sterben in Deutschland durch Selbsttötung dreimal so viele Menschen wie im Straßenverkehr. Beihilfe zum Suizid steht bisher unter Strafe, doch das Bundesverfassungsgericht hat den Gesetzgeber aufgefordert, das zu ändern. Für mehr Suizid-Prävention will sich die Deutsche Evangelische Allianz stark machen und das Thema in Kirchen und Gemeinden bringen. Wir haben mit dem Vorsitzenden der Deutschen Evangelischen Allianz, Ekkehart Vetter, gesprochen.
 

ERF: Wenn der Bundestag dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts folgt und assistierter Suizid möglich wird, befürchten Sie dann einen Anstieg der Selbsttötungen?

Ekkehart Vetter: Da können wir ins europäische Ausland schauen. Es gibt Länder mit deutlich liberalerer Gesetzgebung seit vielen Jahren, zum Beispiel die Schweiz oder die Niederlande. Da wird deutlich, dass die Möglichkeit des assistierten Suizids eben auch die Zahlen steigen lässt. Für die Schweiz gibt es Statistiken, dass sie sich innerhalb von acht Jahren verdreifacht haben, in den Niederlanden gibt es da auch immer wieder Höchststände.

Ich denke es gibt so etwas wie einen Gewöhnungseffekt. Wenn diese Rechtsbarriere einmal eingerissen ist, steigt die Zahl der Suizide, und das würde in Deutschland vermutlich nicht anders sein.

Keine Verurteilung

ERF: In einer Stellungnahme lehnen Sie klar die Beihilfe zum Suizid ab. Für chronisch kranke Menschen, die keine Hoffnung mehr sehen für ihr Leben, könnte das hartherzig wirken. Haben Sie Verständnis für Menschen, die aufgrund ihrer schweren Krankheit nicht mehr können oder wollen?

Ekkehart Vetter: Ja, klar kann ich das verstehen. Ich denke an persönliche Situationen, wo ich in meinem beruflichen Umfeld solche Dinge erlebt habe und hartherzig wirkt dann immer der Einzelfall. Ich glaube da dürfen wir niemanden verurteilen, der das Leid eines Menschen jetzt abkürzen möchte.

Auf der anderen Seite, und das gilt ja in der Politik zu beachten, gibt es auch eine Gesamtgesellschaft. Und da würde ich sagen, darf es keine Kultur des Sterbens, sondern des Lebens geben.

Es darf keine Kultur des Sterbens, sondern des Lebens geben.
Ekkhart Vetter, Vorsitzender der Deutschen Evangelischen Allianz

Umsetzung in allen gesellschaftlichen Bereichen

Suizidprävention ist keine Sache der letzten fünf Minuten oder der letzten Tage oder Wochen des Lebens. Sondern es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, wo man in Schule, Ausbildung, Arbeitsplatz, Medizin, Medien, Familie und natürlich auch Kirche dran arbeiten muss und nicht nur auf den letzten Metern.

Natürlich kann ich verstehen, dass Menschen da in große Not hineinkommen. Aber wenn wir von Suizid-Prävention reden, dann muss das viel früher losgehen. Ich weiß als Christ, dass der Mensch ein verletzliches Wesen ist und auch ein in Beziehung eingebundenes Wesen ist. Dieses Beziehungsnetzwerk brauchen eben auch kranke und schwerstkranke Menschen. Und das ist eine Sache, die muss sich rechtzeitig einspielen und die muss ich rechtzeitig unterstützen.

Vorsorge besser als Nachsorge

ERF: Als Evangelische Allianz unterstützen Sie einen fraktionsübergreifenden Antrag, in dem 85 Abgeordnete die Bundesregierung auffordern, Suizidprävention zu stärken, z.B. durch den Ausbau der Hospiz- und Palliativversorgung und der psychosozialen Beratung. Sie rufen auch christliche Gemeinden dazu auf, sich in dieser Richtung zu engagieren. Wie stellen Sie sich das konkret vor?

