
22.05.2018 / Interview / Lesezeit: ~ 7 min
Autor/-in: Martina EibachDie Angst im Nacken
Wie kommt es zu einer Angsterkrankung und was kann man dagegen tun? Ein Interview mit Psychotherapeut Thomas Wübbena.
Angst hat jeder einmal. Doch für Menschen mit einer Angsterkrankung wird die Angst zum alltäglichen Begleiter und bestimmt plötzlich das ganze Leben. Psychotherapeut Thomas Wübbena klärt im Interview über Angststörungen auf und gibt Tipps, wo Betroffene Hilfe finden können.
ERF: Wie verbreitet sind Angsterkrankungen?
Thomas Wübbena: Im psychiatrischen Bereich gehören Angsterkrankungen zu den häufigsten Erkrankungen überhaupt. Etwa 25 Prozent aller Menschen entwickeln im Lauf des Lebens eine Angsterkrankung, die behandlungsbedürftig ist. Frauen sind ein bisschen häufiger betroffen als Männer.
Jeder Mensch kann eine Angststörung bekommen
ERF: Sind Menschen, die von ihrem Typ eher etwas ängstlich sind, anfälliger als andere?
Thomas Wübbena: Es gibt das Vorurteil, dass Menschen mit seelischen Erkrankungen vorher schon immer etwas instabil waren. Und das stimmt einfach nicht. Jeden Menschen - aus jeder Altersschicht und jeder sozialen Schicht - kann grundsätzlich eine seelische Erkrankung treffen.
ERF: Gibt es trotzdem spezifische Auslöser einer Angsterkrankung?
Thomas Wübbena: Das ist noch relativ ungeklärt. Man weiß, dass es eine genetische Komponente gibt. In der Regel sind es dann belastende Lebensfaktoren, die zum Ausbruch der Erkrankung führen. Das kann ein Todesfall, eine schwere Erkrankung, eine Trennung oder Arbeitslosigkeit sein.
Allerdings hat in der Regel die Art der Krankheit sehr wenig zu tun mit den Dingen, die die Angst ausgelöst haben. Man muss sich diese belastenden Lebensbedingungen als allgemeinen Stressor vorstellen, der einen Risikofaktor für verschiedene Erkrankungen darstellt. Und wir wissen nicht, warum der eine Mensch eine Angststörung, der andere eine Depression und der nächste eine Suchterkrankung und ein weiterer keinerlei Probleme entwickelt.
ERF: Welche verschiedenen Angsterkrankungen gibt es?
Thomas Wübbena: Es gibt die spezifischen Phobien. Hier handelt es sich um objektbezogene Angst: Angst vor Höhe, vor Tieren oder vorm Fliegen uvm.
Dann gibt es Panikattacken bzw. die Panikstörung. Das sind Situationen, in denen bei Betroffenen punktuell innerhalb von wenigen Minuten aus dem Nichts Todesangst auftaucht. Diese Attacken dauern von wenigen Minuten bis wenigen Stunden.
Außerdem gibt es noch die generalisierte Angststörung, wo eher das Sorgen an sich und Alltagsängste im Mittelpunkt stehen. Es handelt sich um Situationen, die jeder kennt, nur das Ausmaß ist bei Betroffenen ein ganz anderes. Im Durchschnitt beschäftigen sich diese Patienten sechs Stunden pro Tag mit Angstthemen und Sorgen.
Die Angst vor der Angst
ERF: Phobien und Panikstörungen, davon hat man schon öfters gehört. Weniger bekannt scheint die generalisierte Angststörung. Was zeichnet sie aus?
Thomas Wübbena: Zwei Aspekte. Einerseits dass Betroffene sich ständig und über alles Sorgen machen. Die Angst kann sich auf alles und jeden beziehen. Manche Patienten sagen: „Wenn ich mit dem einen abgeschlossen habe, findet meine Angst ein neues Objekt, auf das sie sich bezieht. Es ist in der Regel nicht ein einziges Thema, das Angst macht – wie etwa bei der Phobie. Sondern die Angst ist allumfassend und beschäftigt den Patienten in allen Lebensbereichen, die man sich vorstellen kann. Man macht sich im Grunde um jede Kleinigkeit Sorgen: Die Kinder, den Partner, den bevorstehenden Umzug, die Finanzen und anderes mehr.
Der zweite Aspekt sind die Metakognitionen. Damit ist gemeint, dass man sich Sorgen über die Sorgen macht. Man hat Angst, über den Sorgen verrückt zu werden oder diese nie loszuwerden. Oder man sorgt sich, dass die ständigen Sorgen dem eigenen Körper schaden.
ERF: Welche Folgen haben diese zwei Aspekte für Betroffene?
