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© Gemma Evans / unsplash.com

11.11.2014 / Interview / Lesezeit: ~ 9 min

Autor/-in: Sigrid Offermann

Wenn der Tod greifbar wird

Was sich Sterbende wünschen und wie man ihnen am besten begegnen kann.

In Actionfilmen und Krimis gehört der Tod selbstverständlich dazu. Aber wenn der Tod einem plötzlich selbst auf den Leib rückt, hört das Interesse schlagartig auf. Professor Dr. Ernst Engelke aus Würzburg ist Sozialwissenschaftler, Theologe und Fachmann für Hospiz- und Palliativpflege und hat sich in seinem Buch „Gegen die Einsamkeit Sterbenskranker“ mit dem Thema Sterben befasst.
 

ERF: Herr Engelke, Sie schreiben zu Beginn Ihres Buches: „Wenn irgendein mir unbekannter Mensch stirbt, dann trifft mich das nicht sonderlich. Aber wenn jemand, den ich gut kenne, stirbt, dann macht mir das sehr viel aus.“ Warum berührt uns der Tod erst, wenn er uns nahe kommt?

Ernst Engelke: Das hängt mit unserer Gespaltenheit dem Tod gegenüber zusammen. Auf der einen Seite lassen wir uns in Krimis vom Sterben anderer Menschen unterhalten. Ein Toter im Tatort reicht nicht, es müssen 40 sein. Aber es gibt dort keine Berührung. Man riecht nichts und wird nicht angefasst. Das ist der Unterschied. In dem Augenblick, wo ich in ein Krankenzimmer gehe oder mit jemand spreche, der sagt: „Ich habe eine tödliche Erkrankung“, werde ich berührt. Dann bekomme ich Angst. Und das versuche ich zu vermeiden. Das ist das typische Phänomen in allen Kulturen und zu allen Zeiten.

Nicht sterben wollen, muss erlaubt sein

Ernst Engelke: Gegen die
Einsamkeit Sterbenskranker:
Wie Kommunikation gelingen
kann
; Lambertus 2012,
23,90 Euro, 384 Seiten,
ISBN: 978-3-7841-2111-6.

ERF: Sie schreiben, dass nicht nur das Leben jedes Menschen einzigartig ist, sondern auch sein Sterben. Dennoch gibt es auch Übereinstimmungen. Was sind typische Aspekte des Sterbens?

Ernst Engelke: Eine typische Erkenntnis ist, dass mein Leben durch die Erkrankung bedroht ist. Eine weitere Erkenntnis ist, dass ich nur noch einige Tage zu leben habe. Vielleicht erlebe ich auch, dass sich jemand von mir entfernt oder ich auf einmal total verzweifelt bin. Aus diesen Erkenntnissen erwachsen Aufgaben: Wem erzähle ich, dass mein Leben bedroht ist? Wie gehe ich damit um? Welche Heilverfahren nehme ich in Anspruch, welche nicht? Das sind Aufgaben, die ich zu erfüllen habe. Und es gibt typische Einschränkungen, die sich aus einer tödlichen Erkrankung ergeben. Vielleicht kann ich nicht mehr gehen oder mein Atmen ist beeinträchtigt. Diese Einschränkungen sind verbunden mit der lebensbedrohlichen Erkrankung.

Jeder sterbende Mensch muss diese Erkenntnisse, Aufgaben und Einschränkungen bewältigen. Aber jeder geht anders damit um. Manche Menschen erzählen jede kleine Irritation im körperlichen Empfinden dem Ehepartner. Andere sagen gar nichts. Manche gehen direkt zum Arzt, andere wiederum warten ab. Auch die Aufgaben werden verschieden wahrgenommen. Das hängt von der Persönlichkeit ab, vom Alter, der eigenen Biografie und der Art der Erkrankung. Auch wie Angehörige mit meiner Erkrankung umgehen, Ärzte mich behandeln und wie ich gepflegt werde, beeinflusst meinen Umgang mit der Krankheit.
 

ERF: Welche Bedürfnisse hat ein Sterbenskranker?

