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© Humble Lamb / unsplash.com

16.10.2025 / Serviceartikel / Lesezeit: ~ 9 min

Autor/-in: Rebecca Schneebeli

Lesen, beten, verweilen

Wie du mit der Lectio divina Neues in altbekannten Bibeltexten entdeckst. Eine Schritt-für-Schritt-Anleitung.

Kennst du das? Du willst beten, aber deine Gedanken schweifen dauernd ab. Dein Blick huscht aufs Handy oder die Uhr, weil du noch so viel zu tun hast. Vielleicht schaffst du es einige Bibelverse konzentriert zu lesen, aber du entdeckst nichts Neues darin und schnell schlägst du die Bibel wieder zu.

So geht es mir oft, wenn ich versuche, Stille Zeit zu machen. Dabei finde ich in der Bibel ganz andere kraftvolle Begriffe für das Bibellesen. Dort wird Gottes Wort als Nahrung beschrieben (vgl. Matthäus 4,4) oder an anderer Stelle als Schwert, mit dem ich mich gegen Angriffe schützen kann (vgl. Epheser 6,17).

Wie wäre es für dich, die Bibel und das Lesen darin neu zu bewerten? Wie ein Treffen mit einem Freund oder einer Freundin: Du hörst zu, du fragst nach, nimmst einen Gedanken mit in deinen Tag – und kommst gerne wieder.

Was müsste passieren, damit du Bibellesen so wahrnehmen könntest?

Die Bibel neu entdecken – ist das möglich?

Für mich ist klar: Die Worte der Bibel, die ich als Pastorentochter schon seit Kindertagen kenne, müssten sich mir auf neue Weise erschließen, damit ich wieder mit mehr Freude in der Bibel lese. Denn oft erscheinen mir Bibeltexte wie ein leergefischter See. Der See ist mir wohl vertraut, aber ich ziehe daraus keine neue Nahrung mehr. 

Heißt das, dass das klassische Bibellesen irgendwann automatisch langweilig wird, wenn ich die Bibel schon sehr gut kenne? Das muss nicht so sein. Immer wieder hat es mir in meiner Stillen Zeit geholfen, eine neue Methode des Bibellesens oder sogar ganz andere Formen der Stillen Zeit wie etwa meditatives Gebet auszuprobieren. Aber es gab und gibt auch Durststrecken. Das ist normal.

Die Lectio divina als Boost für dein Bibellesen

Wenn du dich gerade in einer solchen befindest, möchte ich dir eine uralte Form des Bibellesens vorstellen: Die Lectio divinia. Lectio divina bedeutet übersetzt „göttliches Lesen“ und besteht aus vier Schritten: dem Lesen eines Bibeltextes (lectio), dem intensiven Betrachten dieser Stelle (meditatio), dem Gebet (oratio) und dem Verweilen in der Gegenwart Gottes (contemplatio). 

Die Lectio divina entstand in der mittelalterlichen Kirche und wurde im Mönchtum gepflegt. Ignatius von Loyola, der Gründer der Jesuiten, griff diese betende Lesung auf und vertiefte sie. Er lud Gläubige dazu ein, biblische Szenen sinnlich zu erleben, um Jesus persönlich zu begegnen.

Dadurch erschließt sich beim wiederholten Lesen ein neuer Blick auf bereits bekannte Bibelverse. Dies kann helfen, biblische Texte auch mit dem Herzen besser zu erfassen und neue Aspekte zu erkennen. 

Bis heute gibt es vielfältige Formen. Auch in deinem Hauskreis oder deiner Bibelgruppe kannst du die Lectio divina einsetzen. Sie kann dir den Druck beim Bibellesen nehmen, da du sie mit einem einzigen oder wenigen Versen praktizieren kannst. Zudem kannst du die einzelnen Phasen deinen zeitlichen Möglichkeiten entsprechend anpassen.

So wird Bibellesen im besten Fall wieder zu einer Herzbegegnung mit deiner „Bibel-Freundin“.

Erst durchatmen, dann loslegen

Doch wie startest du am besten in die Lectio divina? Genau wie, wenn du dich mit deiner besten Freundin auf einen Kaffee triffst, lockert ein entspanntes Ankommen die Situation auf. Auch da gehst du ja nicht direkt in die Vollen, sondern gibst dir und deiner Freundin Zeit, anzukommen und ein Getränk zu bestellen. Du steckst dein Handy weg und ihr schaut euch in die Augen. Dann wisst ihr beide: Jetzt kann es losgehen.

Genauso kann es hilfreich sein, der eigentlichen Lectio divina eine Phase vorzuschalten, die Pete Greig in seinem Buch „Einfach Gott hören“ als Innehalten bezeichnet. In dieser kurzen Phase stimmst du dich auf die Begegnung mit Gott ein. Du packst dein Handy weg und schaltest im besten Fall den Flugmodus an. Du schließt die Tür, falls du nicht alleine wohnst, und dann atmest du erstmal ein paar Mal ruhig ein und aus.

