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© Gerth Medien

15.06.2010 / Interview / Lesezeit: ~ 8 min

Autor/-in: Joachim Bär

"Tapferkeit wird die wichtigste Tugend sein."

Deutschland ist mehr und mehr entchristlicht. Die Risiken und Nebenwirkungen dessen untersucht Dr. Andreas Püttmann in seinem neuen Buch.

Er wirft als Sozialwissenschaftler den Blick auf diese folgenreiche gesellschaftliche Entwicklung. Ein Gespräch über eine Gesellschaft ohne Gott, die Macht der Medien und Versäumnisse der Kirchen. 
 

ERF.de: Herr Dr. Püttmann, Sie sprechen in Ihrem neuen Buch „Gesellschaft ohne Gott“ vom Siechen und Zusammenbruch der christlichen Leitkultur. Ist das nicht ein wenig drastisch?

Andreas Püttmann: Die Drastik ist völlig berechtigt. Wir haben heute nominell 63 Prozent Christen in der Bundesrepublik, 1970 waren es noch 93 Prozent. Nur ein Drittel des Rückgangs geht aufs Konto der Wiedervereinigung. Dieser Trend wird sich schon im Blick auf die Altersstruktur der Gläubigen fortsetzen. Wenn Sie bedenken, dass von den Kirchenmitgliedern auf katholischer Seite nur noch etwa zehn und auf evangelischer drei Prozent regelmäßig am Gottesdienst teilnehmen, haben wir es längst nicht mehr mit Volks-, sondern mit Minderheitenkirchen zu tun. Unter den heutigen Eltern betrachten laut Allensbacher Generationenbarometer nur noch 34 Prozent eine religiöse Erziehung als „wichtig für Kinder“. Hier kommt ein Schneeballeffekt auf uns zu.

ERF.de: Nichtsdestotrotz wurde der Verfall von Werten und der christlichen Kultur auch schon von Christen vor uns moniert…

Andreas Püttmann: Ich kenne den Spruch: „Jede gute alte Zeit war auch mal schlechte neue Zeit“. Aber mir scheint es doch beispiellos, wenn Spitzenpolitiker Bischöfe als kastrierten Kater, Hassprediger oder durchgeknallten Oberfundi beschimpfen können. Wenn eine christdemokratische Kanzlerin nicht mehr, wie Adenauer, als Seele Europas das Christentum nennt, sondern die Toleranz. Wenn der Papst in der Gefahr steht, an der Seite von skrupellosen Diktatoren in den Menschenrechtsbericht des EU-Parlaments zu geraten, nur weil er die tradierte Sexualmoral verkündet. All das zeigt keine Wellenbewegung, wie es sie schon immer gab, sondern einen qualitativen Sprung.

Ohne Gott ist alles erlaubt

ERF.de: Was ginge uns denn verloren, wenn die christliche Leitkultur wirklich am Ende ist?

Andreas Püttmann: Das Fundamentalste ist der Lebensschutz. Christen unterscheiden sich massiv von anderen in ihrer Einstellung zu Abtreibung, Euthanasie, Embryonenforschung oder Todesstrafe. Ihr Einsatz für das Lebensrecht würde fehlen. Auch das Rechtsbewusstsein insgesamt würde schwächer. Man findet bei schweren Delikten, aber auch bei der Alltagskriminalität – Schwarzfahren, Steuerhinterziehung, Versicherungsbetrug – unter Christen wesentlich häufiger entschiedene Ablehnung. Wichtige moralische Handlungsmaximen wie Dankbarkeit zeigen, auch mal verzichten können, anderen vergeben, bescheiden sein, werden von christlich gebundenen Jugendlichen wesentlich häufiger unterstützt. Insgesamt würde sich das gesellschaftliche Klima zu Ungunsten aller verändern.

Bild: privat, Andreas Püttmann: "Es zeigt sich ein qualitativer Sprung:"

ERF.de: Genau darauf legen Sie in Ihrem Buch einen Schwerpunkt. Was passiert in einer Gesellschaft, in der Religion keine Rolle mehr spielt?

Andreas Püttmann: Der Egoismus wird hemmungsloser ausgelebt - es gibt ja keine Zügel mehr. Philosophisch kann man sich natürlich immer eine Moral konstruieren. Aber wenn eine Gesellschaft keine Sanktionsinstanz hat und man einer rein diskursiv zu findenden Ethik der Übereinkunft folgt, wird diese zur Wanderdüne. Letztlich landen wir bei dem Satz Dostojewskis: Wenn es keinen Gott gibt, ist alles erlaubt. Auch die durch Gier und Maßlosigkeit begünstigte Weltwirtschaftskrise hat etwas mit dem Schwinden christlicher Tugenden zu tun.

