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22.08.2014 / Interview / Lesezeit: ~ 8 min

Autor/-in: Claas Kaeseler

„Sexuelle Gewalt kann nie ganz verhindert werden“

Wie das Risiko von Missbrauch verringert werden kann. Ein Gespräch mit Christian Rommert.

 

Über 13.000 Kinder haben laut Bundeskriminalamt 2013 sexuelle Gewalt erlitten. Die Dunkelziffer liegt vermutlich deutlich höher. Statistiken legen nahe, dass jede vierte Frau und jeder siebte Junge im Laufe des Lebens von sexuel­ler Gewalt betroffen ist. Grund genug, dem Thema auf den Grund zu gehen. Wir haben mit Pastor Christian Rommert gesprochen. Er ist Berater und Referent für Kinderschutz und hat die Kampagne „Sichere Gemeinde“ des Gemeindejugendwerk im Bund Ev. Freikirchlicher Gemeinden mit initiiert.
 

ERF: Laut BKA haben 13.647 Kinder im Jahr 2013 sexuelle Gewalt erlitten. Das sind 37 Kinder jeden Tag. Was könnten Gründe dafür sein?

Christian Rommert: Es wird so lange Missbrauchsfälle geben, wie es Täter gibt, die das Bedürfnis haben, Macht ausüben und Machtgefälle für sich und die Befriedigung ihrer Bedürfnisse auszunutzen. Sei es, um ihre Position zu stärken oder um Kinder einzuschüchtern.
 

ERF: Sie haben den Begriff „Machtgefälle“ benutzt. Geht es bei sexueller Gewalt weniger um die sexuelle Befriedigung, als vielmehr um den Rausch des Machtgefühls?

Christian Rommert: Das ist richtig. Den meisten Tätern geht es nicht um ein sexuelles Bedürfnis, sondern darum ihr Machtbedürfnis zu befriedigen. Sexualität ist das Intimste, was man sich vorstellen kann. Deshalb zielen die Versuche der Machtbefriedigung besonders auf diesen sensiblen Bereich unserer Persönlichkeit. Es kommt zu sexueller Gewalt an Kindern durch das Machtgefälle zwischen Erwachsenem und Kind.

Offene Kommunikation mit Kindern kann Missbrauch verhindern

ERF: Woher kommen die Täter üblicherweise?

Pastor und Referent Christian Rommert
(Bild: privat)

Christian Rommert: In 90 Prozent der Fälle sind es männliche Täter: der Vater, Onkel, aber auch der Fußballtrainer oder der Pastor in der Gemeinde. Ansonsten kommen die Täter aus allen gesellschaftlichen Schichten und Bereichen des Lebens. Es gibt keine Gruppe, die besonders aktiv wäre. Ein großer Mythos ist der Glaube, dass man einen Täter anhand bestimmter Dinge zweifelsfrei identifizieren kann oder dass er aus einer gewissen sozialen Schicht kommt. In über 70 Prozent der Fälle ist es so, dass der Täter aus dem näheren Familienkreis kommt. Dass jemand mit Schokolade ein Kind ins Auto lockt – das ist die Ausnahme.
 

ERF: Gibt es Warnzeichen, auf die Eltern achten können?

Christian Rommert: Ja. Ein ernstzunehmendes Zeichen ist, wenn ein Kind eine bestimmte Person nicht besuchen will oder es sich in der Gegenwart dieser Person besonders auffällig verhält. Das könnte weinen sein oder die Bitte, die Person nicht zu besuchen. Oder wenn das Kind sich nach verschiedenen Besuchen verändert.

Laut Statistik finden die Opfer durchschnittlich erst bei jeder 7. Person Hilfe. In der Regel testet ein Kind, ob es mit den Eltern darüber sprechen kann. Deshalb ist es absolut notwendig, dass in der Familie offene Kommunikation herrscht. Wenn ich das jeden Tag übe und präge, kommt es in der Familie nicht zu einem Machtgefälle. Dadurch öffnen sich die Kinder und können über ihre Erfahrungen sprechen.

