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03.05.2017 / Interview / Lesezeit: ~ 7 min

Autor/-in: Lucia Ewald

Dauerbaustelle Kirche

Warum die Kirche eine permanente Reformation braucht.

Interview mit dem Reformations-Experten Prof. Dr. Thomas Kaufmann (2/2)

Im zweiten Teil des Interviews mit dem Reformations-Experten Professor Thomas Kaufmann  erklärt der Kirchenhistoriker unter anderem, wie das Verältnis zwischen katholischer und evangelischer Kirche in Zukunft aussehen sollte und in welchem spannenden Lernprozess die katholische Kirche derzeit steht. 
Im Folgenden lesen Sie den zweiten Teil der wichtigsten Auszüge aus dem Gespräch, den ersten Teil finden Sie hier

 

ERF: Sie schreiben gegen Ende Ihres Buches: „Diese Reformation steht noch aus.“ Was meinen Sie konkret damit? Welche Reformen? Welche Veränderungen stehen Ihrer Meinung nach noch aus?

Prof. Thomas Kaufmann: Im letzten Kapitel nenne ich ja so ein paar Punkte, wo ich denke, dass sich unser Kirchenwesen im Grunde auch weiterentwickeln könne. Meines Erachtens sehe ich in meiner, also der evangelischen Kirche, im Moment ein besonderes Problem darin, dass durch so eine Leuchtturmrhetorik die Präsenz des Christentums, die Präsenz der Kirchenvertreter, also der Pfarrerinnen und Pfarrer vor Ort in den Dörfern mehr und mehr schwindet. Darin sehe ich ein massives Problem, weil im Grunde seit der Christianisierung in karolingischer Zeit, also seit dem 8. Jahrhundert, im Prinzip der Pfarrer vor Ort, der wesentliche Haftpunkt und Identitätsgarant des Christentums war. Also da würde ich auch auf Rekurs auf die Reformation sagen: Nicht die spektakulären Event-Inszenierungen sind es, die es machen, sondern wir kommunizieren unsere Botschaft interpersonal zwischen Menschen, die einander kennen. Diese massive Stadt-, Landentwicklung, die wir ja im Moment haben, das ganze kleinere Ortschaften verwaisen und die Städte immer mehr anschwellen und die Alten und Kranken zurückbleiben in den kleinen Ortschaften, an der Stelle muss meines Erachtens Kirche sagen: Das sind die Menschen, bei denen wir bleiben. Wir ziehen jetzt nicht in die Metropolen mit. Wir sind auch in den Metropolen präsent. Aber wir bleiben auch vor Ort. Hier müssen wir umdenken, und zwar nicht aus revolutionären Überzeugungen heraus, sondern weil die Botschaft, die wir zu vertreten haben, eine Botschaft ist, die alle Menschen angeht. Wir sollten als Kirche darauf achten, dass gerade auch die Zurückgelassenen unserer Gesellschaft von uns jedenfalls nicht übersehen werden. Das kann man mit entsprechenden ecclesiologischen Konzepten entwickeln. Vielleicht brauchen wir auch wieder viel mehr kommunitäre Lebensformen. Ich bin mittlerweile auch sehr, sehr skeptisch, ob die vulgäre reformatorische Klosterkritik heute noch greift. Wir brauchen Orte der Rückzugsmöglichkeit, wo Menschen, die permanent ausgepowert werden, auch durch die Anforderungen, die der Beruf an sie stellt, zur Ruhe kommen und wieder auftanken können.

Ich denke, die Geschichte des Christentums ist beileibe nicht zu Ende und wir müssen heute verstärkt darüber nachdenken, welche alternativen Organisationsgestalten des Christlichen wir uns vorstellen können. Auch gerade dann, wenn irgendwann mal unser mit Kirchensteuereinkünften stabilisiertes staatsanaloges Institutionssystem nicht mehr existiert.