Ernst Engelke: Es gibt allgemeine Formulierungen wie denjenigen ernstnehmen und ihn wertschätzen. Das sind schöne Begriffe, die aber sehr viel herausfordernder sind, als man auf den ersten Blick meint. Was heißt es, einen Sterbenden ernst zu nehmen? Ihn ernstnehmen besteht darin, dass ich akzeptiere, dass er nicht sterben möchte. Das ist das Hauptbedürfnis von Sterbenskranken: „Ich möchte nicht sterben. Und schon gar nicht so, wie ich jetzt sterben muss.“ Außerdem möchten sie Wertschätzung erfahren. Ein Bedürfnis ist auch, möglichst keine Schmerzen zu haben und so lange wie möglich autonom zu sein und das tun zu dürfen, was sie noch tun können.

Das ist das Hauptbedürfnis von Sterbenskranken: „Ich möchte nicht sterben. Und schon gar nicht so, wie ich jetzt sterben muss.“ – Ernst Engelke

ERF: Was können Angehörige und Freunde in so einer Situation tun und was sollten sie besser lassen?

Ernst Engelke: Sie sollten den Widerstand des Sterbenden gegen den Tod respektieren und wertschätzen. Das geschieht meistens nicht. Stattdessen wird versucht, den Sterbenden zu der Einsicht zu bringen, dass er sterben muss, damit er sich entsprechend ruhig verhält. Doch es gibt ein Recht auf Unruhe, auf Klage und Protest dagegen, dass ich sterben muss. Zur Begleitung Sterbenskranker gehört, dass ich das aushalte. Wenn Angehörige einen Sterbenden unterstützen wollen, werden sie diese Konfrontation ertragen müssen. Das gelingt vielen Angehörigen.

Gemeinsam aushalten, was eigentlich nicht auszuhalten ist

ERF: Wie geht es Angehörigen in dieser Lage?

Ernst Engelke: Angehörige sind Co-Patienten. Wie der Sterbende verlieren sie etwas und trauern darum. Auch sie wehren sich dagegen, dass ihr geliebter Mann oder ihre geliebten Kinder sterben müssen. Sie sitzen mit dem Patienten in einem Boot, haben allerdings eine andere Aufgabe, weil sie weiterleben müssen.
 

ERF: Sie erwähnen in Ihrem Buch, dass ein schwerkranker Mensch seine Umgebung mit unliebsamen Dingen konfrontiert – und das allein durch seine Anwesenheit. Wie meinen Sie das?

Ernst Engelke: Es ist eine gegenseitige Konfrontation. Wenn ich in ein Krankenzimmer hineinkomme, werde ich sofort mit einem bestimmten Geruch konfrontiert. Denn wenn jemand sehr krank ist, riecht man das. Das ist eine Konfrontation, weil wir mit Gerüchen sofort Bilder verbinden. Hinzu kommt, dass wir jemanden sehen, der in unserer Erinnerung eine lebendige Person war. Jetzt ist er abgemagert, die Augen sind traurig. Wir werden damit konfrontiert, dass der Erkrankte vielleicht nicht mehr aufstehen kann. Das berührt uns. Auf der anderen Seite konfrontiere ich auch den Kranken mit meiner Gesundheit. Der Patient merkt: Ich muss sterben und du lebst.
 

ERF: Das heißt, nicht nur die Angehörigen, sondern auch der Sterbende trauert. Soll die Familie ihn versuchen zu trösten oder ist das unangebracht?

Ernst Engelke: Es ist die Frage, was man unter Trösten versteht. Wenn Trösten bedeutet, darüber hinwegzuhelfen und abzulenken, ist das verkehrt. Das verstärkt die Trauer nur. Wenn man Mut zusprechen will und sagt: „Es wird schon wieder“, ist das Problem, dass der Sterbenskranke spürt: „Das stimmt nicht.“ Wenn man so tröstet, wird der Sterbenskranke einsam, weil er nicht mitteilen darf, wie es ihm geht. Richtiger Trost besteht darin, jemanden in seiner Trauer zu begleiten, statt ihn davon abzuhalten oder es ihm auszureden.
 

ERF: Sie haben das letzte Kapitel Ihres Buches überschrieben mit: Trösten heißt treu sein. Was heißt das?

