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© Devin Avery / unsplash.com

27.06.2023 / Serviceartikel / Lesezeit: ~ 8 min

Autor/-in: Sarah-Melissa Loewen

Keine Angst vor negativen Gefühlen

6 falsche Annahmen über unliebsame Emotionen und Tipps, wie du sie anders bewerten kannst.

Ärger, Angst und Traurigkeit fühlen sich nicht schön an. Im Gegenteil: Niemand ist gern ärgerlich oder genießt es, ängstlich oder traurig zu sein. Auch bei anderen kommen solche Gefühle nicht gut an. Ich selbst versuche daher diese schlechten Gefühle möglichst zu vermeiden oder schnell wieder loszuwerden. Vielleicht geht es dir ähnlich.

Angelika Heinen (Foto: ERF)
Angelika Heinen (Foto: ERF)

Die Psychotherapeutin Angelika Heinen setzt sich jedoch dafür ein, auch diese Gefühle ernst zu nehmen, sie wertzuschätzen und zum Ausdruck zu bringen. In ihrem Buch „Gefühle brauchen frische Luft“ erklärt sie, warum negative Gefühle buchstäblich lebenswichtig sind und warum ein ehrlicher Umgang damit auch unsere Gottesbeziehung bereichert.

Höchste Zeit also, mit ein paar falschen Annahmen über vermeintlich negative Gefühle aufzuräumen.
 

1. Ärger, Angst und Traurigkeit sind schlechte Gefühle

Zuallererst möchte ich mit diesem Missverständnis aufräumen: Von schlechten oder gar falschen Gefühlen kann keine Rede sein! Negativ ist nämlich nicht das Gefühl an sich, sondern lediglich die Bewertung dieses Gefühlzustandes.

Das läuft so ab: Ich nehme ein „negatives“ Gefühl in mir wahr. Demgegenüber steht ein Anspruch, wie ich sein und was ich fühlen oder nicht fühlen sollte. Auf dieser Grundlage bewerte ich dann das Gefühl als unangemessen, schlecht oder falsch.

Und nicht nur das. Möglicherweise verurteile ich mich selbst dafür, dieses Gefühl zu haben, weil es dafür eigentlich „gar keinen Grund“ gibt. Ich verlange automatisch von mir, dieses „negative“ Gefühl wieder loszuwerden. Dabei mache ich mir selbst Druck und im schlimmsten Fall kommen zum unangenehmen Gefühl Schuld- und Schamgefühle dazu.

Die Psychotherapeutin Angelika Heinen appelliert eindringlich, von Gefühlen wie Ärger, Angst und Traurigkeit das „Negativ“-Label zu entfernen. Denn diese Gefühle sind wichtige Botschafter unserer Bedürfnisse. Und sie haben eine Funktion:

Ärger und Angst sind starke Emotionen, die den Organismus auf Hochtouren bringen. Sie stellen uns kurzfristig Energie zur Verfügung, um uns zu wehren oder zu fliehen. Somit sind sie wichtige Schutzmechanismen, die unsere Unversehrtheit sichern. Im Gegensatz dazu ist Traurigkeit ein eher „leises“ Gefühl, das die körperliche Aktivität herunterfährt. So versucht der Organismus in emotional belastenden Situationen mit seinen Kräften zu haushalten.

Ja, „negative“ Gefühle sind ungemütlich, sie stören oder quälen uns – und das aus gutem Grund! Sie drängen sich uns auf, damit wir auf sie reagieren und an den Umständen, aus denen sie hervorgehen, etwas ändern.

2. Ich muss meine Gefühle im Griff haben

Ärger, Angst oder Traurigkeit lösen Unbehagen, Verunsicherung oder Überforderung aus. Ich fühle mich den mehr oder weniger stark ausgeprägten körperlichen Reaktionen ausgeliefert und oft kann weder ich noch mein Umfeld gut damit umgehen.