Danach ist es sinnvoll, mit dem Partner und anderen Eltern darüber zu sprechen. Stellen sie ein Netzwerk her und bringen sie in Erfahrung, ob vielleicht andere ein ähnliches Gefühl haben.
 

ERF: Gibt es Hinweise, die auf einen Täter schließen lassen?

Christian Rommert: Zunächst wäre ich sehr vorsichtig mit Mutmaßungen, damit nicht der Ruf unschuldiger Menschen zerstört wird. Täter sind Menschen, die auch in anderen Lebensbereichen mit der Machtthematik nicht zurechtkommen. Entweder manipulieren sie, üben Macht aus oder sind in Diskus­sionen sehr rigoros. Solche Dinge fallen immer wieder auf. Aber das lässt natürlich nicht direkt darauf schließen, dass so eine Person auch im sexuellen Bereich Gewalt ausübt.

Häufig gelten Täter als besonders kinderlieb und Kindern sehr zugewandt. Aber auffällig ist, wie sie immer wieder versuchen, einzelne Kinder zu isolieren und ihnen das Gefühl zu geben, dass sie etwas Einzigartiges und Besonderes sind. Sie machen beispielsweise Geschenke, testen verschiedene Rituale an und schauen dann, wie das Kind darauf reagiert. Wenn ich als Mitarbeiter merke, dass jemand immer wieder die Vier-Augen-Situation sucht und sich nicht an Regeln hält, sollte ich aufmerksam werden.

Im Verdachtsfall Fakten dokumentieren

ERF: Was sind sinnvolle nächste Schritte, wenn ich konkret Verdacht hege?

Christian Rommert: Zuerst einmal Ruhe bewahren. Häufig erstrecken sich missbräuchliche Beziehungen über Jahre hinweg. Das Opfer hat Wege gefunden, in diesem System zu überleben. Damit will ich deutlich machen: Es kommt nicht auf eine Stunde und auch nicht auf einen Tag an, sondern darauf, überlegt zu handeln. Das Wichtigste ist dabei aus meiner Sicht, ein Netzwerk herzustellen. Also mit anderen über das Bauchgefühl sprechen. In meiner Funktion als Pastor war es auch sehr hilfreich, Verbindung zu öffentlichen Einrichtungen herzustellen. Man sollte also nicht erst mit dem Jugendamt Kontakt aufnehmen, wenn es einen akuten Fall gibt, sondern schon vorher.

Ein weiterer wichtiger Schritt ist, sich Feedback zu holen. Dabei sollte man auf sein Bauchgefühl achten. Dokumentieren sie, was sie wahrnehmen. Schreiben sie Ort und Zeit auf. Was genau haben sie gesehen? Was waren die Fakten? Es ist sehr wichtig, das aufzuschreiben, um hinterher rekonstruieren zu können: „Mensch, da gab es schon mal was vor drei Jahren.“ So steht es in den Unterlagen und man kann Zusammenhänge erkennen, ohne wichtige Details zu vergessen.

Wenn man aktiv werden muss, würde ich davon abraten, das Opfer selber zu konfrontieren, das Gespräch zu suchen oder in sein Gewissen einzudringen. Ich würde eher nachfragen: „Wie ist das? Ich habe etwas wahrgenommen. Kannst du darüber sprechen? Ich möchte gerne aktiv werden. Ich kann das nicht länger beobachten und mit anschauen.“ Den Rest des Verfahrens würde ich dann mit dem Jugendamt, dem Kinderschutzbund und ähnlichen Einrichtungen abstimmen.
 

ERF: Das kann auch bedeuten, zur Polizei zu gehen und einen Verdacht zu äußern. Ab wann ist dieser Schritt angemessen?

 

Christian Rommert: Das kommt darauf an, wie massiv ich die Dinge wahrnehme und wie groß die Kindes­wohlgefährdung ist. Bei kleinen Kindern oder heran­wachsenden Teenagern würde ich schneller aktiv werden. Das Jugendamt informieren. Die Polizei einschalten. Dort kommt es auch nicht sofort zu einer Vorverurteilung. Es gibt erst mal ein langes Verfahren, um die Vorwürfe zu prüfen. Man muss sich also nicht schuldig fühlen, wenn man etwas sagt. Die Verantwor­tung, den Wahrheitsgehalt zu überprüfen, liegt bei der Polizei.

