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© Aaron Burden / unsplash.com

29.10.2015 / Interview / Lesezeit: ~ 8 min

Autor/-in: Hanna Willhelm

Zeitlose Werte

Warum die Zehn Gebote auch heute Orientierung bieten. Ein Interview

Die Zehn Gebote stammen aus einer Zeit und Kultur, die zum größten Teil längst vom Wüstensand überdeckt und verweht ist. Aus diesem Grund ist nicht nur die Frage berechtigt, ob sie heute noch ethische Orientierung bieten können. Auch die Art und Weise, wie Gott sich in den dazugehörigen Texten vorstellt, klingt im 21. Jahrhundert für viele befremdlich.

Prof. Dr. Herbert H. Klement, Professor für Altes Testament, beantwortet im Gespräch mit ERF.de diese und weitere Anfragen an die alten, biblischen Texte.


ERF: Die Zehn Gebote sind in eine ganz bestimmte historische Situation hinein gesprochen worden. Trotzdem besitzen sie für die christliche Kirche und für das Judentum nach wie vor ungebrochen ihre Gültigkeit (siehe Teil I des Interviews). Das ist für viele heute ein Problem: Wie kann man diese Werte, die vor 3000 Jahren entstanden sind, ins Hier und Heute übertragen?

Prof. Dr. Herbert H. Klement: Weil die Werte, die darin angesprochen sind, universal sind. Sie helfen dem Menschen zu leben. Es geht in den Zehn Geboten um das Leben des Einzelnen (Du sollst nicht töten), den Lebensraum der Familie (Eltern, Ehe), um den weiteren Raum des Eigentums (Arbeitsgebot, Diebstahl) und der Sprache (Rede über Gottes „Namen“, Reden über den Nächsten). Diese Gebote sind gerahmt von den Themen der Vertrauens­beziehung zu Gott und dem Nächsten. Diese Themen sind zeitlos.

Gottesfurcht als allgemeingültiger Wert

ERF: Die zwischenmenschlichen Gebote sind für viele heute auch nachvollziehbar. Das Problem liegt für sie eher in den ersten Geboten, in denen es um Gott geht.

Prof. Dr. Herbert H. Klement: Ethische Orientierung ist für alle Menschen möglich, unabhängig von ihrer Weltanschauung. Das Volk Israel lebte aber nun davon, dass Gott es befreit hat. Deshalb beginnt alles mit der Verantwortung vor Gott. Die Gottesbeziehung steht am Anfang der Zehn Gebote, aber auch am Anfang des Volkes Israel und am Anfang des Christeins. Von unserem christlichen Standpunkt aus würden wir sagen: Die Gottesbeziehung steht am Anfang der ganzen Menschheitsgeschichte. Anthropologisch gesehen gibt es kein Menschsein ohne Religion. Gottesfurcht als solche, d.h. Respekt vor der Gottheit, ist ein universeller Wert.
 

ERF: Trotzdem können viele Menschen in der westlich geprägten Gesellschaft mit dem Gott, der sich in den Zehn Gebote vorstellt und der Anweisungen gibt, nichts anfangen. Im Gegenteil: Sie finden es sehr engstirnig, wenn da ein Gott sagt: „Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst keine anderen Götter neben mir haben.“ Wie kann sich jemand mit dieser Meinung den Gottesgeboten positiv annähern?

Prof. Dr. Herbert H. Klement: Der erste Satz des Dekalogs ist hier ausschlussreich. Gott stellt sich vor: „Ich bin Jhwh“ (Jahwe). Der Gottesnahme Jhwh ist erklärt als „Ich bin da“ und „Ich werde da sein“. Gott war so Mose erschienen, nachdem er das Schreien, das Weinen, die Klagen Israels gehört hat und die Not, die Entwürdigung und das Leid der Fronarbeit gesehen hat. Gott kam als Retter und Helfer und befreite aus der Knechtschaft.

Wenn Gott sich am Anfang des Dekalogs so vorstellt: „Ich bin Jhwh, dein Gott, der ich dich aus der Sklaverei befreit habe“, dann ist er bereit, im Bund mit diesem befreiten Volk zu stehen, d.h. ihm als Helfer und Retter auch künftig in entsprechender Weise beizustehen. Für die so Geretteten stellt sich die Frage gar nicht, andere Retter oder Götter in Betracht zu ziehen, denn es gibt sie nicht, sie können weder helfen noch befreien. Die Loyalität Gott gegenüber ist normal.

Keine Freiheit ohne Bindung

ERF: Das beantwortet aber noch nicht die Frage nach der Ausschließlichkeit: Kann es wirklich sein, dass es nur einen ganz bestimmten Gott gibt, der sich auf die Art und Weise festgelegt hat, wie er sich uns zeigt und wie wir reagieren sollen? 