Deshalb versuche ich diesen unangenehmen Gefühlen aus dem Weg zu gehen oder unterdrücke sie, sobald ich sie spüre: Obwohl ich innerlich vor Wut an die Decke gehen könnte, reiße ich mich zusammen und schlucke den Ärger runter. Denn eine gereifte Persönlichkeit hat ihre Gefühle im Griff, so der allgemeine Irrglaube. Also beherrschen wir uns und machen gute Miene zum bösen Spiel.

In manchen Situationen kann es kurzfristig hilfreich und deeskalierend sein, die eigene Wut runterzuschlucken, die Tränen zu unterdrücken oder die Angst beiseitezuschieben. Aber die langfristigen Konsequenzen dieser Vermeidungsstrategie können fatal sein.

Die Psychotherapeutin Angelika Heinen vergleicht diese Taktik mit einer Abstellkammer: Ich stelle lästige Gefühle in der Abstellkammer meines Herzens ab und schließe die Tür zu. Von außen sieht dann alles schön aus, aber „aus den Augen, aus dem Sinn“ funktioniert bei Gefühlen nicht.

Gefühle können auf Dauer nicht wegignoriert werden. In der Abstellkammer meines Herzens gären sie weiter und irgendwann merke ich: Hier ist etwas faul. Es stinkt gewaltig.

Indem ich meine eigentlichen Gedanken und Gefühle immer wieder unterdrücke, schaffe ich unbewusst eine emotionale Distanz zu mir selbst. Das kann nicht nur meine psychische und körperliche Gesundheit gefährden, sondern auch dazu führen, dass ich zu anderen Menschen nur noch formelle, oberflächliche Beziehungen habe.

Daher rät die Psychotherapeutin, die Tür zur Abstellkammer zu öffnen und die unangenehmen Gefühle rauszulassen. Denn es geht um unsere seelische, körperliche und geistliche Gesundheit.
 

3. Negative Gefühle gehören im Leben eines Christen der Vergangenheit an

In Gesprächen hat Angelika Heinen beobachtet, dass sich gerade Christinnen und Christen damit schwertun, authentisch, ehrlich und gesund mit unangenehmen Gefühlen umzugehen. Denn Wut, Angst oder Trauer scheinen nicht zur guten Nachricht des Glaubens und zu dem „Leben in ganzer Fülle“ (Johannes 10,10) zu passen, wie es in der Bibel verheißen wird.

Ihrer Erfahrung nach ist es eine weit verbreitete Überzeugung, dass jemand, der mit Jesus lebt, so von Liebe, Geduld, Barmherzigkeit und Vergebungsbereitschaft erfüllt sein sollte, dass Ärger in seinem Leben keinen Platz mehr hat. Dadurch, dass Menschen Ärger zudem häufig mit Aggression verbinden, liegt es nahe, dass Christinnen und Christen dieses Gefühl besonders ablehnen. Wenn sie Ärger bei sich feststellen, sehen sie das als Zeichen für eine falsche Herzenshaltung.

Ähnlich ist es mit Angst und Traurigkeit. Viele Christinnen und Christen gehen davon aus, dass Gottvertrauen und Angst sich gegenseitig ausschließen. Sie denken: Entweder ich glaube und vertraue auf Gottes Schutz, oder ich tue das nicht und habe Angst.

Auch die Annahme, dass der Glaube an Gott mich über alles hinwegtrösten müsste, ist weit verbreitet. Ich bin traurig über eine zerbrochene Beziehung und fühle mich einsam? Ach was, ich habe doch Jesus! Wenn Jesus allein genug für mich ist, gibt es doch keinen Grund, irgendetwas zu vermissen und mich traurig oder einsam zu fühlen.

Doch der Glaube ist keine Versicherung gegen Traurigkeit, Ärger und Angst. Diese Gefühle gehören zum Leben dazu – auch bei Christinnen und Christen. Aber der christliche Glaube gibt ein Versprechen:

Wir sind mit unangenehmen Gefühlen und schmerzhaften Erlebnissen nicht allein! Gott nimmt uns mit all diesen Gefühlen an, er nimmt sie ernst und geht mit uns dadurch.

