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27.11.2010 / Adventsgeschichten / Lesezeit: ~ 8 min

Autor/-in: André Trocmé

Von Engeln und Eseln: "Der freigelassene Sklave"

In einem kleinen französischen Dorf sind während des Zweiten Weltkrieges ganz besondere Weihnachtsgeschichten enstanden. Eine Lesereise

An den vier Adventwochenenden veröffentlichen wir jeweils eine Geschichte aus dem Buch "Von Engeln und Eseln: Geschichten nicht nur für Weihnachten". Es sind Geschichten, die den Kindern des kleinen Dorfes Chambon-sur-Lignon erzählt wurden, während Europa unter der Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten litt. Die etwa 9.000 Bewohner des Dorfes haben in dieser Zeit fast 5.000 Flüchtlingen geholfen, darunter 3.500 Juden. Die Geschichte des reformierten Pastors André Trocmé enthalten immer wieder Anspielungen und Hinweise auf den Mut, den es vor allem in Zeiten von Terror und Tyrannei braucht. Das Buch ist im Neufeld-Verlag (5. Auflage) erschienen und kostet 12,90€. 


Der Sklave 

Am Fuß der riesigen Mauern des Tempels von Jerusalem glänzte der Staub der Agora in der jungen Sonne des April. Agora, so heißt der Marktplatz in den Städten des östlichen Mittelmeers. Es war am Morgen nach dem großen jüdischen Osterfest, und die normale Geschäftigkeit der Stadt fing an: An dem einen Ende des Platzes stießen Kinder, die das Brettspiel spielten, laute Schreie aus, während am anderen Ende, auf einer Art hölzernem Podium, Sklaven verkauft wurden. 

Der Handel lief gut, und der Sklavenhändler war zufrieden. Bald blieb ihm nur noch ein einziger Sklave zu verkaufen: Es war ein Mann von etwa fünfundzwanzig Jahren, dessen weiße Hände und schmächtiger Körper bewiesen, dass er nicht an der Arbeit auf den Feldern zerbrochen war, während der Ausdruck von Scham, der auf seinem Gesicht lag, zeigte, dass er nicht an die Ketten gewöhnt war, mit denen seine Hände und Füße gefesselt waren.

»Los, beeilen wir uns«, rief der Händler, »befreit mich von Thaddäus, dem gebildeten Sklaven, der außerordentlich intelligent und fähig ist.« 

»Zu intelligent«, spottete ein reicher Kaufmann, der vorüberging. »Du weißt wohl, dass Thaddäus gestern noch Haushofmeister im Palast des König Herodes Antipas war, bei dem er enorme Summen ergaunert hat! Er wäre fähig, mich zu ruinieren, wenn ich ihm auch nur das geringste meiner Geschäfte anvertrauen würde.« 

»Kauft mir Thaddäus ab, egal zu welchem Preis. Ich will Schluss machen. Wer macht einen Vorschlag?«, rief der Händler.

»Wenn ich ihn in meinen Haushalt bringen würde«, protestierte ein Pharisäer in weißem Gewand, »würde es dort Streit geben. Thaddäus ist ein Denunziant, der dem König über die kleinsten Verfehlungen Bericht erstattete, um seine Gunst zu erwerben. Antipas hatte ihm seine Gaunereien verziehen, denn er war ein sehr nützlicher Diener, aber Thaddäus versuchte, einen seiner Kameraden zu erwürgen, der ihm hundert Dinare schuldete! Als das dem König hinterbracht wurde, wurde Thaddäus als Sklave verkauft; das ist seine Geschichte.« 

»Ich gebe dir Thaddäus zum halben Preis eines Sklaven «, seufzte der Händler; »wer nimmt ihn mir um fünfzig Dinare ab? Fünfzig Dinare, fünfzehn Silberstücke, was ist das schon? Die Zeit verrinnt!« 

Ein Fremder mit narbigem Gesicht trat vor: »Um diesen Preis kannst du ihn mir geben«, rief er. »In der Kupfermine, die ich auf Zypern besitze, wird er krepieren. So, wie er aussieht, hält er es nicht mehr als drei Monate aus!« Aber plötzlich erhob sich ein durchdringender Schrei aus der hintersten Reihe der Menge: »Nein!«

Jedermann wandte sich um, um zu erfahren, wer diesen Schrei ausgestoßen hatte: Es war ein kleiner Junge von etwa zwölf Jahren, mit blauen Augen und wirrem blonden Haar, bekleidet mit einer groben Tunika aus Wolle, wie sie die galiläischen Bauern tragen. Einige Augenblicke zuvor hatte man ihn noch am Brettspiel am anderen Ende des Platzes gesehen. 

