24.02.2011 / Buchrezension

Verheizt, verzweifelt, enttäuscht

Tom Bisset erzählt von Menschen, deren Glaube in eine Sackgasse geriet und erklärt, was wir daraus lernen können.

Es war ein ziemlich gewöhnlicher Sonntagnachmittag vor einigen Jahren: Wir sitzen im vertrauen Freundeskreis zusammen und kommen auf Martina* zu sprechen. Wann haben wir sie das letzte Mal im Jugendkreis oder in der Gemeinde gesehen? Vor mehreren Monaten, stellen wir fest. Sie hat – wie ich später erfahre – mit dem Glauben nichts mehr am Hut.
 

Was mir in dem Moment klar wird, ist mir noch heute präsent: Eine liebe Person aus meiner Gemeinde hatte sich schon seit Monaten - innerlich vielleicht schon seit Jahren - von der Gemeinde und von Gott entfernt und keiner hatte es bemerkt. Wie traurig! Ich frage mich: Warum wendet sich jemand vom Glauben ab? Jemand, der einst mit voller Überzeugung Jesus nachgefolgte. Wie kann so etwas sein?

Dieser Frage ist Tom Bisset auf den Grund gegangen. Der Autor des Buches „Warum jemand nicht mehr glauben kann“ erzählt die Lebensgeschichten von Menschen, die genau diesen Weg beschritten haben. Er analysiert die Hintergründe und stellt fest: Wir können eine Menge daraus lernen. Für den Umgang miteinander, für die Erziehung der Kinder.

Paul – wenn dein Verstand dir eine Grube gräbt

Bisset erzählt die Geschichte von Paul, den er im ersten Jahr seiner Bibelschulausbildung kennen und schätzen lernt. Ein gutaussehender, freundlicher und aufgeschlossener junger Mann, der für Jesus und den Glauben brennt. Er geht in Kneipen, um zu predigen, führt Jüngerschaftskurse durch, betreut junge Christen seelsorgerlich und gewinnt so viele Menschen für Jesus. Nach der Bibelschule entscheidet er sich, Psychologie zu studieren. Sein Ziel: Das Denken der „Welt“ noch besser zu verstehen, um den Menschen noch effektiver das Evangelium erklären zu können.

Doch dann kommt alles anders: Viele kleine Enttäuschungen, Zweifel und unbeantwortete fragen lassen Paul in innere Konflikte geraten. Im Wirrwarr unzähliger Glaubensüberzeugungen weiß er nicht mehr, was er glauben soll. Sein Weg der Abkehr verläuft nicht ohne Kampf, doch letztlich gibt er auf. Er wollte, aber er konnte nicht mehr glauben.

Was ist hier schiefgelaufen?

Bisset schließt aus Pauls Geschichte nicht, dass der Zweifel die Wurzel allen Übels war, sondern die Art und Weise, wie seine Bezugspersonen – Freunde, Eltern, Pastoren – auf diese Zweifel reagierten: mit Herunterspielen der Unsicherheiten oder „christlichen Patentantworten“.

Sein Fazit: „Ja, es stimmt, dass wir uns vor den Gefahren eines zu intellektuellen Glaubens hüten müssen. (…) Aber wir müssen uns auch vor den Gefahren eines Glaubens hüten, der nicht bereit ist, zu denken. (…) Wenn du dir geistlich starke Kinder wünschst, stelle sicher, dass das Denken schwieriger Gedanken über Gott und unser Leben ein integraler Bestandteil des christlichen Glaubens ist, den du weitergeben willst.“

Ich frage mich: Nehme ich die Zweifel meiner Freunde ernst oder leiere ich meine christliche Standardantwort herunter? Beschäftige ich mich mit problematischen Themen des Glaubens und habe ich Antworten darauf?

Susan – wie Enttäuschungen zu Stolpersteinen werden können

Eine weiteres Beispiel von Bisset ist Susan. Als Pastorengattin ist sie die rechte Hand ihres Mannes, die sich mit voller Hingabe in der Gemeinde engagiert. Sie weiß: „Das ist meine Berufung.“ Wenige Jahre nach der Hochzeit beginnt jedoch ein schleichender Prozess der Verunsicherung. Ihr Mann Bill, als Pastor sehr gefragt, ist immer weniger zuhause. Susan steckt zurück.