In dieser Zeit kannst du still oder laut ein Gebet sprechen, etwa: „Herr Jesus Christus, du Sohn Gottes, erbarme dich meiner.“ Oder ganz schlicht: „Danke, Jesus.“ Wähle hier Worte, die für dich passen und dir gleichzeitig ein Gefühl für Gottes Nähe geben.

Mache dir bewusst: Du musst dir und Gott nichts beweisen. Er ist schon da und du darfst ganz entspannt ankommen.

 Dieses kurze Ankommen ist der erste Bissen Brot deiner heutigen geistlichen Mahlzeit.

Phase 1 – Lectio: Lesen mit neuem Blick

Nun geht es ans Lesen. Sehr gut eignen sich Texte aus den Evangelien, besonders die Gleichnisse. Es ist völlig okay, einen Text zu wählen, den du schon kennst. Denn deine Hoffnung ist ja, dass du heute daraus etwas Neues mitnimmst. Üblicherweise werden 5-20 Verse für die Lectio divina empfohlen, doch mein Tipp ist: Starte mit wenigen Versen, um die Methode einzuüben.

Nun liest du diesen Text einmal langsam und am besten laut vor. Hier liest du den gesamten Text am Stück. Dann liest du den Text erneut, hier darfst du einzelne Verse mehrfach lesen, wenn sie dich ansprechen. Variiere bei jedem Lesen deine Betonung – gerade bei kurzen Passagen. Wie ändert sich die Bedeutung des Textes dadurch?

Denk an die Freundin: Du hörst nicht nur oberflächlich zu, sondern wirklich. Was nimmst du an Subtext wahr? Welches Wort spricht dich heute besonders an?

Phase 2 – Meditatio: Was ist heute dein Fokus?

Vermutlich bleibt bereits beim zweiten oder dritten Lesen ein Wort oder ein Satz bei dir hängen. Dann lass dich unterbrechen und schau dir diese Passage genauer an. Bewerte nicht, warum dir ausgerechnet diese Worte ins Auge springen, sondern lies das Wort oder den Satz einfach erneut durch und kaue darauf herum wie auf einem kernigen Stück Brot. 

Dann forsche weiter: Was könnte es bedeuten, dass du auf diese Worte aufmerksam geworden bist? Gibt es einen Bezug zu deinem Alltag? Welche Gefühle lösen die Worte bei dir aus? Auch hier gilt: Nur betrachten, nicht bewerten.

Bei einer erzählenden Bibelpassage kannst du jetzt deine Vorstellungskraft nutzen: Was hörst, siehst und riechst du? Wie fühlt sich der Ort an, wo die Szene stattfindet? Wie ist die Konstellation der Figuren zueinander? Und mit welcher Figur identifizierst du dich gerade am meisten? Auch unsere Fantasie ist nämlich eine Gabe Gottes und wir können sie einsetzen, wenn wir uns Bibeltexte vergegenwärtigen wollen.

Hilfreich kann hierbei sein, bewusst in verschiedene Rollen zu schlüpfen, um nicht nur mit deinem eigenen Hintergrund die Bibelstelle zu betrachten. Wenn ihr in einer Gruppe seid, könnt ihr die unterschiedlichen Rollen auch verteilen und szenisch lesen. Das kann euch einen ganz neuen Blick auf die Bibelstelle eröffnen. Allein für dich kannst du verschiedene Stimmlagen nutzen oder dir Notizen zu den möglichen Gedanken der einzelnen Personen machen.

Bedenke aber: Du machst das nicht, weil das irgendwie cool ist oder um alle Perspektiven abzubilden. Du erforschst den Bibeltext auf diese Weise, um herauszufinden, was Gott dir heute mit diesen Versen sagen will. 

Es geht darum, dass Gottes Wort in deinem Alltag lebendig wird. Wenn dir dieser Impuls sehr schnell klar ist, konzentriere dich darauf, statt den Bibelvers in seiner ganzen Fülle zu erforschen.

Du kannst morgen wieder zu ihm zurückkehren, wenn du das möchtest. 

Phase 3 – Oratio: Zwiesprache mit Gott

Sprich mit Gott über das, was beim Lesen der Bibelverse in dir hochkam: Hast du eine Aufforderung aus dem Text herausgespürt, rede mit Gott darüber, wie du diese umsetzen willst oder welche Bedenken du dabei hast. Hat dir etwas Angst gemacht, teile deine Befürchtungen mit Gott. Gibt es jemanden, für den du jetzt beten möchtest, tue das. Dank, Klage, Fürbitte – all das hat jetzt seinen Raum.

Wenn du Gott mitgeteilt hast, was dir nach der Bibellese wichtig ist, höre noch einmal hin. Möchte er dir vielleicht auf eins deiner Worte direkt antworten. Du kannst dies wieder mit einigen ruhigen Momenten der Stille tun.

Denke dabei daran: Dein Gebet ist die Antwort auf Gottes Reden, keine fromme Pflicht.

Du kannst vor Gott auch schweigen, wenn dir gerade die Worte fehlen, und du kannst zugeben, was du immer noch nicht an dem Bibeltext verstehst, und Gott bitten, dir den Text in seiner Bedeutung weiter aufzuschließen. Vor allem aber darfst du ehrlich sein.

