„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Die meisten Bundesbürger können den ersten Artikel des Grundgesetzes zitieren. Wenn es um schwierige ethische Fragen wie die der Präimplantationsdiagnostik geht, steht er immer wieder zur Diskussion. Aber wie sieht seine Umsetzung im Alltag aus? Haben Sie das Gefühl, würdevoll behandelt zu werden, wenn Sie auf einem Amt ein Formular ausfüllen müssen? Oder umgekehrt: Sehen Sie dem ortsfremden Autofahrer sein plötzliches Abbiegen nach oder zeigen Sie ihm den Vogel?
Ziel des Buches
Dr. Stephan Marks vertritt in seinem Buch über die Würde des Menschen die Ansicht, dass es gerade solche kleinen Begebenheiten sind, die einen würdevollen Umgang miteinander ausmachen. Denn das schwer verständliche Formular auf dem Amt gibt dem Bürger das Gefühl, leicht unterbelichtet zu sein und der beschimpfte Autofahrer fühlt sich als Versager. Häufen sich solche negativen Erfahrungen, kratzt das am Selbstwertgefühl. Wer sich selbst seines Wertes aber nicht bewusst ist, kann auch andere nicht mit Respekt und Würde behandeln. Das Miteinander wird frostig, jeder versucht nur noch, sein eigenes Image unbeschadet darzustellen. Marks Ziel ist es, dieses Manko zu beheben. Er möchte dazu beitragen, dass in Deutschland ein Klima entsteht, in dem Menschen sich nicht gegenseitig permanent bewusst oder unbewusst fertig machen.
Herangehensweise des Autors
Systematisch geht der Sozialwissenschaftler an das Thema heran und arbeitet dafür erst einmal heraus, was Menschenwürde ist. Denn so geflügelt der Ausdruck von der unantastbaren Würde ist, für die meisten bleibt er eine nebulöse Phrase. Für Marks spielt der Begriff der Scham in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. Denn da, wo Menschen durch Worte oder Taten beschämt werden, leidet ihre Würde. Im zweiten Kapitel untersucht der Autor, ob und wie Menschen in der deutschen Geschichte entsprechend ihrer Würde behandelt wurden. Sein Urteil ist wenig schmeichelhaft: „Land der Mobber und Henker“ oder „Ein Land, gebaut aus Schutt und Scham“ lauten hier die Zwischenüberschriften. Der Rest des Buches beschäftigt sich ganz praktisch mit der Frage, wie zum Beispiel Lehrer oder Pflegekräfte mit sich selbst aber auch mit ihren Schülern und Patienten würdevoll umgehen können.
Stärken des Buches
Marks trifft den Nerv der Zeit, wenn er beschreibt, dass die Menschenwürde zwar im deutschen Grundgesetz fest verankert ist, im alltäglichen Miteinander aber kaum eine Rolle spielt. Seine Beobachtungen öffnen dem Leser die Augen, wo und warum der Umgang in unserer Gesellschaft damit oft nicht gelingt: Bringt man Raser zum Beispiel wirklich dazu langsamer zu fahren, indem man sie auf Autobahnplakaten als uncool bezeichnet? So wichtig das Anliegen der Verkehrssicherheit ist, ist die Umsetzung in diesem Fall aus der Sicht Marks nicht gelungen. Denn wer verändert sich schon gerne, wenn er für sein falsches Verhalten beschämt wird.
Die im Buch aufgeführten Fragen zur Aufarbeitung der eigenen Geschichte mit dem Thema Scham sind hilfreich, um sich selbst zu reflektieren und zu verändern (!). Die zeitlichen Bezüge und Literaturverweise sind aktuell und reichen bis in das Jahr 2010. Das gibt dem Leser das Gefühl, nahe an der aktuellen gesellschaftlichen Situation dran zu sein.