Prof. Dr. Herbert H. Klement: Es gibt nur den einen Gott, der das Volk befreit hat. Letztlich steht dahinter die Frage nach der Freiheit. Es gibt keine Freiheit ohne Bin­dung. Wenn ich im Straßenverkehr bin, brauche ich Regeln, sonst gibt es Chaos. Die Zehn Gebote haben den Anspruch, dass sie in die Freiheit hineinführen, indem man sich an den Gott Abrahams bindet. Die Verehrung vieler Götter führt den Menschen in Unfreiheit. Davor warnen die Propheten immer wieder. Wer hingegen Gott vertraut und mit Gott lebt, wird in die Freiheit geführt.

Das gilt auch uns bis heute. Die Alternativen wären die Weltanschauungs- und Religionsmodelle unserer Zeit. Der christliche Glaube ist nach christlichem Verständnis im Vergleich zu diesen Modellen nicht von Menschen selbst gesucht worden, sondern er begegnet den Menschen als ein Angebot, als eine Botschaft, eine Wahrheit von außen.

Diese Wahrheit hängt zusammen mit der Person Jesu Christi, in dem Gott sich offenbart. Jesus zitiert die Zehn Gebote positiv, er verweist auf Mose und die Propheten und sieht sich selbst als in ihrer Nachfolge. Wenn ich das Evangelium von Jesus annehme, dann rechne ich mit dem Gott, der im Verhältnis zu seinem Volk eben auch diesen Satz formuliert: „Du sollst keine anderen Götter neben mir haben.“ Es ist ein Satz, der frei macht.

Damit ist nicht ausgesagt, dass es keine anderen Götter gibt. Aber es wird klar, dass das Verhältnis der Menschen, mit denen Gott einen Bund eingegangen ist, ein ausschließliches ist. Gott selber spricht davon, dass er eifersüchtig ist.

„Man wird nie für sich alleine schuldig“

ERF: Für unsere Ohren klingt es befremdlich, wenn es heißt: „Ich bin ein eifernder Gott, der die Missetat verfolgt bis ins dritte und vierte Glied.“ Wenn ich als frommer Mensch leben will, habe ich gar keine andere Wahl, als Gott an die erste Stelle in meinem Leben zu setzen, oder?

Prof. Dr. Herbert H. Klement: Von Zwang kann keine Rede sein. Zwangsarbeit gab es beim Pharao in Ägypten. Da war Israel unfrei. Jetzt leben sie als Volk in der nationalen wie auch in der persönlichen Freiheit. Wer nicht dabei sein will, braucht es nicht. Gott zwingt niemanden.

Das Zweite ist die Aussage, dass Gott die Sünde der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied. Das wird traditionell gerne auf der Zeitschiene verstanden. Sehr wahrscheinlich ist das richtige Verständnis dieser Aussage aber, dass es sich um das Zusammenleben von Menschen in einem familiären Zusammenhang handelt. Das dritte und vierte Glied steht – hebräisch gedacht – für das Vaterhaus, in dem drei bis vier Generationen in einem Haushalt zusammenlebten. Wenn in einer solchen Gemeinschaft eine Person kriminell ist, dann leidet die ganze Familie – sprich: auch das dritte und vierte Glied.

Umgekehrt steht im Text auch, dass Gott bis ins tausendste Glied segnet, wenn jemand mit Gott lebt. Das hebräische Wort für tausend ist gleichzeitig das Wort für Stamm. Wenn also einer im Rahmen von Gottes Ordnungen lebt, dann hat das segensreiche Auswirkungen. Wenn eine Familie gottesfürchtig lebt, dann ist praktisch die ganze Region, der ganze Westerwald oder das ganze Rheinland, durch sie gesegnet. Die Konsequenzen müssen im Guten wie im Schlechten getragen werden – nicht auf der Zeitschiene, sondern eher im horizontalen und geographischen Sinn.


ERF: Das heißt, Gott steht nicht da und wartet nur darauf, dass irgendjemand einen Fehler macht und präsentiert dann die Quittung dafür?

Prof. Dr. Herbert H. Klement: Das wäre nicht das biblische Bild von Gott. Stattdessen will Gott den Menschen die Freiheit erhalten, in die er sie geführt hat. In dem Moment, in dem der Mensch diese Freiheit durch sein Verhalten gefährdet, drohen ihm die negativen Konsequenzen. Davor will Gott schützen. Man wird nie für sich alleine schuldig, immer sind andere leidvoll mitbetroffen. Das wird in diesem Grundsatz ausgedrückt.

Ein Gott, der Gefühle hat

ERF: Noch einmal zurück zur Aussage, dass Gott ein eifernder Gott ist. Das klingt nach einem sehr menschlichen Gott. Wir würden von Gott eher erwarten, dass er zwar liebt, aber über so einem Gefühl wie Eifersucht steht.

