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© Taylor Brandon / unsplash.com

29.02.2024 / Serviceartikel / Lesezeit: ~ 7 min

Autor/-in: Hanna Willhelm

Der Nahostkonflikt im 21. Jahrhundert

Ein Überblick von der Abkoppelung des Gazastreifens 2005 bis zum 7. Oktober 2023.

Die Terrorangriffe der Hamas und der darauffolgende Angriff Israels im Gazastreifen erhitzen die Gemüter weltweit. Daraufhin mehren sich antisemitische Demonstrationen und Vorfälle. Ursache ist zumeist das immer gleiche Narrativ: Israel muss als jahrzehntelanger Aggressor und Unterdrücker in die Schranken gewiesen werden, die Solidarität muss dem palästinensischen Volk gelten.

Diese verzerrte und sehr unvollständige Darstellung war der Anlass, dass ich mich selbst noch einmal intensiv mit der Entstehungsgeschichte des Nahostkonfliktes beschäftigt habe. Ich wollte prüfen, was dran ist an der Sichtweise derer, die Israel primär als Täter und die Palästinenser primär als Opfer sehen.

Mir ist es wichtig, die Hintergründe und Zusammenhänge des arabisch-israelischen Konfliktes zu verstehen, denn ich bin überzeugt: Nur mit einem grundlegenden Verständnis der geschichtlichen Abläufe können die Vorfälle heute richtig eingeordnet und damit auch vorsichtig beurteilt werden. Trotz meiner intensiven Recherche bin ich mir bewusst, dass ich bei der Komplexität des Themas nicht alles weiß und manche Sachverhalte nur bruchstückhaft wiedergegeben habe. Dennoch ist es mein Wunsch, dass dieser Artikel dir dabei hilft, Hintergründe und Zusammenhänge etwas besser zu verstehen und einzuordnen.

Im Artikel „Die Geschichte Israels und Palästinas“ gebe ich einen Überblick von der Antike bis zum UN-Teilungsplan 1947. Im Artikel „Die Geschichte des Nahostkonflikts“ beschreibe ich die neuere Geschichte des Nahostkonflikts seit der Staatsgründung Israels am 15. Mai 1948 bis zum Scheitern des Endvertrages 2000. Dieser Artikel befasst sich mit der Abkoppelung des Gazastreifens bis hin zu den jüngsten Ereignissen rund um die Terrorangriffe der Hamas.

Abkopplung des Gazastreifens 2005

Gaza war zusammen mit Jericho das erste Gebiet, das Israel an die palästinensische Autonomiebehörde abgegeben hatte. Nachdem allerdings absehbar war, dass ein Endvertrag nicht zustande kommen würde, zog sich Israel 2005 einseitig ganz aus dem Gazastreifen zurück. Dieser Vorgang wurde als „Abkopplung“ bezeichnet und war innerhalb der israelischen Gesellschaft und Politik hoch umstritten.

30 jüdische Siedlungen im Gazastreifen mit etwa 8000 Siedlern wurden von Israel – teilweise gewaltsam – geräumt. Israel erhoffte sich von diesem kompletten Rückzug aus dem Gazastreifen ein friedlicheres Miteinander. Allerdings beschoss die Hamas Israel bereits seit 2002 mit Raketen aus dem Gazastreifen heraus. Israel antwortete mit einer zunehmenden Abriegelung der kleinen Enklave, was wirtschaftlich nicht ohne Folge für dessen Bewohner blieb.

Wahlen und Machtergreifung der Hamas im Gazastreifen 2007

2006 setzte sich die Hamas gegen die Fatah bei den Wahlen im Gazastreifen durch. Ein Jahr später griff die Hamas vollständig nach der politischen Macht. Politiker der Fatah wurden von den Kämpfern der Hamas vertrieben oder brutal getötet. Einige ersuchten Asyl in Israel.

Die Autonomiebehörde, die unter Führung der Fatah im Westjordanland bis heute an der Macht ist, verlor durch diesen Putsch jegliche politische Einflussnahme im Gazastreifen. Für die Bevölkerung in Gaza hatte und hat das bis heute gravierende politische, soziale und wirtschaftliche Auswirkungen. Denn die Kämpfer der Hamas sehen sich primär als Vorreiter eines gesamtarabischen, muslimischen Kalifats und nicht als Politiker, die ein Gebiet verwalten und strukturell voranbringen wollen.