Schwächen des Buches
Die psychologischen Ausarbeitungen im ersten Kapitel erfordern teilweise ein hohes Maß an Konzentration und sind für den Laien manchmal eine Überforderung. Theologisch gesehen scheint der Autor eher dem Buddhismus nahe zu stehen als dem christlichen Glauben. Mit manchen seiner Aussagen und Schlussfolgerungen stimme ich als Christ nicht überein. So halte ich es kirchengeschichtlich für falsch, ausgerechnet Thomas Münzer als ein Vorbild für Zivilcourage hinzustellen. Ähnliches gilt für seine Einschätzung darüber, wie der so genannten Sündenfall im ersten Buch Mose zu verstehen ist. Eine Ausarbeitung über die Geschichte, warum und wie der Artikel 1 seinen Weg in das Grundgesetz gefunden hat, fehlt. Fragwürdig ist auch, ob Deutschland geschichtlich wirklich so einzigartig negativ dasteht, was die Umsetzung der Menschenwürde angeht. Für das 20. Jahrhundert mag das stimmen, für die Zeit davor ähnelt sich die Geschichte der einzelnen europäischen Länder doch stark.
Darüber hinaus begeht Marks mit seinen Forderungen nach eine Veränderung den Fehler, den wir Deutschen zu oft machen: Wir verankern die Probleme im System und schieben den Politikern die Verantwortung zu. Damit überfordern wir auf Dauer nicht nur den Sozialstaat, sondern verkennen auch unseren Anteil an den Dingen, die schief laufen. Eigeninitiative ist gefragt, der Staat kann höchstens Rahmenbedingungen schaffen. Das kann durchaus so geschehen, dass das Thema verpflichtend in der Lehrerausbildung aufgegriffen wird. Lehrerverbände oder Schulbeiräte und Elterninitiativen können sich aber auch unabhängig davon Gedanken machen, wie sie Impulse vor Ort setzen können.
Für wen?
Marks geht immer wieder stark auf die Situation von Schülern ein, zum Beispiel im Sport- oder Musikunterricht. Gerade in diesen Fächern erleben die Heranwachsenden oft Versagen und Hänselei. Deswegen eignet sich das Buch insbesondere für Lehrer. Beispielhaft wird gezeigt, wie sie im System Schule Jugendlichen helfen können, einander achtungsvoll zu begegnen, ohne dabei selbst kaputt zu gehen. Laut Cover will das Buch alle ansprechen, „die wir täglich mit Menschen zu tun haben“. Eine weitere Zielgruppe sind Medienmacher und Politiker. Sie geben den Ton an, wenn es darum geht, wie über einzelne Menschen und Gruppierungen gesprochen wird und wie sie dargestellt werden. Aus diesem Grund tragen sie hier auch eine besondere Verantwortung.
Fazit
Trotz der genannten Schwächen ist das Buch lesenswert. Der Leser wird dazu herausgefordert, den negativen Kreislauf von Entwürdigung im privaten und politischen Umfeld zu erkennen und zu durchbrechen. Wo das nicht einfach nur mit Forderungen nach politischem Handeln, sondern mit persönlichem Einsatz Hand in Hand geht, ist das Buch ein notwendiger Augenöffner für unsere Gesellschaft. Im Klartext: Wenn jeder von uns anfängt, das umzusetzen, was Marks vorschlägt, dann kann das Zusammenleben in Deutschland menschenwürdiger werden.
Die Würde des Menschen oder Der blinde Fleck in unserer Gesellschaft
240 S.
ISBN: 978-3-579-06755-1
€ 19,99 [D]
Gütersloher Verlagshaus (Buch bestellen)
Ihr Kommentar
Kommentare (4)
Land der Mobber und Henker?