4. Ärger, Angst und Traurigkeit sind Sünde

Wenn wir Bibelverse wie „Freut euch allezeit“ (Philipper 4,4), oder „Fürchtet euch nicht“ (Jesaja 44,8) lesen, kann daraus die Überzeugung wachsen, dass negative Gefühle damit in direktem Widerspruch stünden und ich gegen Gottes Willen handle, wenn ich sie empfinde.

Ehe ich meine Gefühle überhaupt verstehe, können durch dieses Verständnis solcher Bibelverse noch Schuld- und Schamgefühle hinzukommen. Und schon stecke ich in einem Teufelskreis fest, der mich eher weiter von Gott entfernt, als mich ihm näherzubringen. Das kann nicht Gottes Absicht sein!

Angelika Heinen vergleicht diese Annahme über Gefühle mit einem Farbkasten, der den Hinweis enthält, dass alle dunklen Farben nicht verwendet werden dürfen, weil von ihnen giftige Dämpfe ausgehen. Wir würden uns doch fragen, warum diese Farben dann überhaupt im Kasten enthalten sind!

Wenn ich Gott als Schöpfer ernst nehme und den Menschen in seinem ganzen Sein als Gottes gutes Geschöpf ansehe, dann gehören meine Gefühle zur seelischen Grundausstattung, die er mir mitgegeben hat. Wie könnte er von mir verlangen, einen Teil davon zur Seite zu drängen?

Wie ein Bild durch dunklere Farbabstufungen an Tiefe und Kontrast gewinnt, wird mein Leben erst dann ein buntes Gesamtkunstwerk, wenn ich die ganze Palette der mir zur Verfügung stehenden Emotionen ausschöpfe.

Entscheidend ist der gesunde Umgang mit unangenehmen Gefühlen, nicht sie aus der Farbpalette zu entfernen.

Darauf zielen auch die genannten Bibelverse. Sie raten davon ab, mein Leben schwarzzumalen, verbieten mir aber nicht, dunkle Farben zu benutzen.
 

5. Gott hat keine negativen Gefühle

Gott selbst ist durch und durch emotional! Gefühle wie Ärger, Traurigkeit und Eifersucht sind genauso Bestandteil seines Wesens wie Liebe, Güte und Treue. Besonders im Alten Testament offenbart Gott eine ganze Reihe seiner Gefühle – und die sind durchaus unangenehm, ungezügelt und im wahrsten Sinne des Wortes leidenschaftlich (lies z.B. Hosea 11,8-9, 1. Mose 6,6, 5. Mose 6,15)

Jesus ist als Gott wahrer Mensch geworden – mit allem, was dazu gehörte. Somit durchlebte er auch die gesamte Gefühlspalette menschlicher Emotionen. Er wurde in verschiedenen Situationen richtig ärgerlich, hat um einen engen Freund getrauert und durchlebte im Garten Gethsemane qualvolle Todesangst. Und das, obwohl er so innig mit Gott verbunden war wie niemand sonst.

Dadurch kann Jesus mir und dir ein verständnisvoller, mitfühlender Gesprächspartner mitten in allen negativen Gefühlen sein.
 

6. Ich kann mich Gott mit meinen negativen Gefühlen nicht zumuten

Die Psychotherapeutin Angelika Heinen beobachtet, dass sich Christinnen und Christen viele Tabus auferlegen in Bezug auf ihre Gefühle, Gedanken und Gebete. Manche meinen, dass sie ihr schweres Herz zuerst in den Müllcontainer entleeren müssten, um fröhlich vor Gott treten zu können. Im Gebet sagen sie nicht offen, was sie tief innen wirklich fühlen, sondern pressen bewährte Formulierungen hervor und ringen um angemessene, akzeptable Worte.