„Ich finde es überfällig, dass die römisch-katholische Kirche unser Amt und unser Abendmahl anerkennt.“

ERF: Gibt es Bereiche, wo sich die katholische Kirche reformatorischen Gedanken angenähert hat? Wenn ja, welche sind das? Papst Franziskus hat in einem ersten deutschen Interview mit der Zeit die Unfehlbarkeit des Papstes in Frage gestellt. Er sagte: „Ich bin Sünder und bin fehlbar." Er hat in dem Interview auch von eigenen Glaubenszweifeln gesprochen, oder auch eine Diskussion um das Zölibat angestoßen. Was ist Ihre Meinung dazu?

Prof. Thomas Kaufmann: Also sagen wir mal so, der Papst zeigt viele sympathische Elemente und Erkenntnisse. Luther hätte daran durchaus seine Freude gehabt. Ich sehe darin im Ganzen eine positive Entwicklung. Aber es ist ja nicht der Papst selbst, der das als persönlich glaubwürdiger Mann allein entscheidet, sondern es ist eine Institution mit ihrem Rechtsgefüge. Meines Erachtens besteht die Herausforderung jetzt darin, dass Einsichten, die Franziskus gewonnen und artikuliert hat, dass die auch in die entsprechenden Rechtsformen gebracht werden. Denn der römische Katholizismus ist auch ein Rechtsgefüge. Wenn sozusagen die unfehlbare Spitze der Kirche erkennt, dass sie fehlbar ist, dann könnte man daraus ja eine Konsequenz ziehen im Hinblick auf das geltende Kirchenrecht. Ansonsten hat der Katholizismus, denke ich, seit dem 16. Jahrhundert immer wieder vom Protestantismus gelernt und übrigens vice versa. Das ist ein Lernprozess. Dass das Christentum in unserem Land noch eine relativ starke Rolle spielen kann, ist meines Erachtens auch eine Folge davon, dass die Konkurrenz das Geschäft belebt. Der Katholizismus hat die Ausgrenzung der Volkssprache überwunden. Er hat den Laien im 2. Vatikanischen Konzil eine erheblich größere Rolle beigemessen als das bisher der Fall war. Das sind sozusagen implizierte Konsequenzen, die Impulse aufnehmen, die auch in der Reformation eine Rolle spielen. Der Katholizismus hat seine neurotische Abgrenzung gegenüber der Moderne, auch gegenüber naturwissenschaftlichen Erkenntnissen nach und nach gemildert oder vollständig abgebaut. Das sind interessante Lernprozesse über Jahrhunderte, von denen man durchaus beeindruckt sein kann.

Was jetzt die Frage des Zölibats angeht, da würde ich sagen: Gut, dann mach mal Nägel mit Köpfen. Und wenn die Fehlbarkeit oder die Unfehlbarkeit des Papstes eine Funktion haben könnte, dann ja auch die, nicht einfach nur zu sagen: „Ich bin ein Sünder, das ist okay.“ Sondern: „Aufgrund meiner amtlichen Möglichkeiten setze ich jetzt bestimmte Dinge durch, von denen ich der Meinung bin, dass sie eine Fehlentwicklung repräsentieren.“ Die immense Nachwuchsproblematik, die die katholische Kirche hat in Bezug auf die Priester, würde sicher durch eine couragierte Überwindung dieser lähmenden Zölibatsproblematik eine ganz neue Dynamik entfalten können.

Beide Konfessionen sind Gewinn und müssen respektiert werden

ERF: Im Zusammenhang zur Jahrhundertfeier von 1817 nutzte man das Jubiläum um eine von vielen Seiten als nicht mehr zeit- und sachgemäß empfundene Spaltung der evangelischen Kirche in Reformierte und Lutherische etc. zu überwinden. Könnte so etwas auch irgendwann in der Zukunft geschehen, was  die evangelische und katholische Kirche anbelangt?