Auch weitere Dinge entmutigen sie. Sie fragt sich zum Beispiel, warum der Organist bezahlt wird, sie aber keinen Cent bekommt, obwohl sie so oft für ihn einspringt. Das gleiche gilt für die Arbeit im Gemeindebüro. Ihre ganze Kraft und Zeit investiert sie für die Gemeinde und bekommt kaum etwas zurück.

Doch das ist nicht das Hauptproblem: Susan spürt Gott immer weniger, das Bibellesen bringt sie nicht weiter. Enttäuscht und von ihren Gefühlen verwirrt, vereinsamt sie langsam aber sicher. Als erste Depressionen einsetzen, wendet sie sich hilfesuchend an einen Pastor. Seine Antwort: Sie solle mehr Bibel lesen und beten. Dann würde es schon werden. Doch es wurde nicht besser. Es dauerte nicht lange, bis Susan eine Affäre mit einem anderen Mann beginnt.

Bisset erzählt, was aus Susans Leben wurde: „Heute versuchen Susan und Bill die Teile ihres Lebens wieder zusammenzusetzen. Das ist nicht leicht – trotz der Liebe ihrer Familie und gläubiger Freunde und der Hilfe professioneller Seelsorger. Ihre Verletzungen sind tief, und ihre Probleme umfangreiche. Bill ist kein Pastor mehr, zumindest zur Zeit nicht.“

Susan gehört zu denjenigen, die Bisset die „Desillusionierten“ nennt. Sie sind in ihren Erwartungen an das Leben als Christ bitter enttäuscht worden und wenden sich deshalb vom Glauben ab.

Die Gründe verstehen

Paul und Susan sind nur zwei Beispiele von vielen, die Bisset in seinem Buch beschreibt. Jede dieser Lebensgeschichten ist einmalig, jede Person individuell. Dennoch lassen sich bestimmte Muster wiedererkennen. Bisset kommt zu folgender Einteilung:

Ein Mensch wendet sich vom Glauben ab, weil...

  1. er keine Antworten auf seine Zweifel bekommt,
  2. seine Erwartungen an ein Leben als Christ enttäuscht werden,
  3. andere Dinge im Leben wichtiger werden,
  4. er den Glauben nie für sich selbst in Anspruch genommen hat.

Ein hilfreiches Buch – besonders für Eltern

Die meisten Menschen, die sich vom Glauben abwenden, tun dies im Alter zwischen 13 und 21 Jahren. Aus diesem Grund schenkt Bisset der Kindererziehung besonderes Augenmerk. Er beantwortet Fragen wie:

Oder:

Diese und weitere Fragen versucht Bisset zu beantworten, wohlwissend, dass es kein Patentrezept gibt.

Einmal weg, immer weg?

„Warum jemand nicht mehr glauben kann“ ist alles andere als ein deprimierendes Buch. Es schenkt Hoffnung! 85 Prozent derjenigen, die in einem christlichen Elternhaus aufwachsen und dem Glauben den Rücken kehren, kommen eines Tages wieder zurück. Das ist das Ergebnis einer amerikanischen Studie, von der Bisset berichtet. Die Zahl ist keine Garantie, aber sie macht Hoffnung und lässt ein wenig Gelassenheit zu.

Die meisten Rückkehrer berichten, dass ihre christliche Erziehung einen entscheidenden Einfluss auf ihre Umkehr hatte und dass das Gelernte sie nie ganz losgelassen hat. Eine liebevolle Erziehung und das Vorleben des lebendigen Glaubens sind also nie umsonst. Es hat Auswirkungen, auch wenn sie nicht direkt ersichtlich sind.

Letztlich – und das ist das Beruhigende – haben wir es nicht in der Hand, das stellt Bisset ebenfalls heraus. Wir können und sollen andere in ihrer Nachfolge unterstützen und fördern, aber das Herz eines Menschen kann nur Gott verändern. Manchmal lässt er Dinge zu, die wir nicht verstehen. Aber er macht auch das scheinbar Unmögliche möglich.

Ich weiß nicht, wo Martina* heute steht. Ob sie Gott manchmal noch erlebt, noch auf der Suche ist oder ob Gott völlig aus ihrem Leben ausgeklammert hat? Aber ich halte es nicht für abwegig, dass auch Martina irgendwann wieder den Weg zu Gott findet.

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