Ich würde davon abraten, mit kleineren Kindern selber zu sprechen. Das sollte man Profis überlassen! Bei volljährigen Opfern, die mit 18, 19 Jahren noch in missbräuchlichen Beziehun­gen stecken, gilt das weniger. Da ist es sinnvoll, sich mit dem Opfer über das weitere Vorgehen abzustimmen und keine Schritte über den Kopf des Opfers hinweg zu unternehmen. Sonst besteht die Gefahr, dass es sich erneut missbraucht fühlt, wenn jemand gegen seinen Willen aktiv wird.

Aus meiner Sicht ist die juristische Seite aber nur ein kleiner Aspekt des ganzen Systems. Oberstes Ziel muss sein, dass das Opfer mit seiner Vergangenheit leben lernt und Stärke für die Zukunft entwickelt. Häufig geht die ganze Energie in ein Verfahren und Zeugenaus­sagen und das ist sehr aufreibend und verletzend.

Geholfen wird einem Opfer eher durch einen thera­peutischen Prozess, durch gute Begleitung. Es hilft dem Opfer natürlich, wenn jemand verurteilt wird. Aber leider werden viel zu oft Verfahren eingestellt. Das ist dann sehr er­nüch­ternd für die Opfer, die alle Hoffnung auf den juristischen Prozess gelegt haben. Wirklich helfen kann nur ein therapeutischer Prozess – ein gemeinsames Begleiten durch die Krise hindurch.

Gute und schlechte Geheimnisse

ERF: Wie kann ich mein Kind davor schützen, in ein miss­bräuchliches Verhältnis hineinzurutschen?

Christian Rommert: Man muss Kinder stark machen. Und zwar in den vielen kleinen Situationen des All­tags. Man muss ihnen beibringen, dass Erwachsene Fehler machen und ihnen trotz des Wissensvorsprungs auf Augenhöhe begegnen.

Kinder, die in einem solchen Machtgefälle aufwachsen oder zuhause nicht viel Liebe und Zuwendung oder sogar körperliche Gewalt erfahren, sind anfälliger. Sie lernen, dass Erwachsene immer Recht haben und sich durchsetzen – wenn nötig auch mit Gewalt. Sie sind viel anfälliger für Täter, die zunächst ganz viel Liebe, Sympathie, Zuwendung und auch Zärtlichkeit ausdrücken. Genau damit bauen sie aber ihr missbräuchliches System auf.

Man kann den Kindern beibringen, dass es gute und schlechte Geheimnisse gibt. Ein Weihnachtsgeschenk geheim zu halten ist es ein gutes Geheimnis. Wenn mir aber jemand sagt: „Wenn du das und das verrätst, tut Mama sich was an oder bringe ich mich um.“ Das sind Geheimnisse, die Bauchschmerzen machen. Ich kann in Kirchen, Vereinen und Schulen eine Kultur prägen, in der nur die „lieben“ Kinder Wertschätzung erfahren. Oder ich präge eine Kultur, in der auch Kinder wertgeschätzt werden, die mal „Nein“ sagen, die lauter sind oder sich abgrenzen können.

Es ist in erster Linie eine Kulturfrage, wie in Familien oder pädagogischen Einrichtungen Umgang mit Kindern leben. Überall da, wo Machtgefälle aufgebaut und Kinder mit Macht und Gewalt zum Schweigen gebracht werden, werden Kinder anfällig sein für sexuelle Gewalt.

Gemeinden sind besonders gefährdet

ERF: Sie haben es schon angesprochen. Auch in Gemeinden existieren Machtmissbrauch und sexuelle Gewalt vor. Wie kommt es dazu?