Ekkehart Vetter: Zunächst einmal ist Prävention, also Vorbeugung, immer besser als Verbote. Wenn man erst mit Verboten arbeiten muss, das ist immer erst die zweitbeste Möglichkeit. Wir haben als Evangelische Allianz eine Schrift zum Thema Assistierter Suizid herausgegeben, die eine ganze Menge Hilfen und Überlegungen und auch sehr viele praktische Beispiele bringt.

Gespräch der erste Ansatz

Aber ich glaube, dass man, wenn man sich zusammensetzt, eine ganze Menge Ideen entwickeln kann. Also einmal müsste, ich spreche jetzt mal für die Kirchen, das Thema enttabuisiert werden. Man muss darüber reden, man muss nicht so tun, als sei das kein Thema. Jeder von uns kennt über den Lauf des Lebens Situationen, wo er in seinem Umfeld so etwas erlebt hat. Wir dürfen Menschen nicht alleinlassen mit diesen Fragestellungen.

 

Man muss über Suizid reden, man muss nicht so tun, als sei das kein Thema
Ekkhart Vetter, Vorsitzender der Deutschen Evangelischen Allianz

Viele Unterstützungsmöglichkeiten

Ich kann mir vorstellen, dass man Themenabende anbietet, wo man geeignete Experten einlädt oder Initiativen, Menschen, die da Erfahrungen gemacht haben. Damit andere eben auch die Chance haben, sich auch in Krisen an Vertrauenspersonen zu wenden.

Und dann könnte man Politiker in Wahlkreisen auffordern, diesen Entwurf zu unterstützen etc. Es gibt glaube ich eine ganze Menge Möglichkeiten. Die Telefonseelsorge sucht z.B. Mitarbeiter oder auch in den Hospizen wird ehrenamtliche Mitarbeit gesucht. Also, dass Menschen sich in irgendeiner Form an irgendeiner Stelle in der Prävention engagieren können. Da gibt’s viele Möglichkeiten.

Selbstbestimmung und ihre Grenzen

ERF: Die Selbstbestimmung des Menschen in allen Bereichen wird für viele immer wichtiger – was ist daran gut, und wo sehen sie gerade aus christlicher Sicht Grenzen?

Ekkehart Vetter: Selbstbestimmung ist natürlich ein hoher Wert – das ist im geistlichen und im politischen so, im Grundgesetzt zum Beispiel. Wenn wir das als Freiheit und Unabhängigkeit verstehen. Das ist was sehr Wertiges.

Aber wir leben auch in einem sozialen Gefüge, das mir gewisse Grenzen setzt und mir Rahmenbedingungen vorgibt. Und ich glaube, dass es hier zusätzlich zu all dem eben deswegen so ein hoch-emotionales Thema ist, weil wir es mit existentiellen Grundfragen unseres Lebens verknüpfen.

Und da ist es eben so: Leben ist nicht in unserer Verfügungsgewalt. Auf der einen Seite Selbstbestimmung: ja, und auf der anderen Seite sehe ich: wo immer wir Menschen menschliches Leben antasten, als Menschen, da gehen wir über Grenzen hinaus, die uns gesetzt sind, weil wir Geschöpfe Gottes sind und wir eben Leben nicht antasten dürfen.

Also, Selbstbestimmung ist nicht einfach eine unbegrenzte Freiheit, in der ich tun und lassen kann, was ich will, sondern das hat alles einen Rahmen, der mir eben auch geistlich vorgegeben ist.

ERF: Herr Vetter, vielen Dank für das Gespräch.

 

Sie denken an Suizid, machen sich um jemanden Sorgen oder haben einen Menschen aufgrund eines Suizidtodesfalls verloren? Hier finden Sie Erste-Hilfe-Tipps, Notfallkontakte und Hilfsangebote.

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Kommentare (1)

G.W. /

wichtig. Anteilnahme und Begleitung. Gemeinschaft.

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