Thomas Wübbena: Daraus ergeben sich dann meist auch körperliche Beschwerden wie Schlafstörungen, innere Anspannung, Kopfschmerzen, Übelkeit und ähnliche Symptome. Diese Beschwerden führen Betroffene dann zum Hausarzt. Dieser untersucht sie und stellt fest: „Alles prima.“ Vorübergehend ist der Patient dadurch beruhigt, aber letztlich kommt die Angst schnell wieder, weil die eigentliche Erkrankung nicht erkannt wurde.
Angstpatienten suchen emotionalen Begleitschutz
ERF: Angst oder auch Sorgen sind erstmal ein normales Phänomen, das jeder von uns kennt. Ab wann wird es krankhaft?
Thomas Wübbena: Es gibt keine exakte Grenze zwischen krank und gesund. Das hängt vor allem am Leidensdruck des Patienten. Es gibt Menschen, die eine sehr hohe Bereitschaft haben, mit Ängsten zu leben, und es gibt andere, die schon bei relativ kleinen Befindlichkeitsstörungen einen Arzt auftauchen. Das ist sehr subjektiv.
Manchmal können es auch Lebensumstände sein, die in der Beurteilung etwas ändern. Wenn ich zum Beispiel Angst vorm Fliegen habe, dann kann ich die Situation normalerweise ganz gut umgehen, indem ich meinen Urlaub nicht in Übersee buche, sondern in Deutschland. Wenn ich plötzlich beruflich aber einmal in der Woche nach London fliegen muss, kann dieses Symptom ‒ das vorher keine Bedeutung hatte ‒ Krankheitswert bekommen.
ERF: Gibt es typische Verhaltensweisen, an denen man Menschen mit Angsterkrankungen erkennt?
Thomas Wübbena: Ein typisches Phänomen von Angststörungen ist, dass man immer jemand als Begleitschutz dabei hat. Wenn jemand mit mir geht oder die Situation mit mir erlebt, geht es mir besser. Menschen mit Angsterkrankungen suchen auch immer wieder die Vergewisserung. Sie sagen sich selbst oder wollen von anderen hören: „Alles ist in Ordnung! Es wird nichts schiefgehen!“
Dieser Aspekt ist zwar verständlich aber leider etwas, das die Erkrankung aufrecht erhält. Denn diese Vergewisserungen entlasten zwar vorübergehend, sind aber im Grunde auch tückisch. Denn der Mensch wird nicht gezwungen, sich der Angst zu stellen, sondern greift immer wieder auf diese Beruhigung zurück. Der Effekt ist ähnlich dem einer Beruhigungspille.
ERF: Wie kann man als Angehöriger oder Freund dem Patienten zur Seite stehen?
Thomas Wübbena: Zunächst sollte man sich klar machen, dass mein Angehöriger viele gesunde Anteile hat, die es anzusprechen gilt. Er ist ja nicht die Angst, sondern hat eine Angsterkrankung. Dann kann man sich informieren, hier insbesondere über gute Literatur. Dadurch kann man unter anderem Vermeidungsstrategien besser erkennen, sich hier weniger einbinden lassen sowie Hoffnung auf Veränderung machen. Letztere ist ja im Rahmen einer Behandlung sehr häufig zu erreichen.
Gerade in Partnerschaften bilden sich häufig ungute Abhängigkeitsstrukturen heraus. Hier gilt es, sich vorsichtig wieder daraus zu lösen und zum Beispiel den „Begleitschutz“ zu reduzieren. Nicht selten verändert sich aber dadurch auch die Beziehungsdynamik. Der bisher „Schwache“ wird plötzlich wieder selbständiger und selbstbewusster.
Konfrontation mit der Angst hilft
ERF: Was sollte man tun, wenn man das Gefühl hat „Das trifft meine Situation“? Wo findet man schnell Hilfe?
Man sollte sich einen kompetenten Psychiater oder Psychotherapeuten suchen. Die Ausrichtung der Psychotherapie sollte bei Angsterkrankungen verhaltenstherapeutisch sein. Eine gute Übersichtsseite mit vielen Tipps und Hintergrundinformationen im Internet ist www.panikattacken.at.
ERF: Wie sind die Heilungschancen, speziell bei einer generalisierten Angststörung?
Thomas Wübbena: Obwohl die Prognose von allen Angsterkrankungen recht gut sind, kommen die Patienten in der Regel mit einer gewissen Resignationshaltung. Denn im Durchschnitt dauert es bei einer generalisierten Angststörung zehn Jahre, bis man überhaupt erst in Behandlung kommt. Dann haben die Patienten oft kaum noch Hoffnung, dass sich an ihrer Situation etwas ändern kann. Ein wesentlicher Bestandteil im Rahmen der Behandlung ist daher zunächst, dass die Betroffenen merken: „Ich bin nicht der Einzige, dem es so geht. Da kennt jemand meine Erkrankung und dieser Jemand geht davon aus, dass meine Situation verbessert werden kann.“
ERF: Welche Therapiemöglichkeiten gibt es?