Denn wie bei einer Freundin geht ein Gespräch erst dann in die Tiefe, wenn du dich traust, auch Dinge auszusprechen, die dir schwerfallen. Wenn es solche Dinge in deiner Beziehung zu Gott gibt, trau dich, sie zu benennen. Gott wartet nur darauf und weiß sowieso bereits, was du denkst und fühlst.

Phase 4 – Contemplatio: Gottes Gegenwart genießen

Zum Abschluss deiner Zeit mit Gott gönne dir noch ein wenig Gott-Gemeinschaft. Deine Freundin lässt du ja auch nicht bei ihrem Kaffee sitzen und stehst abrupt auf, sobald alle Infos ausgetauscht sind. Auch Gott freut sich, wenn du noch etwas bei ihm bleibst. 

Und wie so oft gilt auch hier: Das Beste kommt zum Schluss. Wer bleibt, wird beschenkt. Es kann sein, dass du gerade in dieser Phase Gottes Nähe am intensivsten spürst.

Daher setz dich doch einen Moment ruhig und bequem hin oder gönne dir ein Heißgetränk oder ein Stück Schokolade und dann lade den Heiligen Geist ein, dir nahe zu sein und zu dir zu sprechen.

Warte und halte die Stille aus. Manchmal spürst du viel, manchmal wenig, vielleicht hier und da auch mal gar nichts. Das ist alles okay. Eventuell wirst du merken, dass dein Innehalten im Gegensatz zum Anfang ruhiger und tiefer ist und deine Gedanken sortierter. Auch das kann ein Zeichen von Gottes Gegenwart sein, selbst wenn du sonst nichts weiter fühlst.

Vielleicht möchtest du dir noch ein Wort aufschreiben, was du aus deiner Bibellese mit in deinen Tag nimmst. Auch dafür ist jetzt Gelegenheit.

Wenn du wenig Zeit hast, kannst du diese Phase (wie auch alle anderen) durch eine Stoppuhr begrenzen. Dann weißt du, dass du keinen Termin verpasst, und kannst dich für die Zeit, die du zur Verfügung hast, ganz auf Gott konzentrieren.

Nicht warten, starten!

Eventuell bist du jetzt neugierig geworden und fragst dich, wie es weitergehen kann. Mein Tipp: Probiere die Lectio divina einfach mal aus. Schon 10-15 Minuten reichen für den Start. Wenn die Methode dir zusagt, kannst du die Zeit immer noch steigern.

In einer Gruppe könnt ihr die Lectio divina so nutzen, dass ihr die Verse reihum lest und in der Meditatio-Phase jeder ein Wort nennt, das für ihn heraussticht. Tut dies ohne Erklärung und sprecht danach zusammen ein Gebet.

Vielleicht begegnen dir oder euch beim Einüben der Lectio divina auch Hindernisse. Eventuell wirst du immer wieder abgelenkt. Dann kann es hilfreich sein, dein Handy ganz auszuschalten oder in einen Nebenraum zu legen.

Wenn dir ständig Gedanken durch den Kopf gehen, halte ein Notizbuch parat, schreibe dort kurz deinen Gedanken rein und dann lies weiter.

Möglicherweise fühlst du auch nichts bei der Bibellese oder dir springt kein Vers ins Auge. Dann sei nicht enttäuscht oder mach dir Vorwürfe, sondern wiederhole die Lectio divina einfach noch einmal an einem anderen Tag. Manchmal braucht es etwas Übung und nicht immer sind unsere Ohren und unser Herz auf Empfang gestellt.

Die Lectio divina auf einen Blick

Zum Schluss noch einmal eine kompakte Anleitung zur Durchführung der Lectio divina:

  • 2 Minuten ruhig atmen und ein kurzes Gebet sprechen.
  • Bibeltext wählen (5–20 Verse).
  • Zweimal lesen, beim zweiten Mal verweilen.
  • Ein Wort oder einen Satz auswählen, der dich besonders anspricht, dir die Szene vorstellen, hinhören.
  • Austausch mit Gott über das Erkannte.
  • 3–5 Minuten still in Gottes Gegenwart bleiben.
  • Ein Wort, einen Gedanken oder einen möglichen nächsten Schritt notieren.

Wie du siehst, ist die Lectio divina sehr einfach.

Es geht am Ende nur um drei Dinge: ums Hören auf Gottes Wort, ums Antworten darauf und ums Verweilen in Gottes Gegenwart.

Probiere die Methode doch mal eine Woche lang aus und schau, ob du durch sie die Bibel neu und besser verstehst. Und wenn du magst: Schreib uns, was du damit erlebt hast und ob dir die Methode geholfen hat.
 

Autor/-in

Rebecca Schneebeli

  |  Redakteurin

Rebecca Schneebeli ist Literaturwissenschaftlerin und arbeitet nebenberuflich als freie Lektorin und Autorin. Die Arbeit mit Büchern ist auch im ERF ihr Steckenpferd. Ihr Interesse gilt hier vor allem dem Bereich Lebenshilfe, Persönlichkeitsentwicklung und Beziehungspflege. Mit Artikeln zu relevanten Lebensthemen möchte sie Menschen ermutigen.

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