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© Ilya Shishikhin / unsplash.com

17.03.2015 / Interview / Lesezeit: ~ 7 min

Autor/-in: Lucia Ewald

Gefühle hoch zwei

Was tun, wenn man die Umwelt stärker wahrnimmt als andere? Tipps für Hochsensible und ihre Partner.

„Was bist du nur für ein Sensibelchen!“ Ein verletzender Satz ‒ besonders für Menschen, die tatsächlich feinere Antennen haben als andere. Hochsensible Menschen haben diese besonderen Antennen: Sie nehmen äußere Reize wie durch einen Verstärker wahr. Während andere Menschen den Straßenlärm oder das Geräusch des Kopierers einfach wegfiltern, gelingt das Hochsensiblen nicht. Zu einem besonderen Problem kann das in einer Partnerschaft werden.

Brigitte Schorr ist Leiterin des Instituts für Hochsensibilität in Altstätten und erklärt, was Hochsensibilität ist und welche Herausforderung sie für eine Beziehung sein kann.

 

ERF: Sie haben ein Buch geschrieben zum Thema „Hochsensible in der Partnerschaft“. Seit wann beschäftigen Sie sich mit dem Thema "Hochsensibilität?

Brigitte Schorr: Das Thema ist mir vor acht Jahren zum ersten Mal begegnet, als eine Freundin mir von einem Buch zu dem Thema berichtet hat. Ich habe den Begriff gehört und gewusst, das hat etwas mit mir zu tun. Ich bin dann in die Buchhandlung und habe mir alles besorgt, was es damals auf dem deutschsprachigen Markt dazu gab.

Dann sind zwei Dinge passiert: Auf der einen Seite konnte ich mein eigenes Leben plötzlich anders einordnen und auf der anderen Seite sind mir gleich drei oder vier Klientinnen eingefallen, die ich auch in diesem Spektrum gesehen habe. Danach kam mir relativ schnell der Gedanke einer Spezialisierung. Seit fünf Jahren leite ich nun das Institut für Hochsensibilität.
 

ERF: Was genau versteht man unter Hochsensibilität?

Brigitte Schorr: Hochsensibel sind Menschen, die mit einem Nervensystem ausgerüstet sind, das sie innere und äußere Reize wie durch einen Verstärker empfinden lassen.
 

ERF: Betrifft diese hochsensible Wahrnehmung alle Sinne?

Brigitte Schorr: Selbstverständlich kann man alles wahrnehmen, was wahrnehmbar ist. Es gibt Hochsensible, die besonders geräuschempfänglich sind. Es gibt aber auch Hochsensible, die besonders stark über den Tastsinn empfinden und keine kratzende Kleidung vertragen. Auch gibt es Hochsensible, die sehr fein riechen können oder Details wahrnehmen können. Und dann gibt es noch die große Gruppe der empathisch Hochsensiblen, die Atmosphären schnell erspüren oder auch Spannungen erkennen, noch bevor sie ausgesprochen werden. Sie merken schnell, wie es dem Gegenüber geht.
 

ERF: Wo liegt der Unterschied zwischen einer etwas höheren Wahrnehmung in manchen Bereichen und einer wirklichen Hochsensibilität?

Brigitte Schorr: Es gibt drei Kriterien, die Normalsensible von Hochsensiblen unterscheiden: Das erste ist die schmale Komfortzone. Das ist der Bereich, in dem man sich rundum wohlfühlt. Dieser Bereich ist bei Hochsensiblen sehr viel schmaler als bei Normalsensiblen. Das zweite Kriterium ist die schnelle Überreizbarkeit. Ob das Weckerschrillen oder die vorbeifahrende Straßenbahn ‒ nichts ist zu klein, um ein Reiz zu sein. Diese Reize wirken auf das Nervensystem ein und führen unter Umständen zur Überstimulation. In diesem Zustand werden Betroffene eventuell fahrig oder vergesslich.

Das dritte Kriterium ist das lange Nachhallen. Erlebnisse hallen in Hochsensiblen lange nach. Das kann dazu führen, dass Betroffene Tage oder Wochen nach einem Ereignis noch mal darüber sprechen müssen, weil es sie innerlich noch beschäftigt. Für das Umfeld entsteht oft der Eindruck, die Betroffenen wären nachtragend. Aber tatsächlich ist es eine Strategie des hochsensiblen Nervensystems Erlebnisse zu verarbeiten.

Lernen Sie sich selbst kennen!