Thomas Wübbena: Es gibt verschiedene Bausteine der Therapie. Zum einen die Psychoedukation, also die Information über die Erkrankung. Der Patient lernt, dass seine Beschwerden von einer Angsterkrankung stammen. Er lernt Auslöser kennen, aufrechterhaltende Faktoren und Behandlungsansätze.
Zum anderen ist die Konfrontation mit Sorgen und Ängsten wichtig. Man geht nämlich davon aus, dass das Sorgen selbst eine Art Vermeidungsstrategie von Ängsten ist. Ich habe als Betroffener die Vorstellung: „Wenn ich mich sorge, passiert das auch nicht beziehungsweise ich kann so verhindern, dass es passiert.“ Das ist eine Art magischen Denkens.
Genau da setzt man an. Man konfrontiert die Patienten mit ihren Ängsten. Bei allen Erkrankungen, die aus dem Angstspektrum kommen, wollen die Menschen gerne um die Angst herumkommen, aber leider funktioniert das nicht. Erst in dem Augenblick, wo ich bereit bin, mich der Angst zu stellen, Ängste zu erleben und sie zu akzeptieren, kann es mir gelingen, die Angst zu überwinden.
ERF: Was könnte darüber hinaus den Heilungsprozess unterstützen?
Hier wäre einerseits die sogenannte „angewandte Entspannung“ nach Lars-Göran Öst zu nennen. Dann habe ich selber sehr gute Erfahrungen mit dem Achtsamkeitstraining gemacht und biete hier auch Kurse an. Nicht zuletzt natürlich auch die medikamentöse Behandlung. Hier kommen vor allem Serotoninwiederaufnahmehemmer mit gutem Erfolg zum Einsatz. Leider werden immer noch zu häufig Benzodiazepine verordnet, die zwar kurzfristig helfen, langfristig aber gerade bei Angstpatienten zu Abhängigkeiten führen.
ERF: Wie lange dauert der Heilungsprozess?
Thomas Wübbena: Die Dauer einer Behandlung ist bei Phobien und Panikerkrankungen deutlich kürzer als bei der generalisierten Angststörung. Da können wir schon nach wenigen Wochen sehr gute Effekte erzielen. Bei der generalisierten Angststörung dauert das häufig länger ‒ allein schon wegen der Chronifizierung. Aber nach anderthalb Jahren Behandlungszeit kann man deutliche Erfolge erreichen. Zwar sind die ersten Erfolge häufig schon nach mehreren Wochen sichtbar. Aber es dauert lange, bis sich diese stabilisiert haben.
ERF: Vielen Dank für das Gespräch*.
*Das Interview mit Psychotherapeut Thomas Wübbena haben wir 2014 geführt.
Ihr Kommentar
Kommentare (9)
Wo bleibt in diesem Artikel Jesus? Ist er nicht der Fels auf den wir bauen, AUF dem wir mit ihm meditativ sitzen, und UNTER dem wir die Panik und Angst mit ihm zusammen erleben? Wo bleibt der Hinweis, dass wir mit ihm meditativ "zusammenarbeiten" sollen?
Danke ..... ich habe eine ganz eigene Geschichte die zum Thema "Angst" passt.
Es ist eine sehr lange Geschichte.
Ich habe seit Babyalter an ADHS und diese Diagnose erhielt ich Anfang 2018 bei … mehreinem Rehaaufenthalt in Bad Camberg. Da die ADHS so spät entdeckt wurde, haben sich eine mittelgradige Depression, ein Tinnitus, eine Angststörung, als Folgeerkrankung hinzugesellt.
Vielleicht währe es wie eine Therapie in schriftlicher Form.
Hallo Ihr lieben,
Auch ich hatte mit panikattacken zu tun.
Ehrlich die waren sehr extrem(für mich zumindest), mit Magen-darm und Schüttelfrost.
Mit Gottes Hilfe, einem Pfarrer und dem … mehrPsychotherapeut bin ich nach 4 Jahren ohne ärztliche Behandlung.
Das geniale ist das ich getragen wurde ohne das ich es spürte, aber Gott hat mich begleitet mit dem ERF, dem Seelsorger und auch mit dem Arzt.
Ich bin so dankbar das es soviele Menschen gibt die sich Gott zur Verfügung stellen um anderen zu helfen um zu ihm zu finden.
Gott segne Euch.