»Nein«, wiederholte der Junge mit schriller Stimme, wie jemand, der um Hilfe ruft. »Ich will nicht, dass er ins Bergwerk geht Ich kaufe ihn für sechzig Dinare.« Die Menge brach in Gelächter aus. 

»Ich habe noch nie einen Sklaven an ein Kind verkauft «, sagte höhnisch der Händler. »Hast du überhaupt Geld?« Das Kind drängte sich durch die Menge und kam nach vorne. Silberstücke glänzten in seiner Gürteltasche. »Siebzig Dinare«, brummte der Fremde mit dem narbigen Gesicht. 

»Achtzig!«, rief das Kind und sprang auf das Podium.
»Neunzig!«, heulte der andere.
»Hundert!«, rief das Kind verzweifelt, denn das war alles, was es besaß. Mit einer Handbewegung löste es seinen Gürtel und leerte den Inhalt auf den Tisch des Händlers. Dreißig gute Silberstücke, wie jedermann feststellen konnte. 

»Wer bietet mehr? Wer bietet mehr?«, wiederholte der Händler, der hoffte, den Einsatz noch steigern zu können. Aber niemand bot mehr. Der Mann mit dem brutalen Gesicht zuckte mit den Schultern und ging brummend fort. »Dieser elende Kerl ist keinen solchen Preis wert!« 

»Nun gut«, sagte der Händler, indem er das Kind schüttelte, das, erstaunt über seinen Sieg, ihn bewe- gungslos ansah, »nimm deinen Sklaven mit, er gehört dir. Hier ist deine Eigentumsbescheinigung, geschrieben auf ägyptischem Papyrus; nimm das Ende seiner Kette.« Nun sah die Menge dieses ungewohnte Schauspiel: Thaddäus, einer der listigsten und gefürchtetsten Männer von Jerusalem, bot seine gefesselten Fäuste einem kleinen Jungen dar, der ihn mit entschlossener Miene hinter sich herzog wie ein Mutterschaf, das man soeben auf dem Markt gekauft hat. 

Der Wiedergekaufte

Als sie allein waren, fragte Thaddäus seinen neuen Herrn: »Warum hast du mich gekauft?« »Ich habe dich zurückgekauft, weil ich eines Tages ein großer Führer sein werde, der Hunderten, ja Tausenden von Männern befehlen wird. Als ich dich gesehen habe, wie du so traurig dastandst, habe ich verstanden, dass du der erste meiner Diener sein wirst.« 

»Aber du bist nicht reich«, entgegnete Thaddäus. »Um mich zu besitzen, hast du eine riesige Summe bezahlt für einen kleinen Bauernjungen, der du bist.« 

»Ich habe alles ausgegeben, was ich besaß«, antwortete das Kind ganz ruhig. »Das war ein Schatz, den ich bei meiner Geburt erhalten hatte. Und da ich jetzt zwölf Jahre alt geworden bin, sind meine Eltern mit mir nach Jerusalem hinaufgegangen und haben mir meinen Schatz ausgehändigt, damit ich in die Schule der Schriftgelehrten eintreten kann, um meine Kenntnis der Heiligen Schriften zu vertiefen.« 

»Ich bin nicht den Preis wert, den du für mich bezahlt hast«, sagte Thaddäus traurig. »Und jetzt hast du nichts mehr. Wie kannst du dann deine Studien machen?« »Als ich dich gesehen habe«, bestätigte das Kind, »habe ich verstanden, dass du mehr wert bist als meine Studien. Ich bin zufrieden, kein Geld mehr zu haben, da ich einen Diener wie dich habe. Glaubst du an Gott?« »Ich habe an ihn geglaubt, als ich so alt war wie du«, murmelte Thaddäus, »und dann ist etwas Schreckliches passiert, und ich kann nicht mehr glauben.« 

»Erzähl mir davon«, sagte das Kind voller Mitleid. »Also gut. Vor etwa zwölf Jahren hütete ich die Schafe auf einem Feld bei Bethlehem, in Judäa, zusammen mit meinem Vater und dessen Brüdern. Nun aber ist uns während der Nachtwachen ein Engel erschienen und hat uns gesagt: ›Fürchtet euch nicht! Ich bringe euch die größte Freude für alle Menschen: Heute ist für euch in der Stadt, in der schon David geboren wurde, der lang ersehnte Retter zur Welt gekommen. Es ist Christus, der Herr.‹ Dann sind wir nach Bethlehem gelaufen, wo wir alles so fanden, wie es der Engel gesagt hat, und wir haben den Retter der Welt angebetet.« 