ERF: Wenn ich hochsensible Wesenszüge an mir feststelle, was ist Ihr Rat?

Brigitte Schorr: Hochsensibel zu sein heißt nicht unbedingt: Schwierigkeiten im Leben zu haben. Grundsätzlich halte ich diese Veranlagung erstmal für neutral. Doch wenn man feststellt, dass man unter Reizüberflutung über Gebühr leidet oder das Abschalten schwer fällt, lohnt es sich, sich mit dem Thema genauer auseinanderzusetzen.

Für mich ist Beobachtung hier wichtig: Lernen Sie sich selbst gut kennen; nicht im Sinne einer narzisstischen Selbstbespiegelung, sondern im Sinne eines wirklichen Erforschens dieses Wesensmerkmals. Ich rate Leuten, die anfangen, sich mit dem Thema zu beschäftigen, sich erst einmal zu fragen: Wie zeigt sich meine Hochsensibilität? Wo merke ich es? Wo weniger? Wer sich selbst gut kennt, kann sich selbst auch gegenüber anderen gut erklären.
 

ERF: Eines der Symptome von Hochsensiblen ist Überstimulation, gleichzeitig kann man sich in der heutigen Gesellschaft kaum gegen Überreizung wehren. Was empfehlen Sie Betroffenen?

Brigitte Schorr: Hochsensible sollten lernen, sich nicht zu vergleichen. Ich erlebe oft, dass Hochsensible sich in ihrem Leben dem Diktat der anderen unterwerfen. Dabei schneiden sie eigentlich immer schlechter ab als die anderen. Es ist wichtig zu erkennen und auch zu akzeptieren, dass Hochsensible einen anderen, eigenen Rhythmus brauchen und haben.

Das heißt nicht, dass sie weniger leistungsfähig sind. Wenn sie ihren eigenen Rhythmus mit genügend Ruhepausen leben, sind sie hundert Prozent leistungsfähig. Aber viel Leiden Hochsensibler entsteht dadurch, dass sie versuchen, in einer normalsensiblen Welt einen normalsensiblen Rhythmus zu leben. Das funktioniert auf Dauer nicht.

Hochsensible und Normalsensible können viel voneinander lernen

ERF: Ihr neuestes Buch geht auf das Thema „Hochsensible in der Partnerschaft“ ein? Welche Konflikte und Herausforderungen ergeben sich für Hochsensible und deren Partner?

Brigitte Schorr: Es gibt zwei verschiedene Konstellationen: Entweder einer der Partner ist hochsensibel und der andere ist normalsensibel oder beide sind hochsensibel. Beide Konstellationen bergen Gefahren und Möglichkeiten. Wenn beide Partner hochsensibel sind, besteht die Gefahr, dass sie beide schnell in der Überstimulation landen und beide lange nachhallen müssen, aber vielleicht zu unterschiedlichen Zeiten.

Die Möglichkeiten in der Partnerschaft zweier Hochsensibler sehe ich darin, dass sie sich sehr gut verstehen können in Bezug auf die Wahrnehmungsfähigkeit. Es kann sich anfüllen, wie wenn man nach Hause kommt, wenn beide Partner entspannt sind und es ihnen gut geht.

Wenn ein hochsensibler und ein normalsensibler Partner zusammen sind, ist das eine große Herausforderung an die gegenseitige Toleranz. Es fällt Normalsensiblen in der Regel schwer zu verstehen, warum der Partner / die Partnerin vielleicht von einer Sekunde auf die andere erschöpft ist. Schwer ist auch nachzuvollziehen, warum es bestimmte Bedingungen braucht, um sich wohlzufühlen. Manchmal sind Hochsensible so schnell erschöpft, dass sie abends nichts mehr unternehmen können oder wollen. Auch das ist für normalsensible Partner eine große Herausforderung.

Auf der anderen Seite ist es für Hochsensible schwer nachzuvollziehen, dass man so bodenständig und geradewegs durchs Leben gehen kann, wie es manche Normalsensible tun. Ich glaube aber, dass bei einer Partnerschaft zwischen einem hochsensiblen und einem normalsensiblen Menschen beide sehr viel voneinander lernen können.
 

ERF: In ihrem Buch gehen Sie stark auf die Eigenschaften des jeweils hochsensiblen Partners ein. Welche Tipps können Sie Normalsensiblen Partnern geben, die vielleicht ab und an unter der Hochsensibilität ihrer Partner leiden?

