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© Adeo / Gerth Medien

04.11.2015 / Rezension / Lesezeit: ~ 3 min

Autor/-in: Christine Keller

Tim lebt!

Er überlebte seine Abtreibung, jetzt ist er 18 Jahre alt. Eine Rezension

 

Dass er lebt, ist ein Wunder: Der 18-jährige Tim überlebte seine Spätabtreibung – obwohl die Ärzte nach seiner Geburt rund neun Stunden lang keine lebensverlängernde Maßnahmen ergriffen. Heute wohnt der Junge mit Down-Syndrom gemeinsam mit seinen Pflegeeltern und zwei Pflegeschwestern in einer Kleinstadt in Niedersachsen. Dort spielt er gerne mit seiner Frisbee, ärgert seine Geschwister und tobt mit seinem Vater.

Eine Geschichte, die sich zum Guten wendet

Nachdem Ärzte bei Tim in der 20. Schwangerschaftswoche das Down-Syndrom diagnostizieren, sind seine Eltern überfordert. Seine Mutter droht mit Suizid. Gemeinsam mit dem behandelnden Arzt entscheiden sich die Eltern für eine Spätabtreibung. Womit niemand rechnet: Tim überlebt. Nach fast sechs Monaten, die Tim im Krankenhaus verbringt, klingelt das Telefon der Familie Guido: Ob sie sich vorstellen könnten, ein Kind mit Down-Syndrom aufzunehmen. Simone und Bernhard Guido absolvieren zu dieser Zeit die Pflegeelternausbildung.  Sie denken schon länger darüber nach, Pflegekinder bei sich aufnehmen. Beim Jugendamt kreuzten sie im Formular an: „Weiblich“ und „nicht-behindert“.  

Trotzdem sagen die Guidos „ja“ – in Absprache mit ihren zwei Söhnen Marco und Pablo. Und so zieht der kleine Tim zu seiner neuen Familie. Ein Jahr ist geplant, mittlerweile sind 18 daraus geworden. Zunächst muss Tim immer wieder ins Krankenhaus, erst nach Jahren stabilisiert sich sein Zustand. Er entwickelt sich langsam, lernt aber mehr und mehr dazu: Er kann gehen, spielen und auf sich aufmerksam machen. Außerdem besucht er eine Schule für geistig und körperlich behinderte Menschen und erhält eine gezielte Förderung.

Wie Fürsorge Tims Leben verändert

Die Ärzte geben Tim zunächst sechs Jahre. Doch durch die liebevolle Betreuung der Familie verändert sich vieles: Fähigkeiten, die Tim niemand zugetraut hätte, sind heute für ihn selbstverständlich. Wie zum Beispiel das Gehen. An anderer Stelle ringen seine Pflegeeltern noch mit Tim. Weil er sich weigert zu essen, muss er immer noch mithilfe einer Sonde ernährt werden. Simone und Bernhard Guido haben die Hoffnung noch nicht aufgeben, dass er irgendwann essen kann – und auch Freude am Schmecken entwickelt. Die Guidos erleben einen Alltag mit vielen Fort- und Rückschritten. Sie empfinden ihr Leben mit Tim dennoch als erfüllend – und entschließen sich, ein weiteres Kind mit Down-Syndrom bei sich aufzunehmen: Melissa.

Melissa ist im Gegensatz zu Tim nicht schwerbehindert; sie erlernt schnell neue Fähigkeiten. Das fordert Tim heraus. Sie zeigt ihm nämlich, was möglich ist und was er alles noch lernen könnte. Als die leiblichen Söhne Marco und Pablo ausziehen, kommt Simone und Bernhard Guido wieder der Gedanke: Warum nicht noch ein Kind mit Behinderung aufnehmen? So wird Naomi ihr drittes Pflegekind.

Schonungslos ehrlich

Das Buch besteht zu großen Teilen aus Erzählungen von Menschen, die die Geschichte von Tim und den Guidos (mit-)erlebt haben: Simone und Bernhard Guido, Marco und Pablo, Geschwister von Simone und Bernhard, Nachbarn, Pfleger, dem Schuldirektor; ebenso ein Pränataldiagnostiker und der behandelnde Frauenarzt, der Tims Geburt begleitet hat. Diese Vielfalt macht die ohnehin ergreifende Geschichte noch spannender. Der Leser erfährt, wie der Alltag mit Tim ist, wie Therapien ihm helfen, wie er sich in der Schule verhält. Durch die Stellungnahme der Mediziner erweitert sich Tims Geschichte zu einer Diskussion rund um das Thema Abtreibung und lebenswertes Leben.

Trotz der Nähe der Guidos und denjenigen, die Stellung beziehen, bleiben kritische Fragen nicht aus: Schafft es das Ehepaar Guido noch, für ihre zwei leiblichen Söhne da zu sein? Können Sie den Alltag mit drei behinderten Kindern bewältigen? Was passiert, wenn sie zu alt werden für deren Pflege?

Zwischen diesen Erzählungen gibt es kurze, sachliche Berichte. Zahlen, Fakten und Hintergründe werden geliefert. Außerdem erhält die Geschichte durch diese Einschübe einen Rahmen: Tims 18. Geburtstag. Hier beschreibt Autorin Kathrin Schadt die große Feier mit Familie, Freunden und Verwandten. Da das Buch sonst eher aus subjektiven Schilderungen besteht, hilft diese Außenperspektive dem Leser dabei, Erzähltes einzuordnen.

Fazit

Wer zu dieser Lektüre greift, muss wissen: Tims Schicksal bewegt – man kann das Buch nicht lesen und zurück ins Bücherregal stellen. Tims Geschichte macht nachhaltig traurig, wütend und spendet Hoffnung. Das macht es besonders lesenswert. Und spätestens mit dem Zuklappen des Buchdeckels ist einem klar: Die Debatte über Abtreibung kann noch nicht abgeschlossen sein.

 Christine Keller

Christine Keller

  |  Redakteurin

Hat in der Redaktion von ERF Jess gearbeitet. Ist ansonsten als freie Journalistin auch online und hinter der Kamera unterwegs. Sie hat Hummeln im Hintern, was aber nicht weh tut. Sie liebt es, To-Do-Listen zu schreiben und abzuhaken. Wenn‘s doch mal entspannt sein soll, nimmt sie gern ein gutes Buch zur Hand.

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Kommentare (4)

CRa /

Mein jüngerer Bruder hat auch Trisomie 21, schwierig im Erwachsenenalter, aber toll als Kind. Aber auch als Erwachsener immer noch so Freude-spendend, aber auch ähnliche Sorgen, wie bei den eigenen mehr

biank /

Mein Kind sollte damals auch krank sein die selbe Diagnostik in der DDR sechster Monat.Der Sohn ist dann 1989 geboren.Reflexe stimmten n icht und wurden trainiert.kurz gesagt.heute studiert er. Er ist ein kostbarer Sohn.Ich habe insgesamt 4 Kids.

Silvia H.-R. /

ich möchte gerne das Buch "Tim lebt" bestellen. Das Thema bewegt mich.

Anne /

Schade, dass man das 2. Bild (zu den Schwangerschaftsabbrüchen in Dtl.) nur mit Passwort öffnen kann. Ansonsten ein Artikel, der bei mir großes Interesse geweckt hat am Buch.

Anmerkung der mehr

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