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© Susanne Ospelkaus

04.01.2024 / Zum Schwerpunktthema / Lesezeit: ~ 7 min

Autor/-in: Susanne Ospelkaus

Auf der Suche nach Glück

Die tiefsten Momente ihres Lebens lehren Susanne Ospelkaus: Glücklichsein ist ein Geschenk.

„Glück gehabt“, sagt der Arzt, als er bei einer Untersuchung einen Tumor frühzeitig entdeckt. „So ein Glück“, ruft die Frau, als sie gerade noch bremsen kann. „Glückspilz!“, gratuliert man dem werdenden Vater. „Glücklich ist jeder, der sich auf Gott verlässt“, flüstern die Psalmen.

Das Glück und die Gefühle

„So ein Unglück“, sagt der Bestatter, als ich die Beerdigung plane. Mein erster Ehemann ist gestorben und ich frage mich: Hat uns das Glück verlassen? Hat uns Gott verlassen? Glück und Gott, gehört das zusammen?

Von einem Moment auf den nächsten werde ich in die Tiefen von Schmerz und Abschied geworfen. Neben der Trauer um meinen besten Freund, Geliebten und Vater meiner Söhne drängen sich ganz praktische Fragen in mein Leben: Wovon leben wir? Wie schaffe ich das als Alleinerziehende? Können wir irgendwann wieder glücklich sein?

Glück ist ein großes Wort und meine eigentliche Frage lautet: Kann ich zufrieden sein, mit dem, was ich habe?

Glück ist ein großes Wort und meine eigentliche Frage lautet: Kann ich zufrieden sein, mit dem, was ich habe? „Nein! Ich will mein altes Leben zurück“, weine ich.

Ich kann ahnen, wie viele Menschen auf der Welt ein anderes Leben wollen. Ukrainer und Israelis wünschen sich ihr altes Leben zurück. Iranerinnen wünschen sich ein neues Leben und Vertriebene ein besseres Leben. In Deutschland sind wir privilegiert, auch wenn es sich trotz Krisen nicht so anfühlt. Wir gehören zu den zwei Prozent der wohlhabendsten Menschen der Welt.

„Mir doch egal“, ruft der Unglückliche. Fakten trösten nicht, auch wenn sie berechtigt sind. Objektiv betrachtet habe ich Gründe, um glücklich zu sein. Sie sind vernünftig und logisch, aber meine Gefühle kommen einfach nicht hinterher. Wäre es möglich, den Emotionen nicht so viel Raum zu geben und zu glauben, dass ich glücklich sein kann, wenn ich mein Glück in Vertrauen auf Gott ergreife? Das scheint mir eine Abkürzung zu sein, denn schließlich wurde ich mit Gefühlen erschaffen – mit komplizierten, ambivalenten und anstrengenden Gefühlen.

Das Glück und die Empathie

In meinem größten Unglück beginne ich, meine Gefühle zu sortieren. Das stärkste Gefühl ist die Trauer, und die lässt sich nicht vertreiben. Trotzig breitet sie sich in meiner Seele aus. Sie wird erst sanfter, als ich mich um sie kümmere. Weinen tut gut. Was für ein Glück, dass Schmerz durch Tränen leichter wird. Die Psalmen zu lesen, tut gut. Welch ein Glück, dass ich mir die Worte von anderen leihen kann, dass ich klagen und sogar Gott anklagen darf.

Ich höre fromme Sprüche: „Gott mutet dir nicht mehr zu, als du tragen kannst. Gott weiß, wozu das gut ist.“ Ich erwidere: „Ihr habt keine Ahnung!“ Unglückliche Menschen brauchen keine Ratschläge, um den tieferen Sinn für ihr Schicksal zu verstehen. Sie brauchen Mitgefühl und die Erinnerung, dass wir uns bei Gott bergen können.

Unglückliche Menschen brauchen keine Ratschläge, um den tieferen Sinn für ihr Schicksal zu verstehen. Sie brauchen Mitgefühl und die Erinnerung, dass wir uns bei Gott bergen können.

Wir können unter seine Flügel schlüpfen oder uns in seine Gewandfalten kuscheln. Was für ein Glück, dass es diese Bibelstellen gibt, die Sicherheit und Wärme ausdrücken.

Das Glück und die Tat

Ein Unglücklicher braucht Geborgenheit. Erst dann sortieren sich die komplizierten Gefühle wie Scham, Einsamkeit oder Verzweiflung. Das Leben ist anstrengend und mutet uns eine Menge zu. Ständig wird unser Glücklichsein torpediert: Unsicherheit, Sorgen und Ängste. Wäre dies … oder hätte das … oder könnte man doch jenes.

Ich lebe nicht im Moment, wenn ich mir überlege, was möglich sein könnte, wenn mein Mann noch leben würde oder wir mehr Geld hätten.

Plötzlich marschieren unsere Gedanken im Konjunktiv. Wäre. Hätte. Könnte. Ich lebe nicht im Moment, wenn ich mir überlege, was möglich sein könnte, wenn mein Mann noch leben würde oder wir mehr Geld hätten. Ein Sprichwort sagt: „Das Glück ist ein flüchtiger Vogel.“ Man könne das Glück nicht fangen oder festhalten, man kann es nur willkommen heißen.

Flatterhaftes Glück? Das passt nicht zu meiner Theologie und dem Gottesverständnis, dass Gott uns sieht, versteht und mitfühlt. Bibelverse verkünden: „Glücklich der Mensch, der sich auf Gott verlässt“ (Psalm 84,13) und „Ich darf Gott nahe sein. Das ist mein ganzes Glück“ (Psalm 73,28). Hier ist das Glück etwas, das man macht und tut. Das Glücklichsein wird mit Verben beschrieben und nicht als flüchtiger Vogel. Ich verlasse mich auf Gott oder ich bin in seiner Nähe – unabhängig von den Umständen.