@Ivan:
Wer sich nicht die Mühe macht, Artikel, die das eigene Weltbild möglicherweise nicht bestätigen, zu Ende zu lesen, kann leider nichts Neues lernen. Psychotherapie und das Vertrauen auf Gottes … mehrHilfe schließen sich übrigens nicht gegenseitig aus. Viel eher glaube ich, dass Gott einen solchen Prozess wohlwollend begleitet. Was wäre er für ein Gott, der mit einem Fingerschnipp alle Probleme auflösen würde (Stichwort: "Dinge wegbeten"), damit wir frei davon sind? Woran könnten wir dann wachsen, wie unsere Stärke und Selbstachtung schätzen lernen? Der Mensch ist nicht dazu bestimmt, passiv zu sein, sondern auch aktiv sein eigenes Leben mitzugestalten. Therapie kann helfen, Probleme selbst zu lösen. Gerne mit Gottes Begleitung. Ich jedenfalls glaube nicht an einen Gott, der uns vorm Leben beschützt, alles Leid für uns auflöst und uns nicht zutraut, an der selbst erarbeiteten Lösung unserer Ängste und Probleme wachsen zu können. Zu behaupten, einzig Gebet und das Hinwenden zum Glauben würden helfen ist erstens unwahr und klingt zweitens in den Ohren der Betroffenen zynisch. Auf diesem Wege verschließen Sie Herzen eher, als dass Sie welche gewinnen.
Mit besten Grüßen
auch ich bin durch die lektuere dieses artikels etwas befremdet: verhaltenstherapie, medikamente, lehre, wie ich aus der situation das beste mache. aber eigentlich liegt doch die genese dieser … mehrerkrankungen total im dunkeln. was unterscheidet uns christen eigentlich noch von der welt? haben wir einen grossen Gott oder trauen wir Ihm nix zu? nach mehr als 5 jahren kassenfinanzierter psychotherapie gegen depressionen bin ich sie samt den angstattacken beim befreiungsdienst in meiner gemeinde losgeworden. das klappte auch nicht sofort, sondern war ein prozess - aber ein sehr nachhaltiger und wirksamer. und es hat meine beziehung zu Jesus vertieft, weil ich Ihn in aktion erleben durfte. was passiert denn mit meiner Gottesbeziehung, wenn Gott nicht groesser ist als meine leiden? ich masse mir keinen absolutheitsanspruch an. moechte aber schon zum nachdenken anregen.
Bitte senden Sie mir das Buch über die generalisierte Angst zu. Ich kenne jemanden, dem die Lektüre sehr hilfreich sein könnte.
@Christoph: Mir machen seit vielen Jahren ebenfalls immer wieder Zwangsgedanken zu schaffen. In der Zwischenzeit geht es mir nach vielen seelsorgerlichen Gesprächen, Gebet und intensiver … mehrBeschäftigung mit der Thematik deutlich besser. Ein Satz von Dr.med. Samuel Pfeifer hat mich damals sehr erleichtert: "Wenn eine zwangskranke Person über ihre schrecklichen Gedanken klagt, so sind diese nichts anderes als das negative Abbild ihrer tiefsten Wünsche und Sehnsüchte. [...] ihre zwanghaften Zweifel nur ein krankhafter Ausdruck ihres tiefen Glaubens. Gerade die zwanghaften Zweifel zeigen die tiefe Sehnsucht nach Gott. Gerade die obszönen Gedanken zeigen die Sehnsucht nach einem reinen Denken."
Ich wünsche dir, dass du einen Seelsorger findest mit dem du solche Sachen besprechen und dafür beten kannst!
Gott segne dich!
Ich habe diesen Stoff gar nett gelesen, na ja typisch deutsch, vertiefen, vertiefen in was....?
Wir sollen doch von der Groesse Gottes reden und nicht von der Untaten des Feindes! Nur so werden wir … mehrmutig, und dabei hilft keiner Psychotherapeut..., nur der Glaube an Jesus! Ansonsten real gesehen heutzutage in dieser verwirrten Zeit braucht jeder einer Psychologe, aber als Glaubige suchen wir den besten Psychologe unserer Seele- Jesus naemlich!
Bis dem naechst, mit Liebe und Respekt
God bless
Ich bin so dankbar, dass Gott in letzter Zeit über ihr Angebot genau die Dinge behandelt, die mich so beschäftigen. Ich leide seit einiger Zeit an einer Angststörung. Los ging es mit Panikattacken … mehrund später kamen Zwangsgedanken dazu. Zur Zeit habe ich mit meinem Glauben zu kämpfen. Ich hab das Gefühl derzeit in einer riesig großen Anfechtungswelle zu stecken. Ich bin Gott dankbar, dass er mir durch Sie immer wieder mut macht!