22.09.2020 / Interview

Wunden der Seele

Traumatische Erfahrungen erkennen und bewältigen. Ein Interview mit Psychologin Annemie Großhauser.

Traumatische Erfahrungen können zur lebenslangen Belastung werden, wenn sie nicht verarbeitet werden. Wer sich hingegen bewusst damit auseinandersetzt, kann innere Heilung erfahren. Ein Gespräch mit Psychologin Annemie Grosshauser.
 

ERF: Was ist ein Trauma genau?

Annemie Grosshauser: Das Wort Trauma kommt aus dem Griechischen und bedeutet allgemein Verletzung oder Wunde. Bei körperlichen Wunden ist das offensichtlich, im psychischen Bereich weniger. Ein Ereignis kann traumatisieren, wenn es plötzlich und unerwartet geschieht und die Person hilflos ist. Entscheidend ist auch die Intensität des Schocks und wie stark die Person persönlich betroffen ist.

Zum Beispiel ist es weniger traumatisierend, wenn bei einem Erdbeben mein Wohnwagen zerstört wird, als wenn ich dadurch mein gesamtes Hab und Gut verliere. Auch eine schwierige Geburt kann eine Frau als lebensbedrohlich und dadurch traumatisierend erleben.

Die belastende Erfahrung entmachten

ERF: Welche Verhaltensweisen deuten darauf hin, dass ein mir nahestehender Mensch ein Trauma erlitten hat?

Annemie Grosshauser: Die Reaktionen können sehr unterschiedlich sein. Zum einen ist das persönlichkeitsbedingt, zum anderen kommt es auf die jeweilige Phase der Verarbeitung an. Wir sollten aufmerken, wenn sich jemand scheinbar grundlos völlig anders verhält als früher. Manche traumatisierte Personen versuchen das Erlebte zu verdrängen und stürzen sich in Aktivitäten, andere ziehen sich total zurück. Sie werden apathisch und emotionslos.

Wieder andere leiden unter starken Gefühlsschwankungen, reagieren mit Ängsten, Schlafproblemen und geringer Belastbarkeit. Auch psychosomatische Krankheitssymptome wir Migräne, Schwindel, Magen- und Rückenprobleme können auftreten. Ebenso ist ein erhöhtes Risiko zu Alkohol- und Drogenmissbrauch zu beobachten.
 

ERF: Warum ist es so wichtig, traumatische Erfahrungen gezielt aufzuarbeiten?

Annemie Grosshauser: Solange man sich damit nicht bewusst auseinandersetzt, bleiben traumatische Erfahrungen immer präsent und belasten einen. Sie erschüttern unsere Seele und unser Weltbild. Was vor dem Ereignis noch sicher und stabil war, ist plötzlich aus den Fugen geraten. Vielleicht sind Menschen bedrohlich geworden, denen wir bedingungslos vertraut haben – das ist zum Beispiel bei Missbrauch der Fall.

Über eine traumatische Erfahrung zu sprechen hilft, das Belastende zu entmachten. Es entstehen neue Gedanken und Werte, die der Person Hoffnung und eine neue Ausrichtung geben. – Psychologin Annemie Grosshauser

Den anderen verständnisvoll begleiten

ERF: Worauf kommt es an, um ein Trauma erfolgreich zu überwinden?

Annemie Grosshauser: Zum einen kommt es sehr auf die seelische Belastbarkeit einer Person an, die sogenannte Resilienz. Wer in seiner Kindheit viel Sicherheit, Zuwendung und Bestätigung erfährt, hat eine größere Chance, eine belastbare Psyche zu entwickeln und traumatische Erfahrungen besser zu verarbeiten.