Aber Gott kennt unser Herz, sogar besser als wir selbst. Er weiß längst, welche Gefühle hinter den duftig-wohlformulierten Worten gären. Daher ermutigt Angelika Heinen dazu, im Gebet ehrlich und „un-verschämt“ vor Gott zu treten – im besten Sinne des Wortes. Ich kann ihm ohne Scham und Schuldgefühle mein Herz hinhalten mit all den Gefühlen und Worten, die gerade da sind. Denn Gott geht es nicht um fromme Floskeln, sondern um eine innige, ehrliche Beziehung.

Gute Beispiele für unverschämte Gebete findest du in den Psalmen. Sie sind die emotional intensivsten Texte in der Bibel. In ihnen zeigt sich die gesamte Bandbreite menschlicher Emotionen und die Beter nehmen Gott gegenüber kein Blatt vor den Mund, sondern wüten, poltern und toben sich richtig vor ihm aus.

Die Psalmen eröffnen einen Blick darauf, was im Gebet möglich ist. Und sie zeigen, wie sich unangenehme Gefühle durch die Aussprache mit Gott verändern.

Denn sobald sich der Seelensturm der Beter langsam legt, richten sie sich neu auf Gottes Horizont aus und schöpfen daraus wieder Mut, Kraft und Zuversicht. Die Psalmen sind damit ein Vorbild, wie ich Gott meine Gefühle zumuten kann und daraus neues Vertrauen statt Distanz zu ihm erwächst.
 

Mehr Mut für Gefühle

Gott hat uns als lebendige, emotionale Beziehungspartner geschaffen. Unangenehme Gefühle wie Ärger, Angst und Traurigkeit sind deshalb keine Schwächen oder Fehler, sondern befähigen uns, mit Gott und miteinander in ehrlichen Beziehungen zu leben.

Eine intensive und vertrauensvolle Beziehung zu Gott schließt unangenehme Gefühle daher nicht aus. Angelika Heinen ist überzeugt, dass sich ein tragfähiger Glaube vielmehr dadurch auszeichnet, dass er mit der eigenen Lebensrealität vereinbar ist und auch schmerzhaften Erfahrungen und den damit verbundenen Gefühlen Raum bietet.

Also, nur Mut! Möglicherweise ist Gott deinen Gefühlen gegenüber viel aufgeschlossener als du selbst und kann deutlich mehr aushalten, als du denkst.
 

Mehr Tipps, wie du unangenehmen Gefühlen aufgeschlossen begegnen kannst und einen gesunden Umgang mit ihnen findest, gibt Angelika Heinen in der Sendung „Gefühle brauchen frische Luft“ auf ERF Plus.

 Sarah-Melissa Loewen

Sarah-Melissa Loewen

  |  Redakteurin

Sie hat Literatur- und Kulturwissenschaften studiert und war schon immer von guten Geschichten in Buch und Film begeistert. Doch sie findet, die besten Geschichten schreibt Gott im Leben von Menschen. Als Redakteurin erzählt sie diese inspirierenden Lebens- und Glaubensgeschichten. Sie lebt mit ihrem Mann in der schönsten Stadt am Rhein.

Ihr Kommentar

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Kommentare (3)

Margott D. /

Vielen Dank für diesen wunderbaren Artikel über "Gefühle"! Mein Leben lang habe ich darunter gelitten, dass ich von negativen Gefühlen beherrscht wurde und deshalb dachte, dass ich sie weg beten mehr

Ute /

Ein sehr wertvoller Beitrag. Auch als langjährige Christin habe ich bis heute aus meinem Herzen keine Mördergrube gemacht, nun sehe ich mich in vielem bestätigt. Das Buch werde ich mir auf jeden Fall zulegen.

Johannes /

Super Beitrag! Vielen Dank an Angelika für das Buch. Werde es mir auch noch durchlesen, um das Thema zu vertiefen.

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