»Aber das ist doch kein Grund, um den Glauben zu verlieren«, unterbrach ihn das Kind, »im Gegenteil: Du solltest dich darüber freuen.« 

»Leider«, antwortete Thaddäus, »ist meine Geschichte noch nicht zu Ende. Einige Wochen später, als wir unsere Herden auf demselben Feld hüteten, erhob sich Geschrei und Wehklagen in der Nacht. Das waren die Frauen von Bethlehem, die um Hilfe riefen. Wir beeilten uns, in die Stadt zu kommen, aber wir kamen zu spät. Auf dem Platz war ein grässlicher Haufen. Das waren die unkenntlich gewordenen Leichen aller kleinen Kinder von Bethlehem, hingeschlachtet durch die Eifersucht des Königs Herodes des Großen, der erfahren hatte, dass sich der zukünftige König von Israel unter ihnen befand. Die verzweifelt jammernden Mütter versuchten, die ihrigen wiederzuerkennen. Der Stall, in dem wir den Messias angebetet hatten, brannte in der Nacht. Vor der Tür lag die Krippe, in der das Kind geruht hatte, umgestürzt. In der Ferne hörten wir noch die Pferde der Soldaten des Königs galoppieren, die nach Jerusalem flohen.

»Ich fange an, dich zu verstehen«, murmelte der Junge. 

»Wenn Gott solche Dinge zulässt«, fuhr Thaddäus mit düsterer Miene fort, »wenn er seinen Messias töten ließ, ohne dem Arm des Verbrechers Einhalt zu gebieten, dann ist er zu schwach, als dass sein Wille auf Erden geschehen könnte. Ehrlich gesagt, seit jenem Tag glaube ich nicht mehr, dass es einen Gott gibt.« 

»Nun, was hast du dann gemacht?«, fragte das Kind. »Da bin ich aus Bethlehem geflohen, um in den Dienst des Königs Herodes des Großen einzutreten, der gezeigt hatte, dass er stärker ist als Gott. Herodes des Grausamen, Herodes des Reichen, den nie sein Gewissen von etwas abhielt, wenn es darum ging, seinen Thron zu verteidigen. In der Schule des alten Königs habe ich gelernt, dass die List die Kraft der Schwachen ist. Nach seinem Tod blieb ich im Palast, im Dienst seines Sohnes, Herodes Antipas. Indem ich meine Kameraden überwachte und denunzierte, habe ich die Gunst des Königs gewonnen. Von Stufe zu Stufe bin ich emporgestiegen, bis zu den höchsten Stellen. Ich wurde Oberhofmeister im Palast von Jerusalem. Die Fortsetzung der Geschichte kennst du: Aus dem Mund derjenigen, die mich soeben beleidigt haben, hast du die Geschichte meines Sturzes gehört. Nun weißt du alles, mein Kind.« 

Der freigelassene Sklave

Nach diesem Geständnis gingen der Sklave und sein junger Herr lange Zeit weiter, ohne etwas zu sagen. Sie waren am Tyropeonplatz angekommen und schon an der Werkstatt des Schmiedes Tubalcain vorübergegangen, als das Kind sich anders besann. Es blieb stehen, zwang Thaddäus, umzukehren und ließ ihn in die Werkstatt des Schmiedes eintreten. 

»Ich habe nichts, um dich zu bezahlen«, sagte der Knabe mit großer Bestimmtheit zu Tubalcain, »aber ich will, dass du mir und meinem Sklaven einen Dienst erweist: Zerschneide die Ketten, mit denen seine Hände und seine Füße gefesselt sind.«

Fortsetzung: "Der freigelassene Sklave - Teil 2"

Ihr Kommentar

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Kommentare (2)

Christiane von Hinrichs /

Tolle Idee mit den Geschichten. Ich liebe Geschichten vor allem in der Vorweihnachtszeit - auch so ein Akt des Innehaltens und Stillwerdens. Freue mich schon auf die nächste Geschichte.

joel /

danke, für die gute Idee mit den Adventsgeschichten. Wir sind schon gespannt auf morgen.

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