Brigitte Schorr: Ich glaube, dass Normalsensible sich bewusst machen können, dass es kein Angriff gegen ihre Person ist, wenn der oder die hochsensibler Partner/In aggressiv wird oder in der Überreizung nur seine oder ihre Ruhe haben möchte. Das ist einfach ein Ausdruck der Verarbeitung, weil das innere Gefäß am Überlaufen ist. Dieses Bewusstwerden führt oft schon zu einer starken Entlastung.
 

ERF: Wie gehe ich als Normalsensibler in so einer Situation mit meinem Partner um?

Brigitte Schorr: Ich glaube, das ist ein Balanceakt. Reden nützt in einer solchen Situation manchmal nichts mehr, dann braucht es vielleicht eine Umarmung. Manchmal hilft ein Spaziergang und in anderen Momenten braucht es nur den geschlossenen Raum und Ruhe und nach einer Stunde ist es wieder gut. Beide Partner müssen sich auf diesen Seiltanz einlassen und auch in gewisser Weise Freude daran haben.

Jesu Lebensstil ist ein Vorbild für Hochsensible

ERF: Sie haben Ihr Buch in einem christlichen Verlag veröffentlicht. Dennoch stellen Sie kaum Bezüge zum christlichen Glauben her. Warum?

Brigitte Schorr: Ich habe das bewusst getan, weil es mir wichtig ist, dass sich sehr viele Menschen von dem Buch angesprochen fühlen. Aber ich gebe auch Tipps, die Christen gut kennen dürften, zum Beispiel wenn ich von der Stillen Zeit spreche.
 

ERF: Viele Tipps, die Sie Hochsensiblen geben, findet man auch im Neuen Testament. Jesus zum Beispiel hat sich auch bewusste Auszeiten genommen. Kann Jesus ein Vorbild für Hochsensible sein?

Brigitte Schorr: Auf jeden Fall. Wenn man mit dem Blick der Hochsensibilität auf sein Leben schaut, gibt es viele Bezüge wie etwa dieses „sich zurückziehen“, seine Nachdenklichkeit und Tiefgründigkeit. Jesus kann dafür ein Vorbild sein, wie man im Leben einen eigenen Rhythmus finden und leben kann. Und das ist für Hochsensible existenziell wichtig. Es geht nicht darum, immer nur teilzuhaben, sondern gerade die Aus- und Rückzugszeiten sind wichtig zur Regeneration.
 

ERF: Inwieweit kann der Glaube für hochsensible Christen dabei eine Hilfe sein?

Brigitte Schorr: Dadurch hat man einen Leitfaden im Leben, der Sicherheit und Orientierung gibt. Das ist ein existenzielles Bedürfnis. Dazu leistet der Glaube einen wichtigen Beitrag. Außerdem denke ich, dass durch den Glauben die Überzeugung reifen kann: „Ich bin so gemeint, wie ich bin: Mit alldem, was in mir ist ‒ und eben auch mit meiner hochsensiblen Veranlagung.“ Das ist ein entlastender Gedanke, nicht damit hadern zu müssen, sondern anzunehmen, dass es einen Sinn hat, warum ich so bin wie ich bin.
 

ERF: Was haben Sie persönlich aus der Bibel in Bezug auf Ihre Hochsensibilität gelernt?

Brigitte Schorr: Ich bin eine große Freundin der Sprüche Salomos und finde darin viel Weisheit. Ich würde hochsensiblen Menschen empfehlen, sich damit auseinanderzusetzen. Denn darin findet eine tiefe Auseinandersetzung mit seelischen Empfindungen statt, wenn es zum Beispiel heißt: „Behüte dein Herz mit allem Fleiß, denn daraus quillt das Leben“ (Sprüche 4,23). Das kann sehr heilsam sein für die oftmals etwas wundgescheuerte Seele Hochsensibler.
 

ERF: Vielen Dank für das Interview.
 

Ihr Kommentar

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Kommentare (2)

Birgit B. /

@ Gee F. Sie beschreiben hier keine Tatsache! Nicht jeder Hochsensible ist hochbegabt. Richtig ist allerdings, dass hochbegabte Menschen oftmals auch hochsensibel sind. Hochbegabung und Hochsensibilität sind zwei Phänomene menschlichen Seins mit vielen Überschneidungen.

Gee F. /

was hier völlig untergeht, ist die Tatsache, dass die sog. Hochsensiblen eigentlich Hochbegabte sind. Aber das scheint in einer Welt, in der nur die 'dumpfe Masse' (im Sinne von unsensible Masse) zählt, unwichtig zu sein.

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