In unserer westlichen Gesellschaft ist der Einzelne viel mehr auf sich allein gestellt als in anderen Kulturen. Das fängt schon in der Kindheit an. Ein soziales Umfeld, in dem Menschen aufeinander achten, hilft dagegen bei der Verarbeitung eines Traumas. Eine traumatisierte Person braucht Raum zur Trauer und Wut – und zwar nicht nur am Anfang, sondern auch in den Wochen und Monaten danach. Dafür braucht sie eine sensible Begleitperson und ein verständnisvolles Umfeld.

Eine traumatisierte Person braucht Raum zur Trauer und Wut – und zwar nicht nur am Anfang, sondern auch in den Wochen und Monaten danach. Dafür braucht sie eine sensible Begleitperson und ein verständnisvolles Umfeld. – Psychologin Annemie Grosshauser

ERF: Wie kann man dieses Verständnis am besten zeigen, und wo sollte die Hilfe enden?

Annemie Grosshauser: Ein nicht so gutes Beispiel sind Hiobs Freunde in der Bibel. Sie wollten zwar helfen, haben aber letztlich den Schmerz nur verstärkt, weil sie argumentiert haben und ihn belehren wollten. Wir sollten einfach da sein und zuhören, die Person nicht kritisieren, sondern ihr Raum geben. Das braucht oft viel Geduld und vielleicht erfährt man auch mal Ablehnung. Wichtig ist, das nicht persönlich zu nehmen, sondern es als normale Trauma-Reaktion zu akzeptieren. Wichtig ist auch, den Schmerz der Person nicht persönlich zu tragen, sondern ihn an Jesus abzugeben.

Es geht darum, zuzuhören, das Geschehene zu bestätigen, dem Traumatisierten zu helfen, die belastende Erfahrung in seinem Leben einzuordnen und echten Trost zu spenden. Das sind wunderbare seelsorgerliche Hilfen. Wenn Personen aber immer wiederkehrende Bilder, Gedanken und Träume haben oder selbstzerstörerisches Verhalten zeigen, sollte man unbedingt professionelle Hilfe hinzuziehen.

Es geht darum, zuzuhören, das Geschehene zu bestätigen, dem Traumatisierten zu helfen, die belastende Erfahrung in seinem Leben einzuordnen und echten Trost zu spenden. – Psychologin Annemie Grosshauser

Kein frommer Verhaltensdruck

ERF: Wie kann der Glaube helfen, um mit traumatisierenden Situationen umzugehen?

Annemie Grosshauser: Ich finde es immer wieder hilfreich zu wissen, dass Jesus uns in allem gleich geworden ist. Durch seine Kreuzigung hat er ebenfalls ein Trauma erlebt. Manche Menschen lehnen sich in ihrem Schmerz gegen Gott auf. Das zeigt sich auch in den Psalmen. Aber Gott ist nicht der Verursacher des Leides, sondern er leidet mit uns und will uns trösten.

Oft dauert es einige Zeit, bis man sich dafür öffnen kann. In dieser Zeit ist es ganz wichtig, dass andere – und wir selbst – uns nicht unter einen frommen Verhaltensdruck setzen, wie man als Christ zu sein hat. Wir dürfen vor Gott unsere Gefühle ehrlich ausdrücken und authentisch sein.


ERF: Vielen Dank für das Gespräch.

Sie leiden an den Folgen traumatischer Erfahrungen und denken an Suizid, machen sich um jemanden Sorgen oder haben einen Menschen aufgrund eines Suizidtodesfalls verloren? Hier finden Sie Erste-Hilfe-Tipps, Notfallkontakte und Hilfsangebote.

Sie stecken in einer schwierigen Lebenssituation und suchen konkrete Hilfe? Schreiben Sie uns eine E-Mail oder nutzen Sie unser Seelsorge-Portal.

Annemie Grosshauser ist Diplom-Psychologin und war mit ihrem Mann in der christlichen Entwicklungshilfe tätig. Sie lebte 18 Jahre im Ausland. Auch heute noch ist sie viel in der Welt unterwegs, um Menschen mit traumatischen Erfahrungen zu begleiten.

Autor/-in: Theresa Folger

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