„Spätestens seit diesem Tag glaube ich wieder an Wunder!“ Jörg Hildebrandt kann sein Glück kaum fassen. Der Witwer der früheren Arbeits- und Sozialministerin Regine Hildebrandt startet ein großes Uhrwerk. Das Besondere: Eigentlich müsste es zerstört sein. Es stand im Turm der Berliner Versöhnungskirche.
Jörg Hildebrandt war der Sohn des damaligen Pfarrers. Er verdiente sich ein paar Mark Taschengeld, indem er dafür sorgte, dass die Turmuhr immer die richtige Zeit anzeigte. Hildebrandt erinnert sich an den 13. August 1961. Den Tag, an dem die Versöhnungskirche plötzlich von nahezu unüberwindbarem Stacheldraht umgeben war und Maurer aus der DDR an den ersten Grenzanlagen arbeiteten, die Menschen in Ost und West erbarmungslos trennten. „Die DDR-Regierung – Ulbricht und Grotewohl – faseln von der friedlichen Koexistenz. Und vor meiner Haustür wird die Kalte-Kriegs-Mauer hingesetzt.“
Notwehr und Pathos
Jörg Hildebrandt will nicht tatenlos zusehen. Heimlich – denn niemand darf mehr die Versöhnungskirche betreten – stieg er gemeinsam mit Freunden auf den Turm des Gotteshauses. Dort hält er das Uhrwerk an und stellt alle Zifferblätter weithin sichtbar auf 5 vor 12. „ Wir waren so zornig, aber auch hilflos und ohnmächtig. Es war eine Art Notwehr mit Pathos eines Jugendlichen.“
Die SED-Diktatoren verstehen die Botschaft. Und lassen die Sache nicht auf sich beruhen. DDR-Grenzsoldaten brechen in den Kirchturm ein. Mit roher Gewalt stellen sie die Zeiger um und zerstörten dabei einiges von der Mechanik. Doch es kommt noch schlimmer: 14 Jahre später – im Januar 1985 – werden Kirche und Turm gesprengt.
Altar und Uhrwerk vor der Sprengung bewahrt
Gemeindeglieder können kurz zuvor noch den Altar und das erwähnte Uhrwerk aus dem Gotteshaus retten. Der Altar steht heute wieder an der alten Stelle auf dem ehemaligen Mauerstreifen, umgeben von einer kleinen Kapelle, deren Lehm die zermahlenen Trümmerteile der alten Versöhnungskirche enthält. Das Ganze ist zentraler Teil der Mauergedenkstätte, der Erinnerung an die Opfer der Deutschen Teilung. Jetzt, Jahre später, ist auch das alte Uhrwerk wieder restauriert worden. Da es in der kleinen Kapelle keinen Platz findet, steht es in unmittelbarer Nachbarschaft in der Bundeszentrale der evangelischen Diakonie. Jörg Hildebrandt kann gar nicht aufhören zu betonen, wie glücklich er darüber ist. „Als 1985 der Kirchturm gesprengt wurde, verschwendete ich keinen Gedanken mehr daran, diese Uhr je wieder erleben zu dürfen. Und heute ist es soweit. Wunder geschehen!“
Das alte Uhrwerk der Versöhnungskirche: Es tickt wieder und ist offiziell zur „Uhr der Versöhnung“ geworden – einem Zeitzeugen im doppelten Sinne – auch für die verwundete Geschichte der einst geteilten Stadt. Die „Uhr der Versöhnung“ zeigt durch ihr wiedererlangtes Ticken: Auch nach einem erzwungenen, langen Stillstand kann eine neue Zeit anbrechen.
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