Ernst Engelke: Sprachgeschichtlich hängt das Wort „Trost“ eng mit dem Begriff „Bündnis“ zusammen. Das heißt, getröstet wird dann, wenn man ein Bündnis mit jemandem schließt. Dieses Bündnis bedeutet: „Wir gehen durch dick und dünn.“ Hier stellt sich die Frage: Besteht mein Trost darin, dass ich bleibe oder besteht mein Trost darin, dass ich ein paar nette Worte sage und verschwinde? Das ist die entscheidende Frage. Es geht darum, treu zu bleiben, statt wegzulaufen, mit dem anderen auszuhalten, was eigentlich nicht auszuhalten ist.

Besteht mein Trost darin, dass ich bleibe oder besteht mein Trost darin, dass ich ein paar nette Worte sage und verschwinde? – Ernst Engelke

Wie rede ich mit einem Sterbenden?

ERF: Gibt es einen Schlüssel für die Kommunikation mit Sterbenden?

Ernst Engelke: Ja. dieser Schlüssel bin ich. Davon hängt alles ab. Es gibt keine festen Normen, keine goldenen Regeln, keine Standards, auf die zu achten ist. Aber ich muss darüber nachdenken, wie es mir mit der Situation geht, was der Sterbenskranke bei mir auslöst und wo ich ihn konfrontiere. Dann ist die Frage: Wie kann ich das, was ich erlebe, so aufgreifen, dass es uns beiden gut damit geht?
 

ERF: Sie haben drei Grundformen der Kommunikation mit Sterbenskranken beobachtet. Welche sind das?

Ernst Engelke: Das sind der Smalltalk, die Begleitung und das Beraten. Smalltalk ist das, was wir jeden Tag machen. Wir tauschen uns aus, ohne unser Reden besonders zu reflektieren. Jeder erzählt ein bisschen von sich, ohne dass man das vertieft. Smalltalk ist der Kit unserer Gesellschaft. Ohne Smalltalk geht gar nichts, auch nicht am Sterbebett. Die zweite Form ist die Begleitung. Bei der Begleitung nehme ich eine bewusste Haltung dem Sterbenden gegenüber ein. Ich lasse ihn ausdrücken und erzählen und begleite ihn dabei, ohne ihn in Frage zu stellen. Die dritte Variante ist das Beraten. Sterbenskranke haben häufig Fragen. Ein Sterbender braucht Informationen, zum Beispiel über die Pflege, die Medikamente oder die Erkrankung. In dieser Form der Kommunikation beteilige ich mich aktiv und teile dem Patienten das mit, was ich weiß. Ich sage aber nicht: „Sie müssen das tun.“ Ich sage: „Vielleicht überlegen Sie sich diese Möglichkeit.“ Beraten bedeutet nicht, jemanden zu etwas Bestimmtem zu zwingen, sondern ihm Möglichkeiten aufzuzeigen.
 

ERF: Sie haben ein Kommunikationsmodell entwickelt, das vier Kommunikationsformen zwischen Kranken und Gesunden beschreibt. Welche sind das?

Ernst Engelke: Es gibt vier Varianten, um auf eine Aussage von Patienten zu antworten. Die Aussage des Patienten ist: „Werde ich wieder gesund?“ Wenn ich von mir aus antworte, werde ich ihm sagen: „Ich weiß nicht, ob Sie wieder gesund werden.“ Das nenne ich „Ich-Aussage“. Dann kann ich in einer zweiten Variante auf die Frage antworten, ohne von mir zu sprechen. Ich sage zum Beispiel: „Sie befürchten, dass Sie sterben müssen.“ Dadurch fokussiere ich mich sofort auf den anderen und warte ab, was er antwortet: Die sogenannte „Du-Fokussierung“. Wenn ich eine sachliche Erklärung gebe, ist das eine „Es-Fokussierung“. Ich sage zum Beispiel: „Sie haben ein Mammakarzinom und bei einem Mammakarzinom gibt es folgende Symptome. Nach unseren Erkenntnissen bedeutet das bei einer Therapie, dass diese Prognose zu erwarten ist.“ Bei der letzten Variante, der Lebenswelt-Variante, nehme ich dagegen bewusst etwas anderes in den Fokus hinein. Ich frage zum Beispiel, inwieweit er diese Frage schon mit seinem Arzt besprochen hat. Ich greife also etwas aus seiner Lebenswelt auf.
 

