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© Moritz Schumacher / unsplash.com

08.05.2020 / Bericht / Lesezeit: ~ 4 min

Autor/-in: Andreas Odrich

„Wir haben eine kollektive Verantwortung“

Gedanken zu 75 Jahre Befreiung von der Naziherrschaft und Ende des Zweiten Weltkriegs.

 

 

Er kostete über 60 Millionen Menschen das Leben und erfasste den gesamten Erdball. Der Zweite Weltkrieg. Nahezu 60 Staaten waren an diesem Krieg beteiligt. In Europa begann er 1939 mit dem Überfall der Deutschen Wehrmacht auf Polen. Heute am 8. Mai vor 75 Jahren ging er in Europa zu Ende durch die Kapitulation der Deutschen. So wurden auch die Juden aus den Konzentrationslagern befreit. Sie wurden durch die Deutsche Nazidiktatur verfolgt, rund 6 Millionen Juden wurden durch die Nazis ermordet. Auf ERF Plus haben wir darüber mit Andreas Odrich von der ERF Aktuell-Redaktion gesprochen.
 

ERF: Andreas, kann man sich eigentlich emotionsfrei mit dem Zweiten Weltkrieg und der Nazidiktatur beschäftigen – wie geht es dir damit?

Andreas Odrich: Ich habe tatsächlich in den letzten Tagen gemerkt – ich kann da kaum nüchtern und sachlich rangehen. Wut und Entsetzen sitzen mir in den Knochen und kochen immer noch hoch. Psychologen und Soziologen sprechen ja auch inzwischen von der sogenannten Kriegsenkelgeneration – will heißen, Krieg, Hass und Terror schlagen sozusagen mit biblischen Ausmaßen in ihrer Wirkung bis auf die dritte, vierte Generation durch. Allein das sollte uns schon Warnung genug sein.
 

ERF: Was hast du denn selbst für Verbindungen in diese Zeit hinein?

Andreas Odrich: Da sind zum einen meine Großeltern, die in den letzten Kriegstagen bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen sind, oder ein Onkel, der als Jagdflieger abgeschossen ist. Das war permanent Thema in unseren Familien und hat die Beteiligten, die das selbst erlebt haben, zutiefst traumatisiert. Dann habe ich aber im Laufe meines vor allem beruflichen Lebens als Journalist viele Menschen kennenlernen dürfen, die als Juden die Konzentrationslager überlebt haben. Ich habe mich gegenüber diesen Menschen geschämt, aber sie sind mir umgekehrt als sehr aufgeschlossene und herzliche Menschen begegnet, trotz allem. Das bewegt mich immer wieder.

Das Gedenken muss aufrecht erhalten werden

ERF: Nun ist ja in den letzten Tagen von verschiedenen Seiten diskutiert worden, ob der 8. Mai als Tag der Befreiung bundesweiter Feiertag werden sollte. Was spräche den aus deiner Sicht dafür?

Andreas Odrich: Ich möchte als Parteiloser, das was ich sage, auf keinen Fall parteipolitisch verstanden wissen. Mich ärgert es geradezu, wenn solche Debatte in einen parteipolitischen Strudel hineingeraten, und die wichtigste Frage dann die ist, auf welcher parteipolitischen Seite man steht. Ich beziehe mich also nicht auf die Debatte im deutschen Bundestag, die ist nämlich schief, weil man dann auch die Frage diskutieren müsste, ob es einen Feiertag der Befreiung von der SED Diktatur geben müsste und warum andere versuchen durch Relativierung der Nazizeit parteipolitisch zu punkten.

Also: Ob man das alles Feiertag nennen sollte, oder besser Gedenktag, mag dahin gestellt sein. Aber wir merken ja, dieser monströse Koloss in unserer Geschichte, braucht Aufmerksamkeit. Das, was da geschehen ist, das braucht auch heute noch Bewältigung, und wir brauchen einen Weg für die zukünftigen Generationen, um zu fragen: Was könnte ihr Beitrag sein, wo liegt unsere und ihre Verantwortung für die Zukunft und wie können wir den Gedanken wachhalten – nie wieder Krieg und Gräuel von deutschem Boden aus.


ERF: Was soll und was müsste denn da bedacht werden, was sind die Themen, die zu bearbeiten sind?

Andreas Odrich: Der Fragenkatalog ist lang, und würde hier den Rahmen sprengen. Ich versuche es trotzdem: Wie konnte es dazu kommen, dass sich die Deutschen, das Volk der Dichter und Denker dermaßen der Nazi-Ideologie aufgesessen und verfallen sind? Wie konnte es dazu kommen, dass der christliche Glaube in diesem „christlichen Abendland“ so wenig widerstandsfähig war gegen die braune Ideologie? Wie konnte sich der Hass gegen das Volk Gottes, die Juden, entwickeln? Auch hier, was hatte daran die christliche Theologie für einen Anteil daran? Die Liste ist überhaupt nicht vollständig, sie müsste noch viel weiter gefasst werden.

Damit aus kollektiver Verantwortung nie wieder persönliche Schuld wird

ERF: Was hieße dies denn aber für die zukünftigen Generationen, die ja nichts mit dieser Zeit zu tun haben, und dafür auch nicht verantwortlich sind?

Andreas Odrich: Niemand der heute Lebenden ist praktisch verantwortlich für die Vergangenheit oder Schuld daran, das ist klar. Aber wir sind verantwortlich für die Zukunft. Daher auch hier die Frage: Wie schaffen wir es, die Erinnerung wach zu halten, wenn jetzt die letzten Zeitzeugen aussterben? Welchen Beitrag können wir heute aktiv gegen Krieg und Terror leisten? Was kann und muss unser Beitrag sein, damit aus Krieg Frieden wird? Ich nenne dies kollektive Verantwortung, die wir wahrnehmen müssen, damit daraus nicht eines Tages wieder persönliche Schuld wird. Kleiner kann man es an einem Tag wie heute nicht haben.  
 

ERF: Vielen Dank für das Gespräch.


In seiner Rede vom 8. Mai 1985 bezeichnete der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker erstmalig den 8. Mai als Tag der Befreiung und sprach über das Verhältnis von persönlicher und kollektiver Schuld:

 
 
 Andreas Odrich

Andreas Odrich

  |  Redakteur

Er verantwortet die ERF Plus-Sendereihe „Das Gespräch“. Er ist verheiratet, hat drei Kinder und ist begeisterter Opa von drei Enkeln. Der Glaube ist für ihn festes Fundament und weiter Horizont zugleich.

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Kommentare (1)

Jörg /

Wenn man schon diese kollektivistische Sicht vertritt, dann sollten WIR uns nicht zurücklehnen und mit dem Zeigefinger auf die vorangegangenen Generationen zeigen. Oder uns wie der Pharisäer im mehr

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