Prof. Dr. Herbert H. Klement: Gott wird in der Bibel nicht vorgestellt als ein philosophisch abstrakter Gott. Wir gebrauchen manchmal „all“-Wörter: allwissend, allmächtig und universal und unendlich usw. Das sind Eigenschaften, die Gott auch hat: Gott ist mit keinem menschlichen Maß auszuloten in seiner Größe. Die biblischen Geschichten zeigen, wie andererseits Gott sehr personhaft zugewandt handelt, er besucht Menschen wie Abraham, spricht mit ihnen. Und umgekehrt entwickeln Menschen auch eine Freundschaftsbeziehung zu Gott. Wenn jemand Tag für Tag, Jahr für Jahr in der Gemeinschaft mit Gott lebt, dann entsteht auch Freundschaft. Diese personale Seite Gottes ist gleichwertig mit der abstrakten Seite.

In unserer philosophischen Vorstellung können wir beides nicht zusammenbringen. Entweder ist Gott abstrakt und dann ist er unendlich weit weg, oder er ist personenhaft und dann ist er klein und menschlich und begrenzt und zugewandt. Die biblische Aussage ist von Anfang an, dass beides in Gott ist. Er ist unendlich anders als wir. Gerade als Christen erkennen wir in der Person Jesu das „Angesicht“ Gottes. Wir müssen nur die Geschichten von Jesus lesen, um zu sehen, wer Gott ist.
 

ERF: Trotzdem klingt es kleinlich, wenn es heißt, dass Gott eifersüchtig ist.

Prof. Dr. Herbert H. Klement: Ja, aber es ist eine Sprache, die Menschen nachvollziehen und verstehen können. Nehmen wir das Beispiel von Eltern. Wenn Kinder anfangen, Drogen zu nehmen, verursacht das den Eltern enormen Schmerz. Das ist die Haltung, die Gott hat und die mit dieser Redeweise der Eifersucht ausgedrückt wird. Das heißt, er kümmert sich um Menschen und geht ihnen nach. Letztlich geht es ihm darum, die Menschen vor Gefahr und Scheitern zu retten, ihnen ihre Freiheit zu erhalten. Deshalb bindet er sie an sich.

Und Gott sucht nach wie vor alle Menschen, die unter Unrecht leiden. Deshalb sucht Gott auch Menschen, durch die er sich den so Leidenden offenbaren kann. Dass war die Berufung Israels in der damaligen Umwelt: Gott hatte die Völker im Blick, die an Israel Gottes Weg in die Freiheit staunend erkennen sollten. Und Gott wünscht bis heute von den Glaubenden einen Lebensstil, der das ermöglicht.

Denn es gibt keinen Men­schen, der nicht unter Unrecht leidet. Wir leiden unter dem Unrecht, das uns Eltern, Lehrer, Chefs angetan haben. Wer hat Vorgesetzte, unter denen er nicht leidet? Das gibt es ja fast nicht. Wir leiden unter der Politik und so weiter. Der Durst nach Gerechtigkeit ist ein Phänomen, das alle Menschen teilen. Und Gott will helfen. Deshalb kümmert er sich um Menschen. Deshalb leidet Gott auch, wenn Christen ihre Fähigkeit, positiv in ihrer Umwelt zu wirken, verlieren oder verspielen. In diesem Zusammenhang wird dieser Begriff der Eifersucht gebraucht. Es bereitet Gott Schmerzen, wenn er viel investiert hat und das verloren geht.
 

ERF: Das hieße auch, die Zehn Gebote gelten zuerst für den Gläubigen und sollen dann Strahlkraft nach Außen haben?

Prof. Dr. Herbert H. Klement: Ja, so ist es. Die Zehn Gebote sind als Ordnung der Freiheit dem Glaubenden, dem zum Gottesvolk Gehörenden, gegeben. Als solche haben sie aber gleichzeitig einen universalen Anspruch. Es ist der Anspruch in den fünf Büchern Mose selbst, dass diese Gebote als Modell des Zusammenlebens auch in der Umwelt Israels wahrgenommen werden, anziehend wirken und dazu einladen, Gott kennenzulernen.
 

ERF: Vielen Dank für das Gespräch.
 

 Hanna Willhelm

Hanna Willhelm

  |  Redakteurin

Hanna Willhelm ist Theologin und Redakteurin im Bereich Radio und Online. Sie ist fasziniert von der Tiefe biblischer Texte und ihrer Relevanz für den Alltag. Zusammen mit ihrer Familie lebt die gebürtige Badenerin heute in Wetzlar und hat dabei entdeckt, dass auch Mittelhessen ein schönes Fleckchen Erde ist.

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Kommentare (1)

Rüdiger S. /

So kenne ich Herbert, den ich seit ca. 55 Jahren nicht mehr gesehen habe. Ich würde gerne wieder in Kontakt mit ihm treten.

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