Die Türkei bekommt nach den nächsten Parlamentswahlen ein so genanntes Präsidialsystem. 51,4 Prozent der Wähler im Land haben sich am Ostersonntag dafür ausgesprochen. Michael Klein aus der ERF Aktuell-Redaktion hat sich mit den politischen Folgen beschäftigt. Heiko Brattig hat ihn dazu befragt.
ERF: Was genau muss man sich unter einem Präsidialsystem vorstellen?
Michael Klein: In einer Demokratie sind die Staatsgewalten geteilt in Justiz, Gesetzgebung durch das Parlament und eine Regierung, die auf die Zustimmung des Parlamentes angewiesen ist und von den Gerichten kontrolliert und ggf. korrigiert wird. Die Türkei bekommt nun eine Regierungsform, in der diese drei Gewalten in der Person des Präsidenten vereinigt sind. Er ist Regierungschef, kann am Parlament vorbei Gesetze erlassen und kann das oberste Gericht mit Leuten seines Vertrauens besetzen. Ein weniger schöner aber umso zutreffenderer Name für diese angeblich neue „Staatsform“ ist „Diktatur“.
ERF: Aber – Frankreich und die USA haben doch auch Präsidialsysteme. Was ist denn dort anders?
Michael Klein: Dort werden die Präsidenten kontrolliert - durch das Parlament und durch die Justiz. Wie das funktioniert, erleben wir gerade in den USA. Präsident Donald Trump spielt ja dort auch den Autokraten und wird vom Parlament und den obersten Richtern ständig zurückgepfiffen – jedenfalls vorerst noch.
Ein Weg in die Totaldiktatur ist zu befürchten
ERF: Wie geregelt ist es denn bei den Wahlen in der Türkei zugegangen?
Michael Klein: Wahlbeobachter der OSZE melden zahlreiche Verstöße gegen die demokratischen Grundregeln. Am deutlichsten kritisieren sie, dass etwa ein Drittel der Wahlzettel nicht gestempelt war. D.h. es ist nicht nachvollziehbar, wo sie herkommen. Jeder kann sie dazugemogelt haben. Und eine Beschwerde bei der obersten Wahlbehörde des Landes ist aussichtlos. Deren Leiter ist von Erdogan persönlich ausgesucht worden.
ERF: Welche Folgen hat denn diese Wahl für die Türkei?
Michael Klein: Sie wird sich wohl als großer Schritt auf dem Weg in die Totaldiktatur erweisen. Weg vom laizistisch geprägten, demokratischen Staat, den Kemal Atatürk 1920 geschaffen hatte. Hin zum islamisch geprägten Regime. Erdogan lässt sich ja bereits „Rais“ nennen. Das heißt: „Führer“. Da sollten wir Deutschen besonders hellhörig werden. Er hat angekündigt, die Todesstrafe wieder einzuführen. D.h. er kann die Oppositionellen, die er ja als „Terroristen“ bezeichnet, bald völlig legal von einer Justiz aburteilen lassen, auf die er sich bereits in den vergangenen zwei Jahren immer mehr Einfluss verschafft hat.
Statt Trennung zwischen Staat und Kirche Islam als Staatsreligion
ERF: Wie sind denn die außenpolitischen Folgen einzuschätzen?
Michael Klein: Die außenpolitischen Folgen werden sich vor allem auf die Wirtschaft nachteilig auswirken. Die EU friert die Beitrittsverhandlungen ein, ausländische Investoren müssen massive staatliche Reglementierungen befürchten und werden auf ihr Engagement verzichten. Die Touristenregionen in der Türkei bekommen diesen „Erdogan-Effekt“ ja bereits zu spüren. Die Gäste bleiben aus. In den Touristengebieten, die ja in den vergangenen Jahren die Boomregionen der Türkei waren, wurde das Referendum übrigens durchweg mit Zweidrittelmehrheiten abgelehnt.
ERF: Wird das Referendum auch Auswirkungen auf das religiöse Klima in der Türkei haben?
Michael Klein: Erdogan macht keinen Hehl aus seiner Sympathie für eine sehr konservative Strömung des Islam. Es ist zu befürchten, dass er die in der bisherigen Verfassung zementierte strikte Trennung zwischen Staat und religion aufhebt und den Islam zur Staatsreligion macht. Und dann könnten für die rund 100.000 Christen im Land schlimme Zeiten anbrechen.
Ihr Kommentar
Kommentare (2)
Eigentlich freue ich mich vom Herzen über die mehrheitliche Entscheidung der Türken, auch wenn mir persönlich Erdogan höchst unsympathisch wäre und ich ihn niemals für ihn stimmen würde, schon allein … mehrwegen seiner Politik gegenüber Kurden und anderen Minderheiten und ich es mir überlegen würde, heutzutage in die Türkei zu reisen. Aber es ging nicht darum, was mir, was uns Europäern mit unserer europäischen Kultur, Demokratie, Wertvorstellungen usw. passt, die wir gerne den anderen aufzwingen würden. Die Türken haben das Recht, in der Türkei ungestört ihr eigenes Leben zu leben, genauso wie wir Europäer, Tschechen (Deutschsprachige usw.) das Recht haben auf unser eigenes, von muslimischen Gedankengut ungestörtes Leben mit unserem Schweinefleisch-Nationalgericht „Vepřo-knedlo-zelo“, mit Speck, Bier, Kreuzen, Glockengeläut usw.
Es gibt kein Land mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung, das Trennung zwischen Staat und Religion praktiziert. Der Islam lässt es nicht zu.