Gaza heute – Leben in einem abgeriegelten Stück Land

Die Hamas war und ist sich bewusst, dass sie Israel militärisch nicht besiegen kann. Aber sie kann Israel durch Raketenbeschuss und Terror empfindlich treffen. 2008, 2012, 2014 und 2021 kam es immer wieder zu massivem Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen. Der Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 war ein trauriger und menschenverachtender Höhepunkt dieser Taktik.

In der Vergangenheit antwortete Israel auf den Raketenbeschuss jeweils militärisch, riegelte den Gazastreifen von außen immer weiter ab und kontrollierte auch sämtliche eingeführten Waren sehr genau. Da auch Ägypten seine Grenze zum Gazastreifen streng überwacht, haben die rund 2 Millionen Menschen in diesem Gebiet keine Möglichkeit, den Gazastreifen zu verlassen, es sei denn, sie haben eine Genehmigung dazu.

Allerdings gab es auch in Gaza bis zum aktuellen Krieg durchaus pulsierendes Leben und für einen kleinen Teil der Bevölkerung auch einen relativen Wohlstand. Die Hamas-Führer darf man mit Fug und Recht sogar als reich bezeichnen. Die acht sogenannten Flüchtlingslager im Gazastreifen sind keine Zeltstädte oder Baracken, wie man bei diesem Wort vielleicht denken könnte, sondern sind Wohngebiete mit festen Häusern. Der häufig gezogene Vergleich mit einem Konzentrationslager oder einem Freiluftgefängnis lässt sich also nicht halten. Trotzdem ist die Bevölkerung auf Hilfe von außen angewiesen.

Ein Teufelskreis – denn solange eigene Infrastruktur im Land fehlt und durch die verantwortlichen Führer im Gazastreifen auch nicht aufgebaut wird, werden die Menschen nicht von der finanziellen Unterstützung anderer Länder und Hilfsorganisationen loskommen.

Ausblick auf eine dauerhafte politische Lösung?

Wie könnte eine langfristige Lösung des Nahostkonfliktes aussehen, wenn der aktuelle Krieg vorbei ist? Der bereits erwähnte israelische Reiseleiter und Autor Assaf Zeevi hält die Zwei-Staaten-Lösung für nicht realisierbar. Dafür seien die Vorstellungen der beiden Völker, was beispielsweise die Frage der Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge betrifft, zu unterschiedlich.

Hinzu kommt, dass beide Völker wirtschaftlich und lokal zu sehr voneinander abhängen und miteinander verwoben sind. Eine klinische Trennung des Landes in einen arabischen und einen israelischen Staat ließe sich heute noch viel weniger durchführen als 1948. Schon damals hätten Menschen umgesiedelt werden müssen, wenn man zwei Nationalstaaten mit einer jeweils einheitlichen jüdischen beziehungsweise palästinensischen Bevölkerung hätte haben wollen. 

Zeevi plädiert deshalb dafür, dass beide Seiten lernen müssen, den Ist-Zustand anzunehmen und dass es zur Völkerverständigung im Kleinen kommen muss. Das könne durch Städtepartnerschaften geschehen, durch gemeinsame Sport- und Kulturveranstaltungen, durch gegenseitige Kenntnis der jeweiligen (Leidens-) Geschichte und durch Zusammenarbeit in den Kommunalverwaltungen. 

Eine politische Lösung sieht Zeevi in einem föderalen System mit zwei Parlamenten in einem Staat – ein Vorschlag, der ähnlich schon 1947 im Rahmen der UN-Überlegungen im Raum stand, sich aber nicht durchgesetzt hat. Zeevis Vorschlag einer föderalen Lösung läuft darauf hinaus, dass die Menschen je nach Nationalität entweder von einem palästinensischen oder israelischen Parlament regiert werden würden, unabhängig davon, wo sie im Land wohnen oder aufgewachsen sind.

Eine einfache Täter-Opfer-Zuschreibung trifft die Realität nicht

Damit bin ich am Ende meiner kurzen Darstellung der Geschichte des Nahostkonfliktes. Ich bin mir bewusst, dass ich viele Themen nur oberflächlich gestreift und manche noch nicht einmal angerissen habe. Dazu gehören weitere Kriege und Krisen im Laufe der letzten 76 Jahre, aber auch die Frage, welchen Einfluss europäischer und islamischer Antisemitismus einerseits und religiös-nationalistisches Judentum andererseits auf den Konflikt haben. 