Christian Rommert: Ich glaube nicht daran, dass Kirchen und Gemeinden sicherer sind. Das Problem ist häufig, dass Täter ganz gezielt Räume suchen, die unsicher sind und ihnen die Chance geben, über­griffiges Verhalten zu leben. Aus meiner Sicht erleichtern einige Faktoren in Gemeinden es den Tätern sogar, übergriffig zu sein. Dazu gehört zum Beispiel die Gehorsams­pflicht nach dem Motto: „Nur parierende Kinder sind liebe Kinder.“ Da wird stark mit biblischen Geboten argumentiert. Für mich missbraucht man die Gebote, wenn man Gehor­samspflicht einfordert.

Wenn Sie Fragen haben oder Hilfe brauchen:

Bundeszentrale des Weißen Kreuzes e.V.Weißes-Kreuz-Straße 3
34292 Ahnatal/ Kassel
Telefon: 05609 83 99-0
Telefax: 05609 83 99-22
Internetadresse www.weisses-kreuz.de
E-Mail

Vor allem für den freikirchlichen Bereich gilt aus meiner Sicht noch ein weiterer Punkt: dort herrschen häufig sehr familiäre Struk­turen. Das ist eine große Stärke dieser Gemeinden. Dort vertraut jeder jedem. Deswegen kann sich keiner vorstellen, dass dort so etwas passiert. Doch das schafft eine gewisse Sicherheit für die Täter. Die sondieren und schauen ganz konkret bei Organisationen: Wie groß ist die Gefahr, dass meine Tat aufgedeckt wird. Organisationen, die nicht über dieses Thema sprechen, sind anfälliger für sexuelle Gewalt als solche, die das enttabuisiert haben.

Missbrauch kann nie ganz verhindert werden

ERF: Nehmen wir an, eine Gemeinde schafft es, missbräuchlichen Strukturen aufzudecken und abzuschaffen. Kann Missbrauch in ihren Mauern dadurch verhin­dert werden?

Christian Rommert: www.sichere-gemeinde.de ist eine Website des Gemeindejugendwerks im Bund Ev. Freikirchlicher Gemeinden mit vielen Hinweisen auf Materialhefte. Dann wäre da noch der Kinderschutzbund. Ursula Enders „Zart war ich, bitter war‘s“ ist ein Standartwerk zum Thema. Es ist auch sinnvoll, Beratungsangebote in Anspruch zu nehmen. Da gibt es viele aktive Leute. Ich gehöre auch dazu.
 

ERF: Vielen Dank für das Gespräch.

 

 Claas Kaeseler

Claas Kaeseler

  |  Formatleiter ERF Jess Talkwerk / Online Marketing Manager

Ist in Wesel geboren und hat im ERF sowohl im Marketing, als auch in der Redaktion gearbeitet. Hat nach dem TV-Volontariat als Fernsehredakteur und Redaktionsleiter Online gearbeitet und danach die Webseite und das Online-Marketing des ERF verantwortet. Anfang 2023 erfolgte die Rückkehr in die Redaktion, wo er für das Format ERF Jess Talkwerk zuständig ist. Seit 2016 verheiratet und stolzer Vater des tollsten Sohns der Welt. 

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Kommentare (3)

Moni /

Bitte bringt den Menschen heute bei, das auch ein Kind das Recht hat Nein zu sagen gegenüber der Familie und älteren Geschwistern. Ich bekam nur zu hören, egal wer aus der Familie was zu Dir sagt, du hast nur zu gehorchen sonst nichts. Ich Schäme mich für das was Geschehen ist.

Christian Rommert /

Lieber Ingo T.,
vielen Dank für Ihr Interesse an den Fragen des Kindesschutzes. Ja, es ist ein wichtiges Thema! Vielen Dank für Ihr Feedback!
Viele Grüße
Christian Rommert
www.leitungskunst.de

Ingo T. /

Prima Beitrag. Bitte halten sie das Thema regelmässig auf dem Radar. Es wird immer wieder Leute geben die es hören müssen und Anregungen bekommen, wie man Schutz in Gemeinden umsetzt und wie man Opfern helfen kann. Gottes Segen, Ingo.

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