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22.09.2017 / Zur Bundestagswahl / Lesezeit: ~ 4 min

Autor/-in: Martin Mandt

85.000 Bundesbürger dürfen am Sonntag nicht wählen

Das Bundeswahlgesetz schließt Behinderte von der Wahl aus.

Wenn bei der anstehenden Bundestagswahl am nächsten Sonntag, dem 24. September, viele Bundesbürger ihrem Wahlrecht nachgehen, können rund 85.000 volljährige behinderte Menschen dies nicht tun. Im sogenannten Wahlausschlussgesetz wird ihnen verweigert, ihre Stimme abzugeben, weil ihnen für alle Belange ihres persönlichen Lebens ein Betreuer an die Seite gestellt ist. Das meint Menschen, die ohne eine Vollbetreuung ihr Leben nicht alleine regeln können und ist im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) geregelt (§§ 1896 ff.BGB).

Angelehnt an diesen Paragraphen steht im Paragraph 13 des Bundeswahlgesetzes in feinstem Beamtendeutsch: „Ausgeschlossen vom Wahlrecht ist, (…) (2.) derjenige, für den zur Besorgung aller seiner Angelegenheiten ein Betreuer nicht nur durch einstweilige Anordnung bestellt ist“. Das heißt im Klartext, dass Menschen mit „Totalbetreuung“ angeblich nicht selbst entscheiden können, wen sie wählen, weil sie es anscheinend geistig nicht erfassen können.

Die „Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen“, Verena Bentele (rechts), fordert schon lange, dass dieses Gesetz abgeschafft wird. Sie nennt es „völlig absurd“ und sagte der dpa, das das Thema hoffentlich „vom neuen Bundestag schnell angepackt wird“.

Stephen Hawking dürfte in Deutschland nicht wählen

   
   

Tatsächlich ist es ziemlich ignorant, dass die so genannten geistig behinderten Menschen  – also eigentlich die, die nicht in eine bestimmte Norm passen – vom Wahlrecht ausgeschlossen werden. Zugespitzt bedeutet das, dass der an ALS erkrankte aber hochintelligente Wissenschaftler Stephen Hawking in Deutschland nicht wählen dürfte, weil es ihm alleine nicht gelingt, seine täglichen Belange zu regeln und für alles eine Betreuung braucht. Tatsächlich steht das Gesetz sogar im Widerspruch zu den Menschenrechten und zur UN-Behindertenrechtskonvention, die auch Deutschland unterschrieben hat.

Medienmacher und Aktivist Raul Krauthausen, der wegen der Glasknochen-krankheit dauerhaft auf den Rollstuhl angewiesen ist, ist ebenfalls gegen diesen Wahlausschluss. In einem Artikel auf der Social-Media-Plattform Xing nennt er diese Wahlrechtsausschlüsse diskriminierend: „Selbst in Artikel 3 unseres Grundgesetzes steht, dass alle Menschen gleich sind und niemand wegen einer Behinderung benachteiligt werden darf. Artikel 1 betont, dass ‚die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht‘. Das Bundeswahlgesetz widerspricht also unserem Grundgesetz“, betont Krauthausen.

Demenzkranke dürfen wählen

Es ist sowieso unverständlich, wen dieses Gesetz trifft und wen nicht. Demenzkranke zum Beispiel dürfen wählen. Hier sind es oft die betreuenden Angehörigen, die den Briefwahlzettel ausfüllen und an Eidesstatt erklären müssen, dass dies der Wille des eigentlichen Wählers ist. Bärbel Brüning ist Geschäftsführerin der Lebenshilfe Schleswig-Holstein, wo – neben NRW – das Wahlausschlussgesetz auf Landesebene 2013 abgeschafft wurde. Sie rät, dass der oder die Betreuerin herausfinden sollte, was der Person wichtig ist und danach den Wahlwillen feststellen sollte. Darin sehen Kritiker jedoch schon den Zusammenbruch der Demokratie, weil es angeblich dem Wahlmissbrauch Tür und Tor öffne. Behinderte seien zu leicht manipulierbar. Dieses Argument will Verena Bentele nicht gelten lassen. Käme es unter einer Betreuung, die ja auch ein sehr intimes und vertrautes Verhältnis erfordert, tatsächlich zum Wahlbetrug, wäre es der Betreuer, der betrügt – nicht der Behinderte selbst.

 

Es hat schon ein „Geschmäckle“: Die Wahlausschüsse misstrauen den Menschen, die Behinderte betreuen, wenn es um ein Kreuz auf einem Wahlzettel geht. Aber warum ist das gerade da ein Problem, wo sich doch eben diese Menschen im Alltag um die Behinderten kümmern und die Behinderten diesen Menschen auch vertrauen. Zudem werden von den Betreuern im täglichen Leben viel wesentlichere, ja tiefergreifende Entscheidungen getroffen – das interessiert die Wahlausschussmitglieder offenbar überhaupt nicht. Es scheint, dass es viel einfacher für sie ist, diese Mitbürger zu übergehen und sie nicht nach ihrer eigenen Meinung zu fragen. Seit Jahrzehnten ist es normal, behinderte und lerneingeschränkte Menschen lieber in einschlägigen Einrichtungen wegzusperren und sie komplett aus der Gesellschaft auszuschließen. Das riecht arg nach rechtsaußen. Und ein bisschen schwingt da auch das geistige Erbe der AfD mit, die ja durchaus nah am äußersten rechten Rand der Gesellschaft nach Stimmen fischt.

Zu Wenige und damit zu unwichtig?

Rund 85.000 Betroffene sind es derzeit, die dieses Gesetz von der Bundestagswahl ausschließt, also knapp 1,5 Prozent aller Wähler. Ein eklatant abweichendes Wahlergebnis ist also nicht zu befürchten – könnten Befürworter wie Kritiker als Argument anführen. Doch hier geht es ums Prinzip! Noch einmal Verena Bentele; sie sagte in der ARD: „Für mich ist ganz wichtig, dass jeder Mensch in Deutschland das wichtigste demokratische Recht, nämlich das Recht zu wählen, auch wahrnehmen darf.“ Wenn die Kommunikationsmöglichkeiten für Behinderte eingeschränkt sind, sieht Bentele die Parteien in der Pflicht. Die Modernen technischen Möglichkeiten ließen es zu, dass Staat und Bürger näher zusammenrücken. Durch sogenannte „Leichte Sprache“ und Bilder könnten sich auch lernbehinderte Menschen eine politische Meinung bilden, zumal sie in der Regel politisch interessiert seien.

Dann steht der Abschaffung dieses diskriminierenden Gesetzes ja nichts mehr im Wege! Stephen Hawking wäre Ihnen dafür sicherlich sehr dankbar. Und nicht nur er...
...meine Damen und Herren Politiker!?

 

 

 

 Martin Mandt

Martin Mandt

  |  Redakteur (✝)

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