Trotzdem hoffe ich, dass du durch diese Artikel ein besseres Verständnis für die Zusammenhänge und die Komplexität des Nahostkonfliktes gewinnen konntest. Ich selbst verstehe mich an dieser Stelle auch weiterhin als Lernende.

Was mir wichtig ist, und das möchte ich noch einmal betonen: Es ist zu kurz gegriffen, wenn die jüdische Seite in diesem Konflikt primär als Täterseite wahrgenommen und die palästinensische Seite vorwiegend in der Opferrolle gesehen wird. Dafür ist die historische Entwicklung des Konfliktes zu komplex. Egal, auf welcher Seite man sich als Außenstehender in diesem Konflikt positioniert: Einfache Lösungen wird es nicht geben.

Mein Platz als Christin im Nahostkonflikt ist zwischen den Stühlen!

Im ersten Teil meiner Darstellung habe ich erwähnt, dass ich vor rund 20 Jahren im Nahen Osten eine englische Dame kennengelernt habe, die sich als Christin im Blick auf Juden und Palästinenser zwischen den Stühlen gefühlt hat. Elaine kannte die Geschichte Israels aus der Bibel und Gottes Berufung für dieses Volk. Sie nahm den Antisemitismus arabischer Völker wahr. Gleichzeitig hatte sie im Libanon die Situation der Palästinenser kennengelernt und bemühte sie sich, auch deren Perspektive nicht aus den Augen zu verlieren.

Ich selbst möchte in der aktuellen Auseinandersetzung eine Stimme für das jüdische Volk und den Staat Israel sein, die so oft die Buhmänner der ganzen Welt zu sein scheinen. Die Begegnung mit Elaine hat mich aber gelehrt, das Leid der Menschen auf der anderen Seite des Konfliktes ebenfalls wahrzunehmen und zu verstehen zu versuchen. Gerade Christen sind dazu aufgerufen, diese Spannung auszuhalten und sie nicht einseitig aufzulösen.

Gebet als geistliche Perspektive

Ich glaube, dass Gott Christen in die Verantwortung gestellt hat, für das jüdische Volk, für SEIN Volk, politisch und geistlich einzustehen. Gleichzeitig beruft Gott Christen aber auch in die Verantwortung arabischen Menschen gegenüber. Beiden Gruppen gegenüber sind Christen zur Nächstenliebe, Respekt und zum Dienst verpflichtet. Mit beiden sollen sie darüber sprechen, was Jesus Christus ihnen bedeutet, wenn das Gegenüber mehr darüber wissen möchte.  

Was mir bei diesem Spagat hilft, ist das Gebet. Wenn ich mit Gott rede, muss ich weder Juden noch Palästinenser verteidigen oder anklagen. Ich kann beide Völker mit ihren Nöten Gott hinlegen und für sie bitten. Ich möchte dich bitten, das ebenfalls zu tun – egal, auf welcher Seite des Konfliktes du stehst, oder ob du dich vielleicht gar nicht irgendwo einordnen lassen möchtest.

 Hanna Willhelm

Hanna Willhelm

  |  Redakteurin

Hanna Willhelm ist Redakteurin, Autorin und begeisterte Theologin. Ihre Faszination für die Weisheit und Bedeutung biblischer Texte möchte sie gerne anderen zugänglich machen.  In der Sendereihe "Das Gespräch" spricht sie am liebsten mit Gästen über theologische und gesellschaftlich relevante Themen. Sie liebt Bücher und lebt mit ihrer Familie in Mittelhessen.

Ihr Kommentar

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Kommentare (3)

Irene S. /

Vielen - vielen Dank für diesen erhellenden Bericht!!! JESUS CHRISTUS segne Sie+Ihre Familie+Mitarbeiter*innen

Ute /

Lieber Torsten, danke, danke für diesen Kommentar! Ich selber hätte es nicht besser formulieren können und stimme Dir in allen Punkten zu 100% Prozent zu. Shalom. Am Yisrael Chai!

Torsten /

Liebe Frau Willhelm, vielen Dank für diese Darstellung des sog. Nahostkonfliktes. Es ist wichtig Fakten vorzulegen – und das haben Sie in gebotener Kürze getan. Danke für das Recherchieren und die mehr

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