Ich denke, man sollte die Kirche im Dorf lassen. Diese Überschrift ist übertrieben. Wie sieht unsere Geschichte aus? Wir sind das Land der Dichter und Denker. Unter Adolf … mehrNazi wurden wir das Land der Richter und Henker - heute werden wir vielfach durch Mobbing kränker - um den Reim mal durchzuhalten. Das Beispiel von Thomas A. zeigt sehr schön, dass es auch bei Gottes Bodenpersonal nicht immer so ganz fair zugeht. Vor Jahren hatte der ERF dazu sogar mal eine eigene Sendung gemacht, den Titel werde ich nicht vergessen: Dikatur der Frommen. Dennoch: Wir sollten nicht der Versuchung erliegen, Worte inflationär zu verwenden. Das wird heute vielfach gemacht, deswegen hat auch kaum noch jemand wirklich etwas zu sagen. Henker gibt es im Iran, in den USA, in China und div. anderen Staaten - aber nicht in Deutschland.
Ich teile die Meinung von Bernd Schneider: Zitat: Es ist lächerlich, diesen Begriff für ein harmloses "seid mal etwas freundlicher zueinander" zu bemühen. - Zitat Ende.
LG Uwe
Nachdem es sich hier um eine Seite des ERF handelt, wäre es gut, wenn wir bei uns selbst anfangen würden. Also bei uns Evangelikalen. Ich mußte vor gut 2 Jahren erleben wie ich und meine Familie von … mehrunseren damaligen pietistisch geprägten Landeskirchlichen Gemeinschaft gemoppt und verteufelt wurden (werden). Anfänglich nur vom Pastor und dem 1.Vorsitzenden, dann von allen. Und alles nur, weil meine Frau den Zielen der zweien im Weg stand (Frau des Pastors wollte das Amt meiner Frau). Selbst Rufmord war kein Problem für sie. Sie schafften es sogar, die Menschen der LKG mit ihren Lügen zu verführen. Ich denke, solange wir Jesusnachfolger es nicht schaffen, die Menschenwürde als unantastbar zu sehen, wie sollen es dann die anderen schaffen, die, ohne von der Liebe Jesu zu wissen, durch die Welt gehen?
Der Begriff der Menschenwürde ist aufgrund der von staatlicher Gewalt ausgehender Naziverbrechen in das Grundgesetz aufgenommen worden. Es ist lächerlich, diesen Begriff für ein harmloses "seid mal … mehretwas freundlicher zueinander" zu bemühen. Da spricht man einfach von Anstand. Übrigens: Vogelzeigen kann teuer werden...
Kürzlich hatte ich irgendwo -im Zusammenhang mit Christenverfolgung- gelesen, daß Evangelisation oder überhaupt so etwas wie Leben in freier Meinungs- und Glaubensäußerung nur dort möglich ist, wo … mehrdie sozialen Grund- und Menschenrechte geachtet werden.
In der Praxis erlebte ich bisher, daß in vielen Bereichen des beruflichen und öffentlichen Lebens die Gier -einzelner oder ganzer Gruppen nach persönlicher Macht und Anerkennung- eine Art Eigendynamit und Eigengesetzgebung entwickelten, sei es nun am Arbeitsplatz, oder auch im Freizeitbereich. Verheerend wirken sich solche Dynamiken in Familien und Gemeinden aus, da hier gerade auch ein spiritueller Rückzugs- und Geborgenheitsbereich gefährdet wird. Außerdem werden dadurch verschiedene Angst- und Abwehrmechanismen erlernt, die dann in eine innere Abschottung ("ich mache dicht") münden können, was wiederum Isolation und Süchten enorm Vorschub leistet. Doch auch daran verdient wieder ein ganzer Industriezweig.
Wir sehen also, wie Krankheit, individuell oder gesellschaftlich, durch Gewalteinwirkung mit ausgelöst werden kann. Nämlich, indem die Würde des Menschen permanent und intensiv angetastet und mit Füßen getreten wird. Da herauszukommen, ist immer erst ein Weg weniger, aus dem dann hoffentlich viele werden.
Wenn euch nun der Sohn frei macht, so seid ihr wirklich frei.
Joh 8,36