Ressentiment in den Medien

ERF.de: Nun prägen nicht nur Werte eine Gesellschaft, sondern auch die Medien. Sie bezeichnen die Medien als die wahre Macht der heutigen Gesellschaft, die eine große Mitschuld an der gegenwärtigen Entchristlichung hat. Woran machen Sie das fest?

Andreas Püttmann: Erstens ist die Religion unterproportional in den Nachrichten vertreten, obwohl sie immer noch ein bedeutender Faktor für viele Menschen ist. Zweitens werden kirchliche Themen oftmals mit Unkenntnis und Ressentiment behandelt. Es gibt Umfragen, die belegen, dass Journalisten keineswegs das weltanschauliche, religiöse und politische Spektrum der Gesellschaft halbwegs repräsentativ abbilden, sondern deutlich weiter links stehen. Sie sind stärker säkularisiert und haben eine distanziertere und kritischere Haltung zur Kirche als die Bevölkerung. Das schimmert immer wieder durch und wirkt sich auf Dauer natürlich auf das Denken der Menschen aus.

ERF.de: Dass einige Medien eher links ausgerichtet sind, ist ja ein offenes Geheimnis. Aber klingt das, was sie sagen, nicht ein wenig nach Verschwörungstheorie?

Andreas Püttmann: Man braucht gar keine Verschwörung anzunehmen. Ich bin nicht der Meinung, dass sich irgendwo Strippenzieher zusammensetzen und überlegen, wie sie die Kirche fertig machen können. Aber Journalisten sind nachweislich eine Gruppe mit einer starken In-group-Orientierung. Das heißt: Sie beobachten genau, was die Kollegen machen und wollen in erster Linie bei den Kollegen anerkannt sein. Sie geraten damit in eine ganz normale Gruppendynamik, in der andere Meinungen gar nicht mehr zugelassen sind. Das kirchenkritische Klima entsteht also ohne organisierte Verschwörung, ist aber ein Reflex der persönlichen Einstellungen der Medienmacher zum Thema Kirche und ihrer geringen religiösen Sachkenntnis.

ERF.de: Sie sind also der Meinung, dass Journalisten hier über Themen schreiben, von denen sie keine Ahnung haben?

Andreas Püttmann: Ja, sicher. Ein bezeichnendes, wenn auch harmloses Beispiel aus der Piusbrüderaffäre: Während dieses monatelangen Kesseltreibens gegen die katholische Kirche wurde der schismatische Bischof Lefebvre sogar in einer „ARD Extra“-Sendung, also im gehobenen Qualitätsjournalismus, als Kardinal bezeichnet – was er nie war. Wenn man schon bei den Basics der kirchlichen Rang- und Funktionsbezeichnungen so schlampig recherchiert, sind auch theologische Fehleinschätzungen nicht überraschend.

Der Rechtsstaat bietet keine Sicherheit für immer

ERF.de: In Ihrem Buch zitieren Sie auch Eckhart Nickig, der das Vorgehen linker Gruppen gegen das Christival und gegen den Seelsorgekongress in Marburg mit dem Vorgehen „brauner Horden“ 1933 vergleicht. Mal ehrlich: Ist dieser Vergleich wirklich angebracht?

Andreas Püttmann: Man kann sich natürlich mit NS-Vergleichen in Deutschland schnell die Finger verbrennen. Aber die Mutter der Unterscheidung ist nun mal der Vergleich. Erst wenn ich vergleiche, kann ich Unterschiede feststellen. Man darf den Vergleich nur nicht mit Gleichsetzung verwechseln.

ERF.de: Und was heißt das für den konkreten Fall?

Andreas Püttmann: Dass natürlich ein Unterschied besteht zwischen einem demokratischen Rechtsstaat und einer totalitären Diktatur. Aber die Stimmung, die heute gegen Kirche und Christen erzeugt wird, hat auch in der gesellschaftlichen Bewegung des Nationalsozialismus eine Rolle gespielt – und zwar schon bevor sie an den Schalthebeln staatlicher Macht war. Ich halte es durchaus für legitim, an Hetze gegen die Kirche in der Vergangenheit zu erinnern. Solche Hetze gegen die katholische Kirche und gegen Evangelikale gibt es heute auch.