Prof. Thomas Kaufmann: Ich gehe davon aus, dass es Kräfte gibt, die in diese Richtung arbeiten. Zunächst muss man sagen: Der Vereinigungsakt, der in Preußen oder ausgehend von Preußen 1817 vollzogen wurde, war natürlich ein Akt aufgrund staatlicher Macht. Das geht heute so nicht mehr. Wenn, dann können es im Grunde nur die Kirchen selber sein, die sich zu einer entsprechenden Entscheidung durchringen. Dabei muss man dabei bedenken, wie diese Kirchen verfasst sind. Das ginge meines Erachtens nur mit einer Zustimmung der Repräsentanten der Kirchen, also der Synoden. Ich selber halte diese Entwicklung nicht für besonders wünschenswert. Ich finde schon, dass wir partnerschaftlich zusammenarbeiten. Ich finde es überfällig, dass die römische Kirche unser Amt anerkennt. Ich finde es überfällig, dass sie unser Abendmahl anerkennen. Es besteht ja in der Hinsicht eine asymmetrische Situation zwischen den Kirchen. Zu uns sind die katholischen Christen eingeladen, an unseren Sakramenten teilzunehmen. Umgekehrt besteht diese Einladung nicht. Genauso bei ökumenischen Trauungen. Von uns aus funktioniert es. Von römischer Seite wird es nach wie vor infrage gestellt. Also das sind asymmetrische Situationen, die einseitig von römischer Seite aus gelöst werden können. Ansonsten finde ich es eigentlich viel reizvoller und viel interessanter, dass es zwei sehr unterschiedliche aber in vieler Hinsicht doch auch vergleichbare Großformationen gibt. Ich halte mich ganz gerne in der katholischen Kirche auf und freue mich, dass sie so anders sind. Wenn man mal davon absieht, den eigenen Weg für den allein seligmachenden zu halten und die andere Konfession auch aus tiefer Seele respektiert, dann ist das eher ein Gewinn, wenn es mehr davon gibt als das große Einheitskonsortium. In Bezug auf Wirtschaftsunternehmen kann man sich ja auch fragen, ob die permanenten Fusionen, die es gegeben hat, wirklich zu einer kulturellen Bereicherung führen.

Was wäre Luthers Anliegen heute?

ERF: Wenn Luther im 21. Jahrhundert leben würde, was würde – was müsste Luther heute sagen? Wo würde er mit reformatorischen Gedanken ansetzen? Könnte Martin Luther auch heute die Welt verändern?

Prof. Thomas Kaufmann: Ja, Luther könnte die Welt verändern wie jeder, der versucht, unter Konzentration auf die Kerngehalte des evangelischen Glaubens seinen Beitrag zur Veränderung der Welt zu leisten. Luther trat ja nicht an, um die Welt zu verändern, sondern Luther hatte ein bestimmtes Anliegen, eine bestimmte Botschaft, die er kommuniziert hat. Ich glaube, dass das weiterhin funktioniert. Ich glaube auch, dass das Reden über Gottes Liebe zu uns auch heute Menschen ansprechen kann und insofern verändern wird. Veränderung vom Kleinen ins Größere. Es sind ja nicht die ganz großen Bühnen, die zunächst gesucht werden. Sondern es ist der unspektakuläre Face to Face Gesprächszusammenhang, in dem sich Glauben vermittelt oder plausibel gemacht wird.

Was Luther heute täte, an welcher Stelle Luther ansetzte? Ich denke, er würde im Hinblick auf die Evangelische Kirche sehr massiv fragen, warum wir diese Gestalt der Institution haben. Warum haben wir diese Hierarchien, diese vielen Gremien? An welchen Stellen könnten wir entschlacken? An welchen Stellen könnten und sollten wir viel stärker die Gemeinde in der Vordergrund rücken, als wir es derzeit tun? Er würde wahrscheinlich auch die Frage stellen, inwieweit Kirchenleitungen bereit sind, sich auf Theologie einzulassen. Luther war Theologieprofessor und ist sein Leben lang nichts anderes gewesen. Heute kann man gelegentlich in kirchlichen Presseorganen wütende Tiraden auf Theologieprofessoren wahrnehmen. Das ist etwas, was meines Erachtens im Protestantismus keinen Ort hat.

ERF: Prof. Kaufmann, vielen Dank für das Gespräch.


Hier können Sie den ersten Teil des Interviews lesen!

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