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© Droemer-Knaur

19.04.2010 / „No & ich“ / Lesezeit: ~ 4 min

Autor/-in: Michael Gerster

Kann man die Welt retten?

Oder wenigstens einen Menschen, der vom Schicksal gebeutelt auf der Straße lebt? Der nicht nur die Hoffnung, sondern auch sich selbst aufgegeben hat?

Die 13-jährige Lou Bertignac ist ein Ausnahmekind. Sie lebt mit ihren Eltern in Paris, hat einen IQ von 160, möchte aber am liebsten jedes Mal im Boden versinken, wenn sie einen Vortrag vor ihrer Klasse halten soll. Ihr Gehirn rattert unentwegt und sie versucht die Welt durch die kuriosesten Experimente und Erklärungen zu verstehen:

„Der Sonntag ist der Tag der häuslichen Experimente: Reaktionen unterschiedlicher Brotsorten auf die Stufe 8 des Toasters (Mischbrot, Baguette, Milchbrötchen, Sechskorn), Zeit bis zum Verschwinden von Mundabdrücken auf beschlagenem Spiegel, Test der Widerstandsfähigkeit eines Haargummis im Vergleich zu der eines Schnippsgummis, Löslichkeitsgrad von Nesquik im Vergleich zu Pulverkaffe – eingehende Analysen, deren Zusammenhang in einem eigens dafür vorgesehenen Heft ins Reine geschrieben werden.“

Eines Tages betritt die 18-jährige No ihre Welt. No ist obdachlos und scheinbar ohne jede Hoffnung. Lou beginnt, in No eine große Freundin zu sehen. Eine Freundin, die ihr nicht nur Halt, sondern auch einen Auftrag gibt: nämlich No zu retten.

Kann man einen Menschen retten?

Doch kann man einen Menschen retten? Kann man die Welt ein kleines Stück besser machen? Lou erkennt, dass alles Wissen und alle Analysen ihr nicht dabei helfen werden. Sie muss sich entscheiden. Und diese Entscheidung ist mit einem Risiko verbunden:

„Wie kann man mit achtzehn Jahren auf der Straße landen, mit nichts und niemandem? Sind wir so klein, so unendlich kein, dass sich die Welt weiterdreht, die unendlich große, und sich einen Dreck darum schert, wo wir schlafen? Das waren die Fragen, auf die ich Antworten suchte. Voilà, mein Heft ist voll, ich habe zusätzlich im Internet recherchiert, ich habe Artikel zusammengefasst, Umfragen gelesen, Zahlen, Statistiken und Trends verglichen, aber all das hat keinen Sinn, all das bleibt unverständlich, selbst mit dem weltgrößten IQ, hier bin ich, mit zerrissenem Herzen, sprachlos sitze ich vor ihr, ich habe keine Antwort, hier bin ich, wie gelähmt, dabei brauchte ich sie nur an der Hand zu nehmen und zu sagen, komm zu mir.“

Lou gelingt es, ihre Eltern genau dazu zu überreden. Sie lassen sich auf dieses ungewöhnliche Experiment ein und erlauben, dass No mit im Haus wohnt. Zunächst läuft alles nach Plan. No kommt zu Kräften, integriert sich mehr und mehr in die Familie: Sie übernimmt alltägliche Pflichten im Familienleben. Sie schafft es sogar, einen Job zu bekommen, der sich aber zusehends als schwierig erweist. Doch No beißt sich durch. Die Rettungsmission scheint zu glücken. Doch als Lou mit ihrer Familie für einige Tage Verwandte besucht, kommt es zur Katastrophe. No kommt mit dem Alleinsein nicht klar. Es scheint, als habe sie Angst vor den Dämonen der Vergangenheit. Sie betrinkt sich und von da geht es wieder abwärts und No zerfällt. Innerlich und äußerlich.

Doch Lou gibt die Hoffnung nicht auf. Sie ist sogar bereit, ihr komfortables Leben aufzugeben und mit No nach Irland zu fliehen, auf der Suche nach Nos großer Liebe.

Kann man einen Menschen retten, den alle anderen aufgegeben haben? Kann man die Welt nicht nur ein kleines Stück, sondern ein ganz entscheidendes Stück besser machen? Die Autorin Daphne de Vigan findet darauf ihre eigene Antwort in dem Buch „No und ich“. Es war bereits als gebundene Ausgabe ein Bestseller und wird im Verlag Droemer und Knaur im Herbst als Taschenbuch erscheinen.

„Mir war gerade etwas passiert“

No wird nicht gerettet. Dafür aber zwei andere Menschen und ihre Beziehung zueinander. Man könnte sagen, aus der Weltverbesserungsgeschichte wird eine Erlösungsgeschichte. Und auch hier gilt: Rettung gibt es nicht zum Nulltarif. Irgendjemand muss ein Opfer bringen. Und gebracht wird es von dem Menschen, von dem man es am wenigsten erwartet. Das muss Lou schmerzhaft erfahren. Doch sie erkennt auch, dass sie frei geworden und gewachsen ist:

„Mir war gerade etwas passiert. Etwas, dessen Sinn ich begreifen musste, dessen Tragweite ich erfahren musste, fürs ganze Leben. Ich habe weder die Ampeln gezählt noch die Twingos, ich habe keine Mulitplikationen im Kopf durchgeführt, ich habe weder Synonyme für die Erbenslosigkeit gesucht noch eine Definition von Veranlagung. Ich sah gerade vor mich hin, während ich ging, ich kannte den Weg, mir war etwas passiert, das mich größer gemacht hatte. Ich hatte keine Angst.“

Fazit

No & ich, Delphine de Vigan, Droemer Knaur, 8,95 bei Amazon.de (ab Herbst)

Bild: Droemer-Knaur

Daphine de Vigan ist mit „No und ich“ ein wunderbarer Roman gelungen, der vielleicht eines Tages mit Klassikern wie dem Kleinen Prinzen verglichen wird. Es ist ein Roman, der in Welt und Denken einer 13-Jährigen entführt, die durch ihre eigene Zerrissenheit zwischen Genie und Kind dem Leser die Zerrissenheit der Welt schmerzhaft, aber ohne erhobenen Zeigefinger vor Augen führt. Es ist eine Geschichte von Liebe, Schmerzen, Opfern und – Erlösung.


 

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Kommentare (2)

Junia /

Hey Michael,
danke für die Rezi, habe gerade die letzten Seiten gelesen. Selten hat mich ein Buch so sehr berührt wie dieses Buch!!!! Dankeschön
Gehört ab sofort zu meinen Lieblingsbücher, was ja was heißt, als Bibliothekarin

HeHe /

Liebes Redaktionsteam!
Ich möchte Ihnen an dieser Stelle für Ihre für mich immer wieder interessanten Buchvorstellungen danken. Es war schon manch ein echtes Schätzen dabei. Dieses hört sich auch interessant an und ich werde es mit großem Interesse lesen.

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