ERF: Welche Variante ist für das Gespräch mit Sterbenskranken am geeignetsten?

Ernst Engelke: Wenn ich die Annahme voraussetze, dass Sterbenskranke unter Druck stehen, nicht sterben möchten und leiden, bietet sich die Du-Fokussierung an. Die Du-Fokussierung ist eine Eröffnung dafür, dass jemand Druck ablassen und erzählen kann, was mit ihm ist.

Der Glaube kann eine Hilfe sein

ERF: An Krankenbetten wird auch viel geschwiegen. Welche Rolle kommt dem Schweigen im Angesicht mit dem Tod zu?

Ernst Engelke: Schweigen steht für mich am Anfang jeder Begegnung mit einem sterbenskranken Menschen, weil ich in diesen Sekunden die Situation des Kranken und auch meine eigene wahrnehme. Von dort aus steuere ich das Gespräch. Ich halte es nicht für hilfreich, wenn ich mich in ein Gespräch stürze, ohne mich zu besinnen, was jetzt auf mich zukommt. Schweigen kann auch die wichtige Bedeutung haben, etwas gemeinsam auszuhalten. Aber es kann auch einer Verlegenheitssituation entspringen. Man schweigt aus Verlegenheit, weil man sich nicht mehr aushalten kann, am liebsten weglaufen möchte, aber nichts sagen will. Dann wird Schweigen zu einer Belastung.

Schweigen steht für mich am Anfang jeder Begegnung mit einem sterbenskranken Menschen, weil ich in diesen Sekunden die Situation des Kranken und auch meine eigene wahrnehme. – Ernst Engelke

ERF: Sie haben viele Menschen in ihrer letzten Lebensphase begleitet. Sterben Gläubige anders?

Ernst Engelke: Nein. Sie müssen dasselbe leisten wie andere Menschen. Sie sterben leichter, wenn sie getragen von einer Gemeinde sind. Damit meine ich auch Familie und Angehörigen. Der Glaube hilft häufig auch jenen, die einen Sterbenden begleiten. Dann gibt es eine Begründung, weshalb ich begleite, und Werte, die ich in der Begleitung lebe. Den Sterbenden erleichtert es, wenn er sich getragen weiß von anderen Menschen. Die Bedeutung der glaubenden und hoffenden Gemeinschaft ist enorm. Das darf man auf keinen Fall vernachlässigen.
 

ERF: Herr Engelke, Sie haben sich über viele Jahre mit dem Sterben auseinandergesetzt und sich an den biblischen Rat gehalten: „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“ (Psalm 90,12) Fühlen Sie sich selbst dadurch besser auf das Sterben vorbereitet?

Ernst Engelke: Ich halte es mit Hilde Domin, die das Gedicht „Unterricht an Sterbebetten“ geschrieben hat. Ich habe sehr viel Unterricht an Sterbebetten darüber bekommen, wie ich jetzt zu leben habe. Ob man sich direkt auf das Sterben vorbereiten kann, weiß ich nicht. Es kommt völlig anders, als man normalerweise erwartet.
 

ERF: Vielen Dank für das Interview!

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Kommentare (3)

Baumi /

Sehr gute Produkt sehr gute für Schule

Thomas B. /

Der Mann hat Recht. Auf das Sterben kann man sich nicht vorbereiten. Ein Brüder hat einmal im Angesicht seines Sterbens gesagt. Ich wusste, dass Sterben sehr schwer ist, aber dass es soviel schwerer ist, wusste ich nicht. Ich denke, dass der Mann Recht hat.

Wilfried /

Bei allem Respekt vor den Beobachtungen und Hinweisen eines Wissenschaftlers - es ist im Ergebnis eine menschlich hilflose Beschreibung ohne Trost, nicht zuletzt, weil auch die Wirkung des Glaubens mehr

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