Das Glück und das Paradox

Mein Leben verläuft anders als gedacht. Plötzlich ist nichts mehr so, wie es war. Der Lebensweg meiner Kinder wird ohne ihren Papa ein anderer sein. Meine Kinder werden ohne ihren Papa andere Dinge erleben als mit ihm.

Wenn mir das bewusst wird, trauere ich vorwärts. Ich beweine nicht nur das, was wir nicht mehr haben, sondern auch das, was nicht werden darf – weil der eine Mensch fehlt. Vergangenheit und Zukunft, Lachen und Weinen, Trauer und Freude, Zweifel und Glauben. Wir leben in einem Spannungsfeld. Ständig müssen wir unsere Umstände und damit verbundenen Gedanken und Gefühle ausbalancieren.

Es ist paradox, dass wir tiefe Trauer und großes Glück sogar zeitgleich empfinden können.

Es ist paradox, dass wir tiefe Trauer und großes Glück sogar zeitgleich empfinden können. Da ist dieses große Glück, dass ich zwei Söhne habe, die mich das Leben spüren lassen. Sie lachen, kuscheln, entdecken die Welt, formulieren erste Sätze und malen Krickelkrakel. Da ist diese tiefe Trauer, die mein Leben verlangsamt und es zusammenzurrt.

Das Schwere und das Leichte, Glück und Kummer existieren nebeneinander. Nur schwer sind die Verse auszuhalten: „Glücklich sind die Trauernden, denn sie werden getröstet werden. (…) Glücklich sind die Hungernden, denn sie sollen satt werden. (…) Glücklich sind die Friedfertigen, denn sie werden die Erde besitzen“ (nach Matthäus 5,4-7).

Da sind sie wieder, diese Gegensätze. Momentan herrschen mehr Autokraten als Friedfertige. Sie scheinen alles zu besitzen. Friedliche Demonstrationen für Menschenrechte mit Regenschirmen (Hongkong), mit Blumen (Belarus) oder ohne Kopftuch (Iran) werden niedergeprügelt. Wo sind denn Glück und Frieden?

Das Glück und der Sinn

Viktor Frankl sagte: „Wer ein Warum zum Leben hat, erträgt fast jedes Wie.“ Je sinnhafter unser Leben ist, umso glücklicher können wir sein. In meinem tiefsten Kummer bin ich vor allem eins: eine Mutter. Ich entdecke meine neuen Rollen als Freundin, Schwester und Autorin.

Ich werde nie einen Sinn darin sehen, dass mein Mann verstarb. Ich glaube nicht, dass es Gottes Plan war. Wenn andere Geschwister in einer großen Not einen Sinn entdecken, dann ist es ein ganz persönlicher Prozess. Man kann ihn nicht auf ein anderes Leben übertragen.

Mein neuer Lebensweg führt mich zu Menschen und Möglichkeiten. Eine Reise, ein Auftrag, eine Begegnung. Es schleicht sich ein Trotz in mein Leben – ein Lebenstrotz. Ich gebe auf, mich mit Familien zu vergleichen, die zwei gute Einkommen haben, sich Urlaube, Haus und Ausflüge leisten können.

Trotzig führe ich eine Patenschaft in Albanien weiter für eine Witwe mit vier Kindern. Sie haben noch weniger als ich. Ich habe Witwenrente, Kindergeld und Wohngeld. Plötzlich dämmert mir: Ich habe viel. Ich habe genug. Ich werde genügsam. Nein, ich werde nicht geizig, sondern freue mich aufrichtig an gebrauchten Dingen, Schnäppchen und Leihgaben.

Das Glück und die einfachen Dinge

Alte Menschen fühlen sich trotz Einschränkungen glücklicher als junge, denn sie müssen sich nicht mehr beweisen. Sie haben gelernt, den Moment wahrzunehmen: die Sonne auf dem Balkon, den Duft von Blumen, die Wolkenformationen am Himmel, die kleine Plauderei mit dem Postboten, den Gruß der Nachbarin, den leckere Eintopf. Das Glück sucht die Langsamkeit und den Moment.

Letztendlich schenken uns die alltäglichen Dinge einen Glücksmoment. Guter Schlaf oder genussvolles Essen machen glücklich. Auch das empfiehlt die Bibel. „Kauft euch alles, was ihr gern hättet … und was ihr euch sonst noch wünscht … feiert ein fröhliches Fest, esst und trinkt!“ (5. Mose 14,26).

Vielleicht ist das die eigentliche Lebenskunst: Gute Momente wahrnehmen und die kleinen Alltäglichkeiten genießen.

Vielleicht ist das die eigentliche Lebenskunst: Gute Momente wahrzunehmen und die kleinen Alltäglichkeiten genießen. Es gibt Zeiten, da tanzt das Glück durch unser Leben und dann gibt es Wochen und Monate voller Kummer. Zu wissen, dass beides sein kann und sich beidem zu stellen, ist glaubensmutig, hoffnungsstark und zweifeltrotzig. Tiefer Kummer und großes Glück. Sie wechseln sich ab – so war es schon immer gewesen, denn alles hat seine Zeit (Prediger 3,1).
 

 Susanne Ospelkaus

Susanne Ospelkaus

  |  Freie Mitarbeiterin

Susanne Ospelkaus, Jahrgang 1976, Mutter von zwei Söhnen. Sie ist gelernte Ergotherapeutin, arbeitet jetzt als Autorin und Dozentin für pflegerische und pädagogische Berufe. Nach dem Tod ihres ersten Mannes hat sie wieder geheiratet und lebt mit ihrer Familie östlich von München.

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