ERF.de: Ihnen geht es also um den Vergleich der gesellschaftlichen Stimmung und der Vorgehensweise bestimmter Gruppen?

Andreas Püttmann: Mir geht es um Massenstimmungen und verbale Aggression, unabhängig vom Staat. Damals, das ist der qualitative Unterschied, hat diese antichristliche und antikirchliche Bewegung den Staat für sich in den Dienst genommen. Das ist heute noch nicht der Fall, wenn man von der Entgleisung von Frau Leutheusser-Schnarrenberger absieht.

Aber auch der Rechtsstaat gibt keine Sicherheit für immer. Richter zum Beispiel sind Kinder ihrer Zeit. Über Kreuze in Klassenzimmern wurde vor 30 Jahren noch anders geurteilt als 1995 im Kruzifixbeschluss des Bundesverfassungsgerichts. Auch die Rechtssprechung zur Abtreibung hat sich geändert. Letztlich beruht alle Staatlichkeit auf Meinung. Deshalb sind die Wertüberzeugungen das letztlich Maßgebliche und nicht die staatlichen Strukturen. Das Recht wird sich durch seine Interpretation mit dem Wandel der Werte ändern.

Kirche ist keine Moralanstalt oder Sozialagentur

ERF.de: Sie raten den Kirchen, in solchen Situationen nicht klein bei zu geben, weil sonst der Spielraum immer enger wird. Ist das nicht eine Anleitung zur Eskalation der Situation?

Andreas Püttmann: Das kann schon gelegentlich eskalierend wirken. Jesus hat auch nicht nur besänftigende Reden gehalten. Er hat bisweilen sehr scharf Missstände angeprangert, nannte bestimmte Personen und Gruppen „Schlangenbrut“, „Heuchler“ und „getünchte Gräber“ und hat so zum Konflikt beigetragen. Ich halte es für nötig, dass man bestimmte Unverschämtheiten und Bosheiten in aller Schärfe beim Namen nennt. Die große, geistig programmierte Auseinandersetzung kann man nicht dadurch vermeiden, dass man immer beschwichtigt. Im Gegenteil. Wer sich rechtzeitig wehrt, kann in der längerfristigen Perspektive die Eskalation eher verhindern – auch wenn man erst mal einen unangenehmen Konflikt hat.

ERF.de: Sie geben auch den Kirchen große Mitschuld an der gegenwärtigen Situation. Was haben sie Ihrer Meinung nach versäumt?

Andreas Püttmann
Gesellschaft ohne Gott
Gerth Medien
ISBN 9783865915658
288 S.
17,95 €


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Andreas Püttmann: Ich kann mit einem Zitat des EKD-Rates vom Herbst 1945 antworten: „Wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“ Darin ist das ganze Programm für eine kritische Selbstbesinnung und geistliche Revitalisierung enthalten.

Die Kirchen haben die metaphysischen Elemente des christlichen Glaubens vernachlässigt. Die Auferstehung und das ewige Leben hat man auf irgendwelche optimistischen Alltagseinstellungen und das Umschmieden von Waffen zu Pflugscharen heruntergebrochen. Das ist ja alles gut und schön, aber nicht die Hardware des christlichen Glaubens. Es ist ein falsches Bild von dem entstanden, worum es im christlichen Glauben überhaupt geht. Die christliche Kirche ist in erster Linie keine Moralanstalt oder Sozialagentur, sondern eine Glaubensgemeinschaft mit einer frohen, befreienden Botschaft.

Nicht so verbiestert aufeinander losgehen

ERF.de: Sie haben von einer geistlichen Revitalisierung gesprochen, und in ihrem Buch schlagen Sie in Anlehnung an das genannte Zitat als Lösung für das Problem ein 4-Punkte-Programm vor: Christen sollen mutiger bekennen, treuer beten, fröhlicher glauben und brennender lieben. Was heißt das für Sie konkret?

Andreas Püttman: Mutiger bekennen: Dass man etwa auf Gruppenreisen oder bei Seminaren Zeit für einen Gottesdienst einfordert. Dass man sich auch in der Öffentlichkeit als Christ bekennt, z. B. in der Kantine, indem man vor dem Essen das Kreuzzeichen macht oder sichtbar betet. Es bedeutet auch, das Gespräch mit Atheisten und Agnostikern im eigenen Bekanntenkreis zu suchen oder zumindest bereit zu sein, Auskunft zu geben über die eigene Hoffnung. Oder dass man unkonventionelle Formen der Glaubensverkündigung ausprobiert: Festivals, Chats mit dem Bischof usw. Wir sollten darüber hinaus feierliche Gottesdienste pflegen und nicht unentwegt über Klimawandel, Afghanistan und Gender-Mainstreaming sprechen. Christen müssen erlöster aussehen! Was das „brennender Lieben“ angeht, sollten wir bei unseren innerkirchlichen Kontroversen nicht so verbiestert aufeinander losgehen. Das gibt ein schlechtes Zeugnis für die Gemeinschaft der Christen ab.

ERF.de: Man könnte sagen: Mutig nach außen wirken, aber auch "Zurück zu den Wurzeln"?

Andreas Püttmann: Ja, das ist eine gute Zusammenfassung. Mut aber auch Tapferkeit brauchen wir von den Kardinaltugenden heute am meisten. Um Gerechtigkeit bemühen sich viele, Maßhalten wird uns sowieso noch abverlangt werden und Klugheit kann man nur begrenzt herstellen. Aber mehr Tapferkeit ist in unserer sehr auf Konformismus bauenden Diktatur der Political Correctness dringend erforderlich. Gerade auch im politischen Bereich, wo die Sorge, bloß nichts Anstößiges zu sagen und das Einlullen mit Konsensformeln weit verbreitet sind. Tapferkeit wird in einer entchristlichten Gesellschaft die wichtigste Tugend für Christen sein. Je mehr mutige Bekenner wir heute haben, desto weniger Helden werden wir morgen brauchen.

ERF.de: Vielen Dank für das Gespräch!

 Joachim Bär

Joachim Bär

  |  Unit Lead erf.de / Antenne

Joachim Bär war Unit Lead von erf.de und hat die übergreifenden Themen der redaktionellen Angebote des ERF koordiniert. Er ist Theologe und Redakteur, verheiratet und hat zwei Kinder.

Ihr Kommentar

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Kommentare (10)

Gottfried Pendl /

Menschen ohne GOTT tun mir sehr Leid,denn die leben nur für diese Leben und dann ist für solche Menschen alles aus und vorbei.Die Menschen sagen und denken auch,jetzt will ich leben und alles mehr

Siegfried Sommer /

Trau,schau,wem?Den Supermarkt der Religionen halte ich für einen der geschicktesten Tricks Luzifers,um Menschen von Jesus wegzulocken.Für mich zählen die Worte Jesu:Ich bin der Weg,die Wahrheit und mehr

Wüstenbeduine /

Als Christ wird man hierzulande teilweise schon so behandelt, als hätte man eine Behinderung. Man gehört vielorts nicht mehr dazu, sondern ist nur noch anwesend. Oder man wird als "merkwürdiger Kauz" mehr

Katrin /

Es braucht auch einfach mutige Aufklärung über fernöstöstliche Religionen und alternative Heilmethoden. Jeder bastelt sich seine eigene Religion und Christ sein ist uncool. :-( Aber genau so ist es ja in der Bibel zu lesen, was gerade geschieht.

Imre Ambrus /

Na endlich!
Wie lange haben wir auf diese Gedanken gewartet. Die Kirche müsste sich nach der Welt wie eine
Partei zeigen,die eine charakteristische Meinung
und Lösung /Jesus/hat über
Probleme mehr

Micha /

Vielen Dank!
Dieser Bericht kann ein wenig die Augen öffnen, wie meilenweit entfernt wir Christen von der biblischen Grundlage sind.
Wäre da doch wenigstens noch etwas von dem (ansteckenden) Feuer, mehr

Renate /

Danke für diesen aufrüttelnden Beitrag. Ja, das 4-Punkte-Programm ist dringend notwendig! Es ist wichtig, mutig den Glauben zu bekennen und einem falschen Bild von "den Christen" entgegen zu wirken.

Monika Berlitz /

Ja, wo sind wir Christen denn alle...?
Lasst uns wieder aufstehen mit Mut und in der Kraft Gottes gegen den Strom schwimmen, auch wenn das anstrengender ist, als sich einfach treiben zu lassen!!!
Wir mehr

Bernd Schneider /

Das Christentum ist in Deutschland heute noch da kräftig, wo es Erweckungsbewegungen gab (z.B. Württemberg, Erzgebirge, Siegerland, Niederrhein). Alles andere war aufgesetzt und übernommen durch mehr

Gudrun /

Herzlkichen Dank für diesen höchst wichtigen und